Melo­di Grand Prix 1966: We’­re not gon­na take it

Ihrer Zeit 54 Jah­re vor­aus: Ase Kle­ve­land lie­fer­te beim MGP 1966 den Sound­track zur Gro­ßen Erschöp­fung von 2020.

Sie hat­te ein ganz klein wenig was von einem femi­nis­ti­schen Folk-Fes­ti­val, die nor­we­gi­sche Euro­vi­si­ons-Vor­ent­schei­dung Melo­di Grand Prix (MGP) im Jah­re 1966. Was nicht nur dar­an lag, dass aus­schließ­lich Frau­en san­gen. Nein, auch der eine oder ande­re der ins­ge­samt fünf dort vor­ge­stell­ten Titel ver­ström­te einen lei­sen, leich­ten Hauch von Auf­leh­nung und Rebel­li­on, sei es durch sei­ne Instru­men­tie­rung, sei­nen Text oder sei­ne Inter­pre­ta­ti­on. Inter­es­san­ter­wei­se stamm­ten die­se Lie­der alle­samt aus der schöp­fe­ri­schen Hand eines ein­zel­nen Man­nes, näm­lich des nor­we­gi­schen Kom­po­nis­ten und Euro­vi­si­ons-Ver­tre­ters von 1964, Arne Ben­dik­sen. Was auch vor dem wei­te­ren Hin­ter­grund bemer­kens­wert erscheint, dass eine sen­der­ei­ge­ne Jury die­se fünf – in jeweils zwei unter­schied­lich instru­men­tier­ten Fas­sun­gen von zwei unter­schied­li­chen Sän­ge­rin­nen dar­ge­bo­te­nen – MGP-Titel aus ins­ge­samt 325 Ein­sen­dun­gen aus­ge­wählt hat­te und dabei gleich alle drei Vor­schlä­ge Ben­dik­sens beachtete.

Shake dat Ass: Frau Thall­aug über­zeug­te eher tän­ze­risch als gesang­lich. Oh, und natür­lich durch die schmie­de­ei­ser­nen Locken.

Ledig­lich der Eröff­nungs­song und mit 96 Sekun­den Lied­dau­er noch nicht ein­mal kür­zes­te Bei­trag des Abends, der von der quiet­schig kiek­sen­den Wen­cke Myh­re in einem bezau­bern­den Geschenk­schlei­fen­kleid unter­nom­me­ne, musi­ka­lisch flot­te ‘Lør­d­ag­stripp’ (‘Sams­tags­aus­flug’), sowie die hoff­nungs­los alt­mo­disch-ver­staub­te Bal­la­de ‘Ung og forels­ket’ (‘Jung und ver­liebt’), die der Sen­der fol­ge­rich­tig Ani­ta Thall­aug zudach­te, zähl­ten nicht dazu. Thall­aug inter­pre­tier­te in der ers­ten Lied-Run­de, die mit dem klei­nen Orches­ter, auch den in der anschlie­ßen­den Jury­wer­tung letzt­plat­zier­ten Song, das beat­be­tont-fröh­li­che ‘Vims’, mit dem sich die Sän­ge­rin aller­dings stimm­lich gering­fü­gig über­for­dert zeig­te. Kir­s­ti Spar­boe über­rasch­te durch eine unge­wöhn­li­che Song­wahl, ent­schied sich die in ihrer Kar­rie­re haupt­säch­lich dem Schla­ger zuge­wand­te Sän­ge­rin doch für das kraft­voll-düs­te­re Kampf­lied ‘Gi meg fri’ (‘Gib mich frei’). In dem war die Rede von “Zen­sur”, von einer “Mau­er” und von “Gemet­zel”, aber auch von alt­be­währ­tem Schlach­ten­ge­sang, mit dem die Prot­ago­nis­tin sich Mut machen kön­ne, sich aus all die­sem Elend zu befrei­en. Åse Kle­ve­land sang es in der Zweit­be­set­zung und inter­pre­tier­te es dabei als inti­me, mit aus­ge­spro­chen her­ber Stim­me dar­ge­bo­te­ne, hand­ge­klampf­te Lager­feu­er­bal­la­de. Lei­der kon­ter­ka­rier­te sie die sub­til les­bi­schen Unter­tö­ne die­ser Auf­füh­rung mit einer völ­lig unpas­sen­den, rie­si­gen wei­ßen Schlei­fe im Haar, was die Streit­axt-Anmu­tung irgend­wie zerstörte.

Eine Fri­sur wie ein Wind­beu­tel, aber eine Kamp­fes­lust wie eine Har­py­je: Kir­s­ti “Upp­sa­l­a­la­la” Sparboe.

Kir­s­ti ging den umge­kehr­ten Weg und setz­te den außer­ge­wöhn­li­chen Text in ein ver­gleichs­wei­se kon­ven­tio­nel­les Musik­bett, was sei­ne sys­tem­kri­ti­sche Wucht para­do­xer­wei­se noch ver­stärk­te. Im Gegen­satz zu der eher intro­ver­tier­ten Inter­pre­ta­ti­on Åses schmet­ter­te die Spar­boe die kämp­fe­ri­schen Wor­te mit ange­pisst-angriffs­lus­ti­ger Mie­ne her­aus. Dass sie das in einem fest­li­chen Out­fit mit pail­let­ten­be­setz­tem lan­gem Abend­kleid, Ohr­rin­gen und üppi­ger Außen­dau­er­wel­le tat, setz­te einen wei­te­ren visu­el­len Wider­ha­ken und schien zu trans­por­tie­ren, dass der Pro­test gegen die bestehen­de patri­ar­cha­li­sche Ord­nung bereits in der Mit­te der bür­ger­li­chen Gesell­schaft ange­kom­men war. Auch die zehn regio­na­len Jurys, semi­pa­ri­tä­tisch besetzt mit jeweils zwei Zuschauer:innen und drei “Profi”-Juroren, lie­ßen sich hier­von über­zeu­gen und wähl­ten den Song auf den zwei­ten Platz. Gleich in der Auf­tei­lung, aber umge­kehrt in der Wir­kung ver­hielt es sich beim Sie­ger­ti­tel die­ses Vor­ent­scheids, dem zutiefst defä­tis­ti­schen ‘Intet er nytt under solen’ (‘Nichts Neu­es unter der Son­ne’). Gry­net Mol­vig ent­bot die inter­es­sant instru­men­tier­te, expres­sio­nis­ti­sche Erst­fas­sung des unver­gess­li­chen Grand-Prix-Klein­odes und inter­pre­tier­te es als fast schon aggres­si­ve Anklage.

Ver­glei­chen und bewer­ten Sie selbst: hier die gran­dio­se, extro­ver­tier­te Fas­sung von Gry­net Molvig…

Ihr spritz­te dabei die Auf­säs­sig­keit bei­na­he aus den Augen her­vor, ohne dass dar­un­ter die exqui­si­te tech­ni­sche Prä­zi­si­on ihres Gesangs litt. Das war wirk­lich her­aus­ra­gend! Trotz­dem über­zeug­te Åse noch einen Ticken mehr, die auch die­ses in ihrer Ver­si­on weni­ger als ein­ein­halb Minu­ten kur­ze Stück als intro­ver­tier­te, mini­ma­lis­ti­sche Gitar­ren­bal­la­de dar­bot, wel­che bereits wie­der ende­te, kaum dass die dezen­te Orches­ter­un­ter­stüt­zung ein­setz­te. Im Gegen­satz zu Gry­net rich­te­te Åse ihren Blick ent­rückt in die Fer­ne, und obwohl sie deut­lich kräf­ti­ger sang als noch bei ‘Gi meg fri’, war deut­lich, dass es sich bei die­ser Dar­bie­tung um einen inti­men inne­ren Dia­log han­del­te und sich nicht an das Stu­dio­pu­bli­kum rich­te­te, des­sen Anwe­sen­heit sie eher hin­nahm, anstatt es in ihren Vor­trag ein­zu­bin­den. Nichts­des­to­we­ni­ger erup­tier­te besag­tes Publi­kum anschlie­ßend in (jeden­falls für skan­di­na­vi­sche Ver­hält­nis­se) fre­ne­ti­schen Applaus. Selbst der den Vor­ent­scheid in einer Dop­pel­rol­le mode­rie­ren­de Diri­gent Øivind Bergh wirk­te erkenn­bar beein­druckt und muss­te sich bei­na­he schon zwin­gen, im Anschluss noch den letz­ten Auf­tritt des Abends anzu­sa­gen, der nun ohne­hin über­flüs­sig erschien. Die Jurys schlos­sen sich an und gaben dem unrett­bar melan­cho­li­schen Stück dop­pelt so vie­le Punk­te wie dem zweit­plat­zier­ten Kampf­lied. Dass der Sen­der anschlie­ßend tat­säch­lich Frau Kle­ve­land nach Luxem­burg schick­te, wo sie mit dem drit­ten Platz das (bis 1985) bes­te Ergeb­nis für das bis dato nicht gera­de erfolgs­ver­wöhn­te Euro­vi­si­ons­land hol­te, soll­te eigent­lich selbst­er­klä­rend ein.

…und hier Åses noch fan­tas­ti­sche­re, intro­ver­tier­te Ver­si­on. Hut ab, Herr Ben­dik­sen! Und da capo, die Damen!

Tat­säch­lich jedoch gab den Aus­schlag, dass die in Stock­holm gebo­re­ne Toch­ter einer schwe­di­schen Mut­ter und eines nor­we­gi­schen Vaters als Pio­nie­rin der skan­di­na­vi­schen Musik­rich­tung des Vis­pop (Folk-Pop) mit nur 17 Jah­ren nicht nur bereits zwei erfolg­rei­che Alben auf dem nor­we­gi­schen Markt, son­dern auch Enga­ge­ments in Paris vor­wei­sen konn­te. NRK spe­ku­lier­te daher dar­auf, dass Åse den einen oder ande­ren Punkt aus den fran­zö­sisch­spra­chi­gen Län­dern ein­heim­sen könn­te, was sich aller­dings als Trug­schluss her­aus­stell­te. Nicht min­der beein­dru­ckend als Åses frü­hes musi­ka­li­sches Œuvre stellt sich auch ihre fol­gen­de Kar­rie­re dar: neben meh­re­ren Alben und ins­ge­samt 13 Sin­gles für den skan­di­na­vi­schen und deut­schen Markt ver­öf­fent­lich­te sie auch vier Songs in Japan. Sie spricht nor­we­gisch, schwe­disch, dänisch, eng­lisch, fran­zö­sisch und japa­nisch. Dane­ben stu­dier­te sie Rechts­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät von Oslo und fun­gier­te als Prä­si­den­tin der nor­we­gi­schen Musi­ker­lob­by, Lei­te­rin des Regie­rungs­ra­tes für Gleich­be­rech­ti­gung, Vor­sit­zen­de des huma­nis­ti­schen Ethik­bun­des, Prä­si­den­tin des schwe­di­schen Film­in­sti­tu­tes sowie als Kul­tus­mi­nis­te­rin ihres Hei­mat­lan­des. Und, viel wich­ti­ger noch: 1986 mode­rier­te sie den Euro­vi­si­on Song Con­test aus Ber­gen und trat in die­ser Funk­ti­on in die Fuß­stap­fen ihrer dies­jäh­ri­gen schwe­di­schen Kon­kur­ren­tin Lill Lind­fors.

https://youtu.be/XOGJE3dUI44

Und hier der kom­plet­te MGP 1966 am Stück. Am Takt­stock: Wil­ly Brandt.

Vor­ent­scheid NO 1966

Melo­di Grand Prix. Sams­tag, 5. Febru­ar 1966, aus dem Cen­tral­teatret in Oslo. Fünf Teil­neh­me­rin­nen. Mode­ra­ti­on: Øivind Bergh.
#Inter­pre­tinInter­pre­tinSong­ti­telJuryPlatz
01Wen­cke MyhreKir­s­ti SparboeLør­d­ag­stripp064
02Ani­ta ThallaugGry­net MolvigUng og forelsket073
03Kir­s­ti SparboeÅse Kle­ve­landGi meg fri112
04Gry­net MolvigÅse Kle­ve­landIntet er nytt under Solen221
05Ani­ta ThallaugWen­cke MyhreVims045

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2 Comments

  • Wirst du auch noch etwas zum Melo­di Grand Prix 1969 oder ande­ren älte­ren Nor­we­gi­schen Vor­ent­schei­dun­gen schreiben?

  • @Sandro: geplant ist es, der­zeit fehlt mir aber die Ener­gie dazu. Ich kann noch nicht sagen, wann es mit der Rei­he weitergeht.

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