Tumult und Chaos bestimmten diesen Jahrgang, trotz des eigentlich fröhlichen Austragungsortes im direkt am Hauptbahnhof gelegenen Tivoli, dem innerstädtischen Mini-Vergnügungspark der putzigen dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Dazu trug einerseits das ausgeprägte politische Bewusstsein der heimischen Bevölkerung bei: gegen die Teilnahme der damaligen Diktaturen Spanien und Portugal am europäischen Wettsingen hagelte es im Vorfeld Proteste und Drohungen. Das letztgenannte, direkt bei der Première die ersten Nil Points einsammelnde und bis Mitte der 2010er Jahre insgesamt überdurchschnittlich erfolglose Eurovisionsland, das erst 53 Jahre später seinen ersten Sieg einzufahren vermochte, debütierte in Dänemark. Dass sich die Gesamtstarterzahl gegenüber 1963 dennoch nicht erhöhte, lag daran, dass Schweden heuer aussetzte. Zeigte man sich im skandinavischen Nachbarland noch verstimmt über den Nullzähler für den deprimierenden musikalischen Stadtspaziergang ‘En gång i Stockholm’ im Vorjahr? Aber nein: ein Künstler:innenstreik verursachte das unfreiwillige Fehlen.
Unglückliche Première: auch die hingebungsvolle Gottesanflehung durch den Interpreten konnte die Null-Punkte-Klatsche nicht verhindern (PT).
Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen konnten die Veranstalter übrigens nicht verhindern, dass in der Live-Sendung zwischen zwei Liedern tatsächlich ein Mann die Bühne stürmte, um “Nieder mit Franco und Salazar!” (den beiden iberischen Diktatoren) zu skandieren. Dummerweise irrte sich der Protestler jedoch in der Startreihenfolge und es traf den unschuldigen belgischen Beitrag. Ob dieser, dem weltfremden EBU-Mantra von der “unpolitischen” Unterhaltungsshow zuwiderlaufende Zwischenfall den Ausschlag dafür gab, dass die ausführende Anstalt Dansk Radio (DR) das Masterband der Sendung offiziell “verlegt” hat, so dass bis heute keine verfügbare Bildaufzeichnung existiert? Falls nicht, sollte vielleicht ein randvoll mit Øl (Bier) und Aquavit abgefüllter Archivmitarbeiter des dänischen Senders im Vollrausch den Mitschnitt gelöscht oder mit eigenen Heimvideos überspielt haben? Denkbar, aber unwahrscheinlich: nach eigener Beobachtung in Kopenhagen verfügen Dänen über eiserne Lebern und sind auch mit drei Promille noch zurechnungsfähig. So oder so: diese archivarische Lücke schmerzt und sollte eigentlich Grund genug für den lebenslangen Ausschluss des ansonsten sympathischen Landes vom Wettbewerb sein. Auch wenn sich das musikalische Feld 1964 mit wenigen Ausnahmen eher durch gleichförmige Drögheit definierte.
Gut, wer dermaßen deprimierende Lieder singt, muss damit rechnen, mit einem Portugiesen verwechselt zu werden: der Belgier Robert Cogoi.
An der noch nicht einmal die kreative Regelumgehung der Spanier etwas änderte. Die schmuggelten mit dem Geschwister-Trio Tim, Nelly und Tony Croatto (Los TNT) die erste Band in den zu dieser Zeit offiziell nur für Solosänger und Duos offenen Gesangswettbewerb, indem sie die Brüder Tim und Tony (†2005) als (erlaubten) Begleitchor der angeblichen Soloistin Nelly deklarierten. Die weitgereisten Croattos stammten ursprünglich aus Norditalien, emigrierten 1946 nach Uruguay und gründeten dort ihr Rock’n’Roll-Trio. 1959 zogen sie nach Argentinien weiter, landeten von dort aus Hits in ganz Südamerika und gingen 1962 nach Spanien, wo der Sender TVE sie 1964 für den Song Contest auswählte. Ihr ‘Caracola’ indes erwies sich, wie so viele andere Titel dieses Jahrgangs, zwar als durchaus anhörbar und irgendwie nett, keinesfalls jedoch als echter Bringer. Das galt beispielsweise auch für die halb melancholische, halb schwungvolle Ballade ‘Jij bent min Leven’ von Anneke Grönloh, die später den niederländischen Eurovisionskommentatoren und Komiker Paul de Leuuw auf Schmerzensgeld verklagte, weil der sie in seiner Sendung als “Schlampe” und “Schnapsdrossel” tituliert hatte. Einen Cringe-Moment kreierte de Leeuw auch beim ESC 2006, als er in seiner Funktion als holländische Punktefee in der Live-Sendung den Moderatoren und zweifachen griechischen Grand-Prix-Vertreter Sakis Rouvas um dessen Handynummer angrub.
Sag, wo die Soldaten sind / über Gräbern weht der Wind: Rachel (FR) erinnert sich an ihre tragische Jugendliebe.
Wie sämtliche Grand-Prix-Jahrgänge der ersten beiden Dekaden kam natürlich auch dieser nicht ohne einen ganzen Rudel frankophiler Balladen aus, die sich bei den Jurys durchweg ziemlich gut schlugen. Das Mutterland delegierte die vom französischen Fernsehen intern ausgewählte Sängerin Rachel Ros, deren vom siegreichen Komponisten des Grand Prix von 1960, André Popp (‘Tom Pillibi’), verfasster ‘Chant du Mallory’ ihr einziger Hit bleiben sollte. Das elegische Chanson rekurrierte, wie die Lyric-Seite diggiloo anmerkt, auf die historische Figur des britisch-französischen Soldaten Michael Mallory, der seine Frau sitzen ließ, um in Irland zu kämpfen (fragen Sie mich bitte nicht nach Details!), und erzählte die Geschichte eines jungen, bis dato unschuldigen Mädchens, das sich auf eben jener grünen Insel vom Buhlgesang des titelgebenden Recken zu einer Nacht der Leidenschaft hinreißen ließ. Beziehungsweise sogar mehreren Nächten: ein ganzes Jahr dauerte die Liason wohl. Doch nun war der Soldat wieder fort und Rachel erinnerte sich gebrochenen Herzens an sein Lied. Hach! Die Gallier versorgten natürlich auch ihre beiden kulturellen Satellitenstaaten mit Material: für das Fürstentum Monaco ersang der trotz insgesamt dreier Eurovisionseinsätze nicht weiter erwähnenswerte Franzose Romuald Figuier mit dem nicht weiter erwähnenswerten ‘Où sont-elles passées’ sein bestes Ergebnis.
Sie ritten um die Wette durch den Steppenwind: Hugues & die Aufrays galoppieren durch die luxemburgische Pampa.
Nerdiges Detail am Rande: 1973 vertrat der Sänger mit dem Schmachtfetzen ‘Laissez moi le Temps’ sein Heimatland bei einem internationalen Songfestival in Chile und belegte dort den zweiten Platz. Kennen Sie nicht? Kennen Sie doch: Paul Anka, einer der vielen prominenten internationalen Stargäste beim diesjährigen San-Remo-Festival, kaufte die Rechte am Lied, schrieb einen englischen Text dazu und gab den Song an Frank Sinatra, der mit ‘Let me try again’ daraus einen Welthit machte. Für das andere frankophile Fürstentum, nämlich Luxemburg, ging der ebenfalls intern bestimmte französische Liedermacher Hugues Aufray an den Start, der mit angemessen heiserer Stimme von den Höllenqualen berichtete, die er jedes Jahr zu durchleiden habe, ‘Sobald der Frühling zurückkehrt’. Nein, nicht wegen Heuschnupfens, was als Vermutung sicher naheläge, sondern auch hier aufgrund des Angedenkens an eine verflossene Liebe. Für seine eher herbe, handgeklampfte Herzeleidballade reichte es immerhin für den vierten Platz. Bitter: obschon die EBU eigens die Punktevergabe modifizierte, um weitere Blamagen zu verhindern, mussten schon wieder vier Länder ohne Abendessen ins Bett ohne Punkte nach Hause fahren.
Der längste Songtitel aller Zeiten beim Eurovision Song Contest bescherte Goldmarie Nora Nova (DE) zwar einen Rekord, aber leider auch nur eine Rote Laterne.
Neben dem poetischen portugiesischen Premierenstarter António Calvário traf es die schwermütige Schweizerin Anita Traversi, den im bosnischen Sarajewo zur Welt gekommenen, für das unter Tito vereinte Jugoslawien partizipierenden Sänger Sabahudin Kurt mit seinem besonders langweiligen Jammerstück vom ‘Kreis des Lebens’ (dem im Rahmenprogramm des serbischen Vorentscheids von 2023 immerhin die Contest-Legende Konstrakta in Form einer Coverversion ihre Reverenz erwies) sowie die Deutschland vertretende, gebürtige Bulgarin mit dem sehr schönen, vom Raumschiff Orion inspirierten Künstlernamen Nora Nova, deren tiefsinniger Titel ‘Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne’ angesichts des unfairen Ergebnisses wie Spott in den Ohren klingen musste. Doch es half nichts: die verfügbaren Punkte wurden nun mal allesamt für die Siegerin dieses Jahrgangs gebraucht. Gigliola Cinquetti gewann überlegen und berechtigt. Ihr Beitrag – eine der ganz großen, unsterblichen Eurovisionsballaden – erzielte knapp drei Mal so viele Zähler wie der Zweitplatzierte und vereinte mehr als ein Drittel aller abgegebenen Jury-Voten auf sich.
Von einem Fan in liebevoller Arbeit restauriert (danke, 47Dave!): Gigliolas Originalauftritt (IT).
Zarte sechzehn Lenze zählte die Italienerin bei ihrem Auftritt, wirkte dabei durch ihre elfenhaft scheue Ausstrahlung aber, als sei sie erst Zwölf. Ihrem Titel ‘Non ho l’éta (per amarti)’ (‘Noch nicht reif, Dich zu lieben’) verlieh sie somit eine sehr hohe Glaubwürdigkeit. Die geradezu katholisch anmutende Ode an die Keuschheit – oder handelte es sich, wie die fabelhafte deutsche Schauspielerin und Kabarettistin Maren Kroymann in einem Eurovisionsspecial vermutete, gar um einen Selbsterfahrungssong über Kindesmissbrauch? – wurde zum europaweiten Hit. Hierzulande erschien sogar eine von Gigliola selbst phonetisch eingesungene, unfassbar harmlos-dämliche deutsche Fassung: bei der tauschte sie (bzw. ein schwachsinniger Produzent) die originale Titelzeile idiotischerweise gegen eine andere aus, die ebenfalls italienisch klang, dafür aber bar jedes logischen Zusammenhangs daherkam: ‘Luna nel Blu’ nannte sich die wohl sinnloseste Eindeutschung aller Zeiten. Der Originalfassung blieb es denn auch vorbehalten, als erster “ausländischer” Eurovisionsbeitrag sowohl die deutschen Jahrescharts als auch die britischen (!) Top 20 zu knacken.
Nicht nur die Bosnier können Weltschmerz: Udo Jürgens (AT) geht in die Vollen und lässt uns in bittersüßer Melancholie ertrinken.
Für Österreich ging erstmals der vom ORF traditionell intern bestimmte Udo Jürgens an den Start. Mit dem hochdramatischen, unterschwellig ein wenig an den Antikriegsklassiker ‘Sag mir, wo die Blumen sind’ erinnernden Chanson ‘Warum nur, warum?’, der sich mit dem ganz großen philosophischen Thema der schmerzlichen Vergänglichkeit alles Irdischen befasste, erzielte er den sechsten Platz. Der legendäre, 2014 viel zu früh von uns gegangene geniale Liedermacher, der in seiner über sechzigjährigen Musikkarriere mehr als 100 Millionen Platten verkaufen konnte, kam noch zwei Mal in Folge wieder. Und sollte sein Erfolgsbilanz dabei jedes Mal ein Stückchen ausbauen. Matt Monro, der (natürlich!) Zweitplatzierte aus Großbritannien, dessen so flotten wie belanglosen Beitrag ‘I love the little Things’ noch nicht einmal seine augenscheinlich eher zu den Sizequeens zählenden Landsleute kaufen wollten, coverte stattdessen Udos Nummer und landete mit ‘Walk away’ einen Top-Ten-Hit (#4) auf der Insel, mit 1,5 Millionen verkaufter Singles. Die deutschsprachige Originalfassung belegte derweil in Frankreich Platz 1 der Charts. Bei uns reichte es in den Hitlisten schändlicherweise nur zu Rang 21 – aber Geschmack hatten die Deutschen ja noch nie.
Matt Monros Udo-Cover.
Zunehmend deutlich jedenfalls etablierte sich der Wettbewerb als Umsatzmotor der europäischen Plattenindustrie, welche die dort präsentierten Songs auch entsprechend aufmerksam über die Landesgrenzen hinweg vermarktete. Was sie heute, wo es doch sogar so viel einfacher wäre, übrigens kaum noch tut, sondern im Gegenteil durch komplett hirnverblödetes Geoblocking teils sogar aktiv verhindert. Und damit, wie mit so vielen anderen ihrer Handlungen, Umsatzmöglichkeiten mutwillig verschenkt. Weswegen ich über das beständige Gejammer über das böse Internet als Grabschaufler der Musikindustrie nur lachen kann: sind doch “illegale” Downloads von im Handel bzw. auf den legalen Streaming-Portalen nicht angebotenen Grand-Prix-Beiträgen nichts als schiere Notwehr!
Der komplette Contest von 1964 als Rekonstruktion mit der originalen Tonspur, Archivbildern und visuellem Ersatzmaterial.
Eurovision Song Contest 1964
Grand Prix Eurovision. Samstag, 21. März 1964, aus dem Konzertsaal des Tivoli-Freizeitparks in Kopenhagen, Dänemark. 16 Teilnehmerländer. Moderation: Lotte Wæver.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | LU | Hugues Aufray | Dés que le Printemps revient | 14 | 04 |
02 | NL | Anneke Grönloh | Jij bent min Leven | 02 | 10 |
03 | NO | Arne Bendiksen | Spiral | 06 | 08 |
04 | DK | Bjørn Tidmand | Sangen om dig | 04 | 09 |
05 | FI | Lasse Mårtenson | Laiskotellen | 09 | 07 |
06 | AT | Udo Jürgens | Warum nur, warum? | 11 | 06 |
07 | FR | Rachel Ros | Le Chant de Mallory | 14 | 05 |
08 | UK | Matt Monro | I love the little Things | 17 | 02 |
09 | DE | Nora Nova | Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne | 00 | 13 |
10 | MC | Romuald Figuier | Où sont-elles passées? | 15 | 03 |
11 | PT | António Calvário | Oração | 00 | 13 |
12 | IT | Gigliola Cinquetti | Non ho l’età (per Amarti) | 49 | 01 |
13 | YU | Sabahudin Kurt | Zivot je sklopio Krug | 00 | 13 |
14 | CH | Anna Traversi | I miei Pensieri | 00 | 13 |
15 | BE | Robert Cogoi | Prés de ma Rivière | 02 | 10 |
16 | ES | Los TNT | Caracola | 01 | 12 |
Letzte Aktualisierung: 20.03.2023
Ein starker Titel 1964 war für mich Robert Cogois “Pres de ma Revier”! für Belgien. Schade, dass Du ihn nicht erwähnt hast…
Nora Novas Auftritt als Diaschau in Farbe: https://www.youtube.com/watch?v=8TJWcJm_tl0
Der gesamte ESC: https://www.youtube.com/watch?v=v6JIgE4qeRY