Congratulations and Celebrations
Das britische Jahrzehnt
Als das Goldene Jahrzehnt des Eurovision Song Contest kann man mit Fug und Recht seine zweite Dekade bezeichnen. Denn so, wie es in der realen Welt Umbrüche und Revolutionen gab und die liberal-progressive Studentenbewegung erfolgreich den Muff von tausend Jahren unter den Talaren vertrieb, ließ sich der Fortschritt auch beim Grand Prix nicht ewig aufhalten: nach der Vorarbeit des genialen Song-Pornografen Serge Gainsbourg mit dem subversiv doppeldeutigen ‘Poupée de Cire, Poupée de Son’ (LU 1965) färbte sich mit der Einführung des Farbfernsehens die vornehm gediegene, schwarzweiße Chansonwelt poppig-bunt. Und plötzlich gewannen schmissige Uptempo-Nummern wie ‘Puppet on a String’ (UK 1967), die sich folgerichtig auch erstmals grenzüberschreitend so richtig dicke in den europäischen Verkaufshitparaden tummelten. Trotz erbitterter Gegenwehr der konservativen Jurys und ganz gegen den Willen seiner Gründerväter modernisierte sich der Grand Prix zusehends und entwickelte sich von der staatstragend verschnarchten Gala hin zum marktrelevanten Pop-Event. Zugleich häuften sich allerdings die Wertungsskandale, angefangen mit der von der Skandimafia eiskalt vor den Augen der Zuschauer:innen durchgezogenen offenen Schiebung beim Contest von 1963 und auf die Spitze getrieben beim großartig absurden 1969er Jahrgang, der mit gleich vier (!) Siegertiteln aufwartete.
Der (angeblich) gekaufte Sieg: der spanische Diktator Franco soll unter anderem die ARD mit dem Erwerb von (dann ungesendeten) Tatort-Folgen bestochen haben, ihre Punkte an ein La-la-la-Liedchen zu verschwenden (ES 1968). Bewiesen ist das aber nicht.
Von diesen unschönen, jedoch unvermeidlichen Begleiterscheinungen der schon von Natur aus besonders korruptionsanfälligen Jurywertung mal abgesehen, lief aber alles rund: bei den Zuschauer:innen erfreute sich der Grand Prix ständig steigender Beliebtheit, und zwar generationsübergreifend in allen Altersgruppen. Auch die Musikindustrie frohlockte, warf der Song Contest doch beständig europaweite Millionenseller ab. So konnten die britischen Sieger von 1976, Brotherhood of Men, von ihren ‘Kisses for me’, dem kommerziell erfolgreichsten Eurovisionstitel aller Zeiten, insgesamt über 6.000.000 Singles absetzen: dazu bräuchte man heute etwa zwanzig Jahrgänge DSDS! Was natürlich auch damit zusammenhing, dass die musikalische Qualität der dargebotenen Beiträge so gut war wie nie zuvor. Und auch nie wieder hinterher: wenngleich der Grand Prix niemals zur kulturellen Avantgarde zählte, so befand er sich in dieser Dekade doch einigermaßen auf der Höhe der Zeit und verwöhnte sein Publikum mit chartstauglicher Popmusik. Augenfälligster Beweis: 1974 legte ein bis dahin außerhalb Schwedens völlig unbekanntes Quartett namens Abba mit seinem Siegertitel ‘Waterloo’ beim Eurovision Song Contest den Grundstein zu einer Karriere als essentiellste Popband der Welt nach den Beatles. Und markierte gleichzeitig den Zenit der Veranstaltung.
Der Eurovisionshöhepunkt (SE 1974).
Auch die deutschen Beiträge aus dieser Dekade kann man, im Gegensatz zu vielen Fremdschämschlagern späterer Jahre, noch heute mit vor Stolz geschwellter Brust vorzeigen. Etliche von ihnen gehören, auch auf internationaler Ebene, zu den besten Popmusikproduktionen aller Zeiten, wie beispielsweise die beiden musikalisch wie lyrisch exquisiten Contestperlen von Katja Ebstein, ‘Wunder gibt es immer wieder’ (1970) und ‘Diese Welt’ (1971), mit denen wir erstmals einen Medaillenrang im europäischen Singewettstreit erreichen konnten. Auch wenn sich die exzellente Qualität der Lieder nicht immer in guten Platzierungen auszahlte: so landete der in der Studiofassung mit weitem Abstand beste Song der gesamten Contestgeschichte, Joy Flemings ‘Ein Lied kann eine Brücke sein’, 1975 auf dem vorletzten Platz. Was unter anderem mit der Unfähigkeit des schwedischen TV-Orchesters zusammenhing, dem trotz engagierten Fußaufstampfens auch der deutsche Komponist und Dirigent Rainer Pietsch keinen Soul zu entlocken vermochte. Wie gut, dass es heute faktisch abgeschafft ist und die Musik beim ESC seit 1999 ausschließlich vom Halbplayback kommt, denn die vorwiegend elektronischen Sounds moderner Songs (und modern meint hier: alles ab spätestens 1977) kann das mit klassischen Instrumenten bestückte Orchester halt beim besten Willen nicht adäquat abbilden.
A confident, relaxed Performance: Mary machte uns stolz (DE 1972).
Wie herausragend es um das deutsche Schlagerschaffen in jener Dekade bestellt stand, illustriert am überzeugendsten der 1972er Jahrgang, der nicht nur mit der künstlerisch hochwertigsten deutschen Vorentscheidung aller Zeiten glänzte und mit Mary Roos’ ‘Nur die Liebe lässt uns leben’ eine grandiose Hymne und eine anbetungswürdige Performance hervorbrachte, sondern sogar den luxemburgischen Siegertitel beisteuerte: so stammt Vicky Leandros’ fantastische Trennungsschmerzballade ‘Aprés toi’, das wohl schönste Exemplar der beliebten Grand-Prix-Gattung des “frankophilen Gefühlssturms” (Thomas Hermanns), in Teilen aus der Feder des Hamburger Komponisten Klaus Munro und wurde unter dem Titel ‘Dann kamst Du’ auch zuerst der ARD angeboten. Aber nur in Verbindung mit einer Direktnominierung der Künstlerin, und da der damals federführende Hessische Rundfunk bereits einen Vorentscheid organisiert hatte, ließ man sie ziehen. So siegte sie stattdessen – gewissermaßen als musikalische Gastarbeiterin – für das Herzogtum. Solche schwindelerregende qualitative Höhen sollte Deutschland beim Grand Prix nie wieder erklimmen.
Le Cœur sans Joie: das galt sicherlich nicht für die Eurovisionskönigin Vicky Leandros (LU 1972).
Stand: 20.06.2020
Zu den einzelnen Jahrgängen (und den dazugehörigen deutschen Vorentscheidungen):