Zwei­te Deka­de 1966–1975: Die gol­de­nen Jahre

Con­gra­tu­la­ti­ons and Celebrations

Das bri­ti­sche Jahrzehnt

Als das Gol­de­ne Jahr­zehnt des Euro­vi­si­on Song Con­test kann man mit Fug und Recht sei­ne zwei­te Deka­de bezeich­nen. Denn so, wie es in der rea­len Welt Umbrü­che und Revo­lu­tio­nen gab und die libe­ral-pro­gres­si­ve Stu­den­ten­be­we­gung erfolg­reich den Muff von tau­send Jah­ren unter den Tala­ren ver­trieb, ließ sich der Fort­schritt auch beim Grand Prix nicht ewig auf­hal­ten: nach der Vor­ar­beit des genia­len Song-Por­no­gra­fen Ser­ge Gains­bourg mit dem sub­ver­siv dop­pel­deu­ti­gen ‘Pou­pée de Cire, Pou­pée de Son’ (LU 1965) färb­te sich mit der Ein­füh­rung des Farb­fern­se­hens die vor­nehm gedie­ge­ne, schwarz­wei­ße Chan­son­welt pop­pig-bunt. Und plötz­lich gewan­nen schmis­si­ge Upt­em­po-Num­mern wie ‘Pup­pet on a String’ (UK 1967), die sich fol­ge­rich­tig auch erst­mals grenz­über­schrei­tend so rich­tig dicke in den euro­päi­schen Ver­kaufs­hit­pa­ra­den tum­mel­ten. Trotz erbit­ter­ter Gegen­wehr der kon­ser­va­ti­ven Jurys und ganz gegen den Wil­len sei­ner Grün­der­vä­ter moder­ni­sier­te sich der Grand Prix zuse­hends und ent­wi­ckel­te sich von der staats­tra­gend ver­schnarch­ten Gala hin zum markt­re­le­van­ten Pop-Event. Zugleich häuf­ten sich aller­dings die Wer­tungs­skan­da­le, ange­fan­gen mit der von der Skan­di­ma­fia eis­kalt vor den Augen der Zuschauer:innen durch­ge­zo­ge­nen offe­nen Schie­bung beim Con­test von 1963 und auf die Spit­ze getrie­ben beim groß­ar­tig absur­den 1969er Jahr­gang, der mit gleich vier (!) Sie­ger­ti­teln aufwartete.

Der (angeb­lich) gekauf­te Sieg: der spa­ni­sche Dik­ta­tor Fran­co soll unter ande­rem die ARD mit dem Erwerb von (dann unge­sen­de­ten) Tat­ort-Fol­gen besto­chen haben, ihre Punk­te an ein La-la-la-Lied­chen zu ver­schwen­den (ES 1968). Bewie­sen ist das aber nicht.

Von die­sen unschö­nen, jedoch unver­meid­li­chen Begleit­erschei­nun­gen der schon von Natur aus beson­ders kor­rup­ti­ons­an­fäl­li­gen Jury­wer­tung mal abge­se­hen, lief aber alles rund: bei den Zuschauer:innen erfreu­te sich der Grand Prix stän­dig stei­gen­der Beliebt­heit, und zwar gene­ra­ti­ons­über­grei­fend in allen Alters­grup­pen. Auch die Musik­in­dus­trie froh­lock­te, warf der Song Con­test doch bestän­dig euro­pa­wei­te Mil­lio­nen­sel­ler ab. So konn­ten die bri­ti­schen Sie­ger von 1976, Brot­her­hood of Men, von ihren ‘Kis­ses for me’, dem kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­ten Euro­vi­si­ons­ti­tel aller Zei­ten, ins­ge­samt über 6.000.000 Sin­gles abset­zen: dazu bräuch­te man heu­te etwa zwan­zig Jahr­gän­ge DSDS! Was natür­lich auch damit zusam­men­hing, dass die musi­ka­li­sche Qua­li­tät der dar­ge­bo­te­nen Bei­trä­ge so gut war wie nie zuvor. Und auch nie wie­der hin­ter­her: wenn­gleich der Grand Prix nie­mals zur kul­tu­rel­len Avant­gar­de zähl­te, so befand er sich in die­ser Deka­de doch eini­ger­ma­ßen auf der Höhe der Zeit und ver­wöhn­te sein Publi­kum mit charts­taug­li­cher Pop­mu­sik. Augen­fäl­ligs­ter Beweis: 1974 leg­te ein bis dahin außer­halb Schwe­dens völ­lig unbe­kann­tes Quar­tett namens Abba mit sei­nem Sie­ger­ti­tel ‘Water­loo’ beim Euro­vi­si­on Song Con­test den Grund­stein zu einer Kar­rie­re als essen­ti­ells­te Pop­band der Welt nach den Beat­les. Und mar­kier­te gleich­zei­tig den Zenit der Veranstaltung.

Der Euro­vi­si­ons­hö­he­punkt (SE 1974).

Auch die deut­schen Bei­trä­ge aus die­ser Deka­de kann man, im Gegen­satz zu vie­len Fremd­schäm­schla­gern spä­te­rer Jah­re, noch heu­te mit vor Stolz geschwell­ter Brust vor­zei­gen. Etli­che von ihnen gehö­ren, auch auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne, zu den bes­ten Pop­mu­sik­pro­duk­tio­nen aller Zei­ten, wie bei­spiels­wei­se die bei­den musi­ka­lisch wie lyrisch exqui­si­ten Con­test­per­len von Kat­ja Ebstein, ‘Wun­der gibt es immer wie­der’ (1970) und ‘Die­se Welt’ (1971), mit denen wir erst­mals einen Medail­len­rang im euro­päi­schen Sin­ge­wett­streit errei­chen konn­ten. Auch wenn sich die exzel­len­te Qua­li­tät der Lie­der nicht immer in guten Plat­zie­run­gen aus­zahl­te: so lan­de­te der in der Stu­dio­fas­sung mit wei­tem Abstand bes­te Song der gesam­ten Con­test­ge­schich­te, Joy Fle­mings ‘Ein Lied kann eine Brü­cke sein’, 1975 auf dem vor­letz­ten Platz. Was unter ande­rem mit der Unfä­hig­keit des schwe­di­schen TV-Orches­ters zusam­men­hing, dem trotz enga­gier­ten Fuß­auf­stamp­fens auch der deut­sche Kom­po­nist und Diri­gent Rai­ner Pietsch kei­nen Soul zu ent­lo­cken ver­moch­te. Wie gut, dass es heu­te fak­tisch abge­schafft ist und die Musik beim ESC seit 1999 aus­schließ­lich vom Halb­play­back kommt, denn die vor­wie­gend elek­tro­ni­schen Sounds moder­ner Songs (und modern meint hier: alles ab spä­tes­tens 1977) kann das mit klas­si­schen Instru­men­ten bestück­te Orches­ter halt beim bes­ten Wil­len nicht adäquat abbilden.

A con­fi­dent, rela­xed Per­for­mance: Mary mach­te uns stolz (DE 1972).

Wie her­aus­ra­gend es um das deut­sche Schla­ger­schaf­fen in jener Deka­de bestellt stand, illus­triert am über­zeu­gends­ten der 1972er Jahr­gang, der nicht nur mit der künst­le­risch hoch­wer­tigs­ten deut­schen Vor­ent­schei­dung aller Zei­ten glänz­te und mit Mary Roos‘Nur die Lie­be lässt uns leben’ eine gran­dio­se Hym­ne und eine anbe­tungs­wür­di­ge Per­for­mance her­vor­brach­te, son­dern sogar den luxem­bur­gi­schen Sie­ger­ti­tel bei­steu­er­te: so stammt Vicky Lean­dros fan­tas­ti­sche Tren­nungs­schmerz­bal­la­de ‘Aprés toi’, das wohl schöns­te Exem­plar der belieb­ten Grand-Prix-Gat­tung des “fran­ko­phi­len Gefühls­sturms” (Tho­mas Her­manns), in Tei­len aus der Feder des Ham­bur­ger Kom­po­nis­ten Klaus Mun­ro und wur­de unter dem Titel ‘Dann kamst Du’ auch zuerst der ARD ange­bo­ten. Aber nur in Ver­bin­dung mit einer Direkt­no­mi­nie­rung der Künst­le­rin, und da der damals feder­füh­ren­de Hes­si­sche Rund­funk bereits einen Vor­ent­scheid orga­ni­siert hat­te, ließ man sie zie­hen. So sieg­te sie statt­des­sen – gewis­ser­ma­ßen als musi­ka­li­sche Gast­ar­bei­te­rin – für das Her­zog­tum. Sol­che schwin­del­erre­gen­de qua­li­ta­ti­ve Höhen soll­te Deutsch­land beim Grand Prix nie wie­der erklimmen.

Le Cœur sans Joie: das galt sicher­lich nicht für die Euro­vi­si­ons­kö­ni­gin Vicky Lean­dros (LU 1972).

Stand: 20.06.2020

Zu den ein­zel­nen Jahr­gän­gen (und den dazu­ge­hö­ri­gen deut­schen Vorentscheidungen):

Margot Eskens, DE 1966
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1966
Logo Eurovision Song Contest 1966
Euro­vi­si­on Song Con­test 1966
Inge Brück, DE 1967
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1967
Logo Eurovision Song Contest 1967
Euro­vi­si­on Song Con­test 1967
Wencke Myhre, DE 1968
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1968
Logo Eurovision Song Contest 1968
Euro­vi­si­on Song Con­test 1968
Siw Malmkvist, DE 1969
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1969
Logo Eurovision Song Contest 1969
Euro­vi­si­on Song Con­test 1969
Katja Ebstein, DE 1970
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1970
Logo des Eurovision Song Contest 1970
Euro­vi­si­on Song Con­test 1970
Katja Ebstein, DE 1971
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1971
Logo des Eurovision Song Contest 1971
Euro­vi­si­on Song Con­test 1971
Mary Roos, DE 1972
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1972
Logo des Eurovision Song Contest 1972
Euro­vi­si­on Song Con­test 1972
Gitte, DE 1973
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1973
Logo des Eurovision Song Contest 1973
Euro­vi­si­on Song Con­test 1973
Cindy & Bert, DE 1974
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1974
Logo des Eurovision Song Contest 1974
Euro­vi­si­on Song Con­test 1974
Joy Fleming, DE 1975
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1975
Logo des Eurovision Song Contest 1975
Euro­vi­si­on Song Con­test 1975

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