San-Remo-Fes­ti­val 1966: Rebel Yell

Dass beim typi­schen Ita­lie­ner schnell die Emo­tio­nen hoch­ko­chen, ist ein nur all zu bekann­tes Kli­schee, wel­ches sich bei dem auch im Jah­re 1966 erneut als Grand-Prix-Vor­ent­schei­dungs­ver­fah­ren genutz­ten San-Remo-Fes­ti­val (SRF) mal wie­der auf das Schöns­te bestä­tig­te. Wie damals üblich, lie­ßen die Ver­an­stal­ter alle Wett­be­werbs­bei­trä­ge von zwei ver­schie­de­nen Künstler:innen inter­pre­tie­ren. Dabei hat­te die Rai in den bei­den Vor­jah­ren neben den hei­mi­schen Sänger:innen jeweils einen inter­na­tio­na­len Star als Zweit­be­set­zung der Lie­der zwin­gend vor­ge­schrie­ben, was für extrem glanz­vol­le Ver­an­stal­tun­gen mit hoch­ka­rä­ti­gen Namen sorg­te. Nach diver­sen Pro­tes­ten beließ man es jedoch sen­der­seits dies­mal bei einer ent­spre­chen­den unver­bind­li­chen Emp­feh­lung. Was zur Fol­ge hat­te, dass die Zahl der inter­na­tio­na­len Gäs­te zwar nicht kom­plett auf Null zurück­ging, aber doch deut­lich sank. So befand sich aus dem deutsch­spra­chi­gen Raum nun nie­mand mehr im Aufgebot.

Bon­gior­no, Tris­tes­sa: Adria­no mit sei­ner lied­ge­wor­de­nen Autobiografie.

Dafür been­de­te Adria­no Celen­ta­no sei­nen San-Remo-Boy­kott. Er schei­ter­te mit sei­nem stark auto­bio­gra­fi­schen Titel ‘Il Ragaz­zo del­la Via Gluck’ (‘Der Jun­ge aus der Gluck-Stra­ße’) zwar bereits im Semi­fi­na­le des SRF an den Juro­ren. Doch der von zahl­rei­chen inter­na­tio­na­len Künstler:innen in den ver­schie­dens­ten Spra­chen der Welt geco­ver­te, melan­cho­li­sche Song ent­wi­ckel­te sich im Anschluss zu einem sei­ner größ­ten Hits (#2 IT) und wur­de, zumin­dest in Ita­li­en selbst, zu Adria­nos musi­ka­li­schem Aus­hän­ge­schild. Celen­ta­no hat­te zudem noch ein zwei­tes Pferd im Ren­nen, näm­lich sei­ne ehe­ma­li­ge Begleit­band I Ribe­li (“Die Rebel­len”), die – ganz ähn­lich wie die bri­ti­schen The Shadows, ihres Zei­chens die Back­up-Band von Cliff Richard  – auch ohne den Meis­ter erfolg­reich auf­tra­ten und dabei vor allem Cover­ver­sio­nen von den Beat­les oder den Tre­me­loes zum Bes­ten gaben. Und die­se Rebel­len sorg­ten beim alt­ehr­wür­di­gen San-Remo-Fes­ti­val für mas­si­ve Auf­ruhr. Dies aller­dings weni­ger mit ihrem zwar recht pep­pi­gen, musi­ka­lisch jedoch völ­lig sub­stanz­lo­sen Beat­schla­ger ‘À la bue­na de Dios’, son­dern mit ihrem Auf­tritt, bei dem sie asym­me­trisch geschnit­te­ne Lang­haar­pe­rü­cken tru­gen, die sie sich im Lau­fe ihrer Per­for­mance von den Köp­fen ris­sen, um stil­si­che­re Pilz­fri­su­ren zu offen­ba­ren. Dazu schwan­gen sie rhyth­misch ihre Tam­bu­ri­ne und leg­ten einen ener­gisch zucken­den Veits­tanz hin, der heut­zu­ta­ge völ­lig harm­los wirkt, damals aber beim älte­ren Teil der Zuschau­er­schaft ver­mut­lich für spon­ta­ne Bekreu­zi­gun­gen und den einen oder ande­ren empö­rungs­be­ding­ten Ohn­machts­an­fall gesorgt haben dürfte.

Ach­tung, gleich zu Beginn wird’s unan­ge­nehm laut: die Rebellen.

Doch der eigent­li­che Skan­dal folg­te, nach­dem die letz­ten Töne ver­klun­gen waren. Denn die erbos­ten Orga­ni­sa­to­ren woll­te die Band stan­de pede von der Büh­ne fegen; die Rebel­len aber beab­sich­tig­ten, erst noch aus­gie­big im Applaus ihrer jugend­li­chen Fans zu baden und wei­ger­ten sich strikt, zu gehen. Die Poli­zei wur­de her­bei­ge­ru­fen, was zu wüten­den und laut­star­ken Pro­tes­ten im Saal führ­te, bei denen Celen­ta­no und sei­ne Entou­ra­ge das Wort führ­ten. Schließ­lich unter­brach die Rai sogar die Live-Über­tra­gung. Vier Per­so­nen, dar­un­ter der aus dem Celen­ta­no-Clan stam­men­de Kom­po­nist Miki del Pre­te, kas­sier­ten Anzei­gen wegen “Bedro­hung von Amts­per­so­nen”. I Ribe­li lan­de­ten zur Stra­fe im Jury­vo­ting auf dem 14. und letz­ten Platz und erhiel­ten nie wie­der eine Ein­la­dung zum SRF. Zu den Welt­stars, die Adria­nos bereits erwähn­ten Signa­tur-Schla­ger ‘Il Ragaz­zo del­la Via Gluck’ cover­ten, gehör­te auch die fran­zö­si­sche Beat-Legen­de und mone­gas­si­sche Euro­vi­si­ons­re­prä­sen­tan­tin von 1963, Fran­çoi­se Har­dy, die in einem Zeit­schrif­ten-Inter­view im Jah­re 2004 sag­te, das Lied habe in ihr trau­ri­ge Erin­ne­run­gen an ihre allein­er­zie­hen­de Mut­ter wach­ge­ru­fen. Fran­çoi­se mach­te mit dem Can­zo­ne direkt beim San-Remo-Fes­ti­val Bekannt­schaft, wo sie selbst als inter­na­tio­na­le Zweit­be­set­zung für die allen­falls mit­tel­dra­ma­ti­sche Bal­la­de ‘Par­la­mi di te’ antrat.

Da stand er noch am Anfang sei­ner Kar­rie­re: die ita­lie­ni­sche Musik­le­gen­de Lucio Dal­la mit ‘Pafff… bum’.

Der von sei­ner Erst­be­set­zung, dem Can­t­au­to­re Edo­ar­do Via­nel­lo, ver­fass­te und 1967 von der deut­schen Schla­ger­le­gen­de Alex­an­dra als ‘Sag mir, was du denkst’ tran­skri­bier­te Wal­zer, der als einer von ledig­lich fünf Bei­trä­gen die­ses Vor­ent­scheids im Anschluss in den ita­lie­ni­schen Plat­ten­lä­den im Regal lie­gen blieb, lan­de­te in der Jury-Abstim­mung fol­ge­rich­tig irgend­wo im Mit­tel­feld. Zumin­dest hat­te es die Har­dy damit ins Fina­le geschafft, im Gegen­satz zu der bri­ti­schen Rock­for­ma­ti­on The Yard­birds, die mit gleich zwei Titeln im Semi schei­ter­ten, dar­un­ter der lus­ti­gen Upt­em­po­num­mer ‘Paf Bum’. Jeff Beck, der dama­li­ge Lead­gi­tar­rist der Vor­läu­fer­ka­pel­le von Led Zep­pe­lin, soll den im Ori­gi­nal von Lucio Dal­la vor­ge­kräh­ten Song so gehasst haben, dass er sich wei­ger­te, zu spie­len. Auch mit ‘Ques­ta vol­ta’ war den Yard­birds kein Glück beschie­den, eben­so wenig natür­lich wie des­sen Co-Autoren und hei­mi­schen Inter­pre­ten, dem ita­lie­ni­schen Vor­jah­res­ver­tre­ter und Tee­nie­schwarm Bob­by Solo, der es nach sei­nen diver­sen Son­der­tou­ren dies­mal nur gegen den erbit­ter­ten Wider­stand der Rai über­haupt in den Wett­be­werb geschafft hat­te und nun bereits in der Vor­run­de ele­gant von der Jury ent­sorgt wur­de. Für eine hei­mi­sche Charts­plat­zie­rung (#11 IT) reich­te es selbst­re­dend dennoch.

Wem es bei die­sem Lied nicht schier das Herz zer­reißt, der hat kei­nes: die anbe­tungs­wür­di­ge Giglio­la Cinquetti.

Doch zurück ins Fina­le: dort gewann eine so hauch­zar­te wie tief ergrei­fen­de Bal­la­de, näm­lich das sowohl von sei­nem Kom­po­nis­ten Dome­ni­co Modug­no als auch von der ita­lie­ni­schen Reprä­sen­tan­tin von 1964 und 1974, Giglio­la Cin­quet­ti, dar­ge­bo­te­ne ‘Dio, come ti amo’. Für mei­ne Begrif­fe die schöns­te jemals gesun­ge­ne Lie­bes­er­klä­rung, die mir in ihrer unnach­ahm­li­chen Art und Wei­se, mir mit sanft schwel­gen­den Tönen und feins­ten gesang­li­chen wie lyri­schen Nuan­cen das über­wäl­ti­gen­de Gefühl der abgrund­tie­fen Ver­lo­ren­heit nahe zu brin­gen, das zur Lie­be eben­so dazu­ge­hört wie das Glück, bei jedem Anhö­ren neu­er­li­che Trä­nen der Rüh­rung in die Augen treibt. Modug­no, des­sen abso­lut super­be Stu­dio­fas­sung die­ses Titels mir noch kras­se­re Schau­er über den Rücken jagt als Giglio­las eben­falls atem­be­rau­ben­de Inter­pre­ta­ti­on, ließ es sich (lei­der) nicht neh­men, mit sei­nem Can­zo­ne selbst beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Luxem­burg anzu­tre­ten, wo er die sub­ti­le Schön­heit sei­nes Lie­des unter einer völ­lig unpas­sen­den, fast schon kar­ne­val­esken neu­en Orches­ter­fas­sung erstick­te und mit null Punk­ten wie­der abrei­sen muss­te. Welch’ eine Tragödie!

Zum Ver­gleich: mit der (wun­der­schö­nen) Stu­dio­fas­sung von Dome­ni­co beginnt die Play­list die­ses San-Remo-Festivals.

Bei­de Ver­sio­nen schaff­ten es übri­gens, sich in den Top Ten der ita­lie­ni­schen Ver­kaufs­hit­pa­ra­de zu plat­zie­ren, wobei Giglio­la – 1964 bei ihrem über­ra­gen­den San-Remo-Sieg von der nei­di­schen Diva Modug­no noch harsch kri­ti­siert, was ihre dies­jäh­ri­ge Zusam­men­ar­beit um so erstaun­li­cher mach­te – sich mit dem fünf­ten Rang begnü­gen muss­te, wäh­rend der Can­t­au­to­re die Spit­zen­po­si­ti­on erklomm. Den grö­ße­ren kom­mer­zi­el­len Hit konn­te aller­dings der beim Fes­ti­val zweit­plat­zier­te und von sei­nem Kom­po­nis­ten, dem nun also vor­be­straf­ten Miki del Pre­te, eigent­lich Adria­no Celen­ta­no zuge­dach­te Titel ‘Nes­su­no mi può giudi­ca­re’ (‘Nie­mand kann mich ver­ur­tei­len’) erzie­len, des­sen rebel­li­scher Text als Vor­bo­te noch kom­men­der gesell­schaft­li­cher Revo­lu­tio­nen galt. In der Fas­sung der New­co­me­rin Cate­ri­na Casel­li, der spä­te­ren Ent­de­cke­rin und heu­ti­gen Label­che­fin des Pope­ra-Gigan­ten Andrea Bocel­li, die mit die­sem Lied eine beacht­li­che Schla­ger­kar­rie­re begrün­de­te, hielt sich der Titel meh­re­re Wochen auf dem ers­ten Platz und ver­kauf­te sich über eine Mil­li­on mal. Auch die inter­na­tio­na­le Zweit­be­set­zung, der US-Ame­ri­ka­ner Gene Pit­ney, lan­de­te mit sei­ner deut­lich druck­vol­le­ren Inter­pre­ta­ti­on, die er beim San-Remo-Fes­ti­val der­ar­tig enthu­si­as­tisch wip­pend vor­trug, als habe er einen Spring­teu­fel ver­schluckt, einen Nummer-Eins-Hit.

Hüpf, klei­ner Spring­ins­feld: Gene ‘Flip’ Pit­ney gibt sich ganz dem ener­ge­ti­schen Fluss hin.

Sogar in gleich drei Ver­sio­nen konn­te sich die San-Remo-Schnul­ze ‘Una Casa in Cima al Mon­do’ (‘Ein Haus auf dem Dach der Welt’) in den ita­lie­ni­schen Charts plat­zie­ren: sowohl in den Wett­be­werbs­fas­sun­gen des älte­ren Haus­frau­en­be­cir­cers und mehr­fa­chen Grand-Prix-Ver­tre­ters Clau­dio Vil­la und des jün­ge­ren… Haus­frau­en­be­cir­cers Pino Don­ag­gio, die damit jeweils die Spit­zen­po­si­ti­on erklom­men, als auch in einer Cover­ver­si­on der fan­tas­ti­schen Mina (#8 IT). Kein kom­mer­zi­el­ler Erfolg war hin­ge­gen der nicht min­der fan­tas­ti­schen Mil­va ver­gönnt, deren dra­ma­ti­sches Can­zo­ne ‘Nes­su­no di voi’ dann auch eher durch die tech­ni­sche Fines­se ihrer Inter­pre­tin bestach als durch ech­tes Hit­po­ten­ti­al. Den­noch stell­te die auch hier­zu­lan­de erfolg­rei­che Ita­lie­ne­rin mit ihrer hin­ge­bungs­vol­len Dar­bie­tung ein­mal mehr unter Beweis, wel­che Natur­ge­walt in ihr schlum­mert. Vom zar­tes­ten Fle­hen über dra­ma­ti­sches Schluch­zen bis hin zum unge­hemm­ten Hin­aus­schrei­en: die all­um­fas­sen­de stimm­li­che Kla­via­tur, wel­che Mil­va zur Ver­fü­gung steht und wel­che sie prä­zi­se und nuan­ciert ein­zu­set­zen weiß, kenn­zeich­net sie als Aus­nah­me­ta­lent. “Eine kraft­vol­le Sän­ge­rin” zeig­te sich auch der im You­tube-Clip zu hören­de deut­sche Kom­men­ta­tor beein­druckt – was ganz neben­bei dar­auf hin­weist, dass das ita­lie­ni­sche Fes­ti­val auch im elf­ten TV-Jahr schein­bar noch immer über die Lan­des­gren­zen hin­weg aus­ge­strahlt wur­de. War­um eigent­lich heu­te nicht mehr, geschätz­te ARD? Wo ihr doch über so vie­le digi­ta­le Spar­ten­ka­nä­le ver­fügt, die es 24 Stun­den am Tag mit Pro­gramm zu bespie­len gilt?

Auch das Kleid und das Ohr­ge­schmei­de ver­die­nen eine loben­de Erwäh­nung: Milva.

Vor­ent­scheid IT 1966

Fes­ti­val del­la Can­zo­ne ita­lia­na di San­re­mo. Sams­tag, 29. Janu­ar 1965, aus dem Casinò Muni­ci­pa­le in San Remo. 25 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Mike Bon­gior­no, Pao­la Pen­ni und Car­la M. Puccini.
Inter­pre­tenInter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatzCharts
Dome­ni­co ModugnoGiglio Cin­quet­tiDio, come ti amo770101 | 05
Cate­ri­na CaselliGene Pit­neyNes­su­no mi può giudicare310201 | 01
Wil­ma GoichLes SurfsIn un fiore190304 | 04
Clau­dio VillaPino Don­ag­gioUna Casa in cima al Mondo160413 | 11
Anna Iden­ti­ciNew Chris­ty MinistrelsUna Rosa da Vienna1405– | –
Gior­gio GaberPat Boo­neMai, mai, mai, Valentina110608 | 04
Ori­et­ta BertiOrnella Vano­niIo ti darò di più1107– | 06
Edo­ar­do VianelloFran­çoi­se HardyPar­la­mi di te0908– | –
Ser­gio EndrigoChad & JeremyAdesso sì080910 | –
Pep­pi­no GagliardiPat Boo­neSe tu non fos­si qui0810– | 12
Mil­vaRichard Antho­nyNes­su­no di Voi0811– | –
Remo Ger­ma­niLes SurfsCosì come viene061209 | 10
Iva Zanic­chiVic DanaLa Not­te dell’addio0513– | –
I Ribel­liNew Chris­ty MinistrelsÀ la bue­na de Dios0114– | –

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1 Comment

  • Mei­ne Theo­rie, war­um Dome­ni­co Modug­no in Luxem­burg mit der extrem selt­sa­men Ver­si­on sei­nes Lie­des auf­tre­ten muss­te, ist folgende:

    Bei RAI hat man erst nach dem Sieg von “Dio, come ti amo” erkannt, wie wun­der­schön das Lied wirk­lich ist. Da man den Wett­be­werb bereits 1965 aus­ge­rich­tet hat­te, woll­te man nicht das Risi­ko ein­ge­hen, 1967 wie­der Gast­ge­ber spie­len zu müs­sen. Des­halb wur­de ange­ord­net, das Lied in der “Luxem­bur­ger” Ver­si­on vor­zu­tra­gen. Dazu wür­de auch pas­sen, dass in den nächs­ten Jah­ren nicht das Sie­ger­lied des San­re­mo-Fes­ti­vals zum Con­test geschickt wur­de, son­dern dem Sie­ger die­ses Fes­ti­vals ein neu­es Lied zuge­teilt wurde.

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