Gute drei Jahre vor meiner Geburt begann sie: die lange Leidensgeschichte des westlichsten Landes Kontinentaleuropas beim Eurovision Song Contest, die erst 48 Teilnahmen und 53 Jahre später mit dem Sieg von Salvador Sobral ihr temporäres Ende finden sollte. Bis dahin erwies sich der von zahlreichen Roten Laternen und kümmerlichen Punktegaben gesäumte Weg als qualvoll und steinig. Schaut man sich das 1964 eigens zu diesem Zwecke, als nationale Vorentscheidung, aus der Taufe gehobene und bis zum heutigen Tag zu diesem Behufe verwendete Festival da Canção in voller Länge an, ahnt man, warum. Sechs Sänger:innen traten gegeneinander an bei der Première dieser im hohen Maße festlichen Veranstaltung, und ein:e jede:r von ihnen interpretierte jeweils zwei Canção (wohlgemerkt: ausschließlich Balladen, Uptemporäres war in diesem Land und zu dieser Zeit offenbar bei Zuchthaus verboten), die in ihrer staatstragenden Langweiligkeit und Fadheit rückblickend den bis dato in diesen Kategorien ungeschlagen führenden Grand Prix von 1961 als hemmungslos wilden Rock’n’Roll-Event erscheinen ließen.
Triggerwarnung: der Genuss aller 12 FdC-Beiträge am Stück (Playlist) kann Depressionen und langeweilebedingte Suizidabsichten hervorrufen.
Die gesamte Szenerie scheint wie aus den feuchten Träumen des damaligen deutschen Eurovisionsverantwortlichen Hans-Otto Grünefeldt oder ihm geistig nahe stehender Freunde der “gehobenen” Unterhaltung entsprungen: tadellos gekleidete Menschen stellen sich artig vor ein opulentes Orchester, ohne zu tanzen oder sich anderweitig zu verrenken, und singen mit durch die Bank herausragender Stimmkraft geschmackvolle, unanstößige, dezente Balladen, die garantiert keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken und von denen keine einzige jemals in die Gefahr geraten könnte, zu so etwas verwerflichem wie einem (man erschaudert schon bei dem Gedanken!) Gassenhauer zu degenerieren. Kaum ist der letzte Ton verklungen, drehen sie sich stande pede um und gehen zügig ab. Da konnte man sogar über den Umstand hinwegsehen, dass etliche der insgesamt zwölf Beiträge nicht nur gefühlt die Drei-Minuten-Grenze deutlich überschritten. Mit den beiden FdC-Legenden Simone de Oliveira und Madalena Iglésias fanden sich zwei spätere Grand-Prix-Repräsentantinnen im Aufgebot, die sich heuer jedoch mit den Rängen begnügen mussten. Dabei schnitt die Erstgenannte mit dem schlichtweg kein Ende findenden ‘Olhos nós Olhos’ und dem Bronzeplatz noch am besten ab.
Die Verschmutzung des Atlantik mit erbgutverändernden Chemikalien und die schädlichen Auswirkungen auf die dortige Fischfauna war das Thema von Simone de Oliveiras viereinhalbminütigem (!) Beitrag ‘Augen in Augen’. Glaube ich.
Frau Iglésias (nicht verwandt mit dem spanischen Schnulzensänger) hingegen erregte möglicherweise das Missfallen der 18 (!) regionalen Jurys (bis heute gehört das stundenlange Abfragen der Einzelergebnisse aus irgendwelchen von fünf Menschen bewohnten Dörfern im unwegsamen Hinterland der beliebten Urlaubsdestination zur unverzichtbaren Folklore des Festival da Canção und sorgt verlässlich dafür, dass die Sendung nicht vor dem Morgengrauen zu Ende geht), weil sie sich als einzige der Teilnehmer:innen keinerlei Zurückhaltung in Sachen Mimik und Gestik auferlegte. Vielmehr trug sie beispielsweise ihre ‘Ballade der fehlenden Worte’ in einem Zustand völliger seelischer Erschütterung vor, die sie durch ein beständiges Zucken und Beben ihres grazilen Körpers, hochdramatische Handbewegungen sowie ein verzweifeltes Hauchen und Schluchzen für die Zuschauer:innen erlebbar visualisierte. Doch das alles verblasste gegen die unaussprechlichen Dinge, die sich auf ihrem recht quadratischen Antlitz abspielten: für die adäquate Beschreibung ihrer Grimassen fehlen mir in der Tat die Worte, und mit dem Fletschen ihrer Lippen und dem Vorzeigen ihrer tadellos gepflegten, kräftigen Zahnreihen signalisierte sie den Juroren klar, dass sie nämliche Hauer gnadenlos in ihre Flanken zu schlagen gedenke, falls diese sie nicht mir Punkten bedenken sollten. Was diese übrigens nicht taten: die ‘Ballada das Palavras Perdidas’ landete abgeschlagen auf Rang 5. Was vielleicht auch an Madalenas gesanglichem eiaculatio praecox beim Schlusston des Liedes gelegen haben könnte.
Gibt alles: Madalena Iglésias.
Auch der klare Sieger dieses Abends, der in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Mosambik geborene António Calvário (da Paz) ließ die Zuschauer:innen während seines ‘Gebetes’ (‘Oração’) an seinen inneren Gefühlsstürmen teilhaben, tat dies jedoch wesentlich dezenter und kontrollierter als seine Konkurrentin. Die geballte Gottlosigkeit Europas musste Calvário dann in Kopenhagen auf besonders schmerzliche Weise erfahren: als erster Teilnehmer Portugals kehrte er nicht nur mit der Roten Laterne zurück, sondern auch mit leeren Händen: ganze Nul Points hatten die internationalen Juroren dort für ihn übrig. Die tiefstmögliche Demütigung gleich bei der Première: ein bitteres Schicksal, welches das Land an der Algarve lediglich mit dem erst 30 Jahre später hinzugestoßenen Litauen teilt. Die Ergebnisse wurden in den folgenden Jahren im Übrigen nicht viel besser, was die so stolzen wie stoischen Portugiesen allerdings nicht veranlasste, ihr musikalisches Konzept zu überdenken. Mochten die meisten Menschen außerhalb ihrer Landesgrenzen die lusitanischen Beiträge auch überwiegend als störrisch, spröde und lethargisch empfinden, so begriff das von Urlaubern weltweit für seine landschaftliche Schönheit gerühmte Land den Eurovision Song Contest weniger als Wettbewerb, sondern eher als kulturelles Schaufenster. Und ließ uns Jahr für Jahr an seiner mehltauhaften Melancholie teilhaben, was in seiner Konsequenz schon wieder Bewunderung verdient. Zudem hatten die Menschen im ärmsten Staat Kerneuropas, der sich zum Zeitpunkt der portugiesischen Eurovisions-Erstteilnahme noch unter der Knute einer rechtsgerichteten Diktatur befand, womöglich auch einfach nicht so besonders viel Anlass zum Fröhlichsein…
Man muss António Calvário immerhin zugute halten, dass er mit seinem ‘Oração’ unter der Drei-Minuten-Grenze blieb. Danke dafür!
Vorentscheid PT 1964
Festival da Canção. Sonntag, 2. Februar 1964, aus den Estúdios do Lumiar in Lissabon. Sechs Teilnehmer:innen. Moderation: Henrique Mendes + Maria Helena Gouveia.# | Interpret:in | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | António Calvário | Oração | 79 | 01 |
02 | Artur Garcia | Foi Sonho | 00 | 10 |
03 | Madalena Iglésias | Na tua Carta | 00 | 10 |
04 | Simone de Oliveira | Olhos nós Olhos | 53 | 03 |
05 | Gina Maria | Tirano gentil | 06 | 07 |
06 | Artur Garcia | Finalmente | 02 | 08 |
07 | Guilherme Kjölner | Manhã | 31 | 04 |
08 | Simone de Oliveira | Amar é ressurgir | 02 | 08 |
09 | Gina Maria | Minha Luz brilhou | 00 | 10 |
10 | António Calvário | Para cantar Portugal | 11 | 06 |
11 | Guilherme Kjölner | Lindo Par | 56 | 02 |
12 | Madalena Iglésias | Balada das Palavras perdidas | 30 | 05 |
Letzte Aktualisierung: 06.10.2020