Gleich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich war das sich gewissermaßen im Höhenflug befindliche (und unsanft landen sollende) San-Remo-Festival (SRF) im Jahre 1967. Das galt zum einen für den schieren Umfang des Wettbewerbs: 30 Lieder gingen in den beiden Vorrunden ins Rennen, jedes von zwei verschiedenen Interpret:innen dargeboten, was (aufgrund einiger weniger Dopplungen) die Gesamtteilnehmerzahl auf nie wieder erreichte 55 Acts hochtrieb. Um die schiere Masse überhaupt noch bewältigen zu können, lagerte man die Auftritte der immer zahlreicher werdenden Bands vom Festsaal des städtischen Casinos in einen dortigen Nebenraum aus. Der Anteil der internationalen Stargäste lag zwar etwas niedriger als sonst, dafür konnte die Rai jedoch mit echten Hochkarätern aufwarten: neben der stilistisch zwischen den Everly Brothers und den Beatles liegenden britischen Band The Hollies, die zu diesem Zeitpunkt auch in Deutschland bereits fünf Top-Ten-Hits vorweisen konnte, und der legendären Marianne Faithful (‘As Tears go by’) zählte das weltweit erfolgreiche US-amerikanische Duo Sonny & Cher (ja, Sie haben richtig gelesen!) zu denjenigen, die sich als Zweitbesetzung verdingten.
Selbst in der hier mitgefilmten, quasi auf einem Arm heruntergerissenen Generalprobe lässt sich die absolute Fabelhaftigkeit der Vanoni nicht negieren. Ich könnte der Frau auch stundenlang beim Vorlesen des Telefonbuchs zuschauen und wäre komplett hingerissen.
Die als Kind offensichtlich in einen Jungbrunnen gefallene und bis heute vollkommen alterslose Gay-Ikone Cher übernahm zudem solo einen weiteren Titel – auf italienisch! Nicht nur aus heutiger Sicht vollkommen unfassbarerweise blieben die Weltstars jedoch im Semi kleben. Lediglich zwei eher unbekannte Kapellen von den britischen Inseln sowie die San-Remo-Dauergäste Les Surfs und Gene Pitney zogen ins Finale weiter. Letzterer wurde als Zweitbesetzung des hervorragend in die Zeit der beginnenden Studentenunruhen passenden Kampfliedes ‘La Rivoluzione’ unfreiwillig in ein tragisches, den ligurischen Liederwettstreit in diesem Jahr vollständig überschattendes Ereignis verwickelt: der 29jährige Cantautore Luigi Tenco, ein im Lande bereits fest etablierter Künstler, dessen selbst verfasstes, das Sujet der Massenauswanderung seiner Landsleute behandelnde ‘Ciao Amore ciao’ (musikalisch trotz der süffigen Leadzeile nicht verwandt mit dem jugoslawischen Eurovisionsschlager von 1984) den Sprung in den Samstagabend knapp verpasste, nahm sich daraufhin in San Remo das Leben. Er hinterließ einen anklagenden Abschiedsbrief, in dem er seiner Enttäuschung Luft machte: “Ich habe das italienische Publikum geliebt und ihm sinnloserweise fünf Jahre meines Lebens geopfert. Ich tue dies nicht, weil ich des Lebens überdrüssig bin, sondern als Akt des Protests gegen ein Publikum, welches ‘Io tu e le Rose’ ins Finale wählt und wegen einer Jury, welche ‘La Rivoluzione’ kürt”, so der Sänger. Zur Erklärung: die professionelle Jury durfte per Gnadenakt einen der eigentlich bereits ausgeschiedenen Beiträge retten, und sie entschied sich dabei nicht für seines, sondern für das Revolutionslied.
Der französische Superstar Dalida, mit der Tenco zeitweilig ein Verhältnis hatte, sang die Zweitversion des von der Tragik der Umstände überschatteten Songs.
Nun empfinde ich es als besonders misslich, ausgerechnet die beiden einzigen inhaltlich tatsächlich relevanten Songs dieses Jahrgangs auf diese Weise gegeneinander auszuspielen. Verstehen kann man die Verbitterung jedoch im Hinblick auf die offensichtlich vor allem von der Publikumsjury bevorzugte Seichtschnulze ‘Io tu e le Rose’ der vielfachen San-Remo-Starterin Orietta Berti, einer nun wirklich komplett verzichtbaren Wegwerfballade. Tencos Text, der in so schlichten wie poetischen Worten die stille Wehmut der italienischen Dorfjugend beschreibt, die angesichts der massiven Überbevölkerung im Lande über viele, viele Jahrzehnte gezwungen war, in der Ferne Geld zu verdienen, bekam vor dem Hintergrund seiner Tat allerdings noch mal eine besonders düstere Färbung, lautete eine der Zeilen doch “Zu wissen, ob man morgen lebt oder stirbt”. Uff! Der schockierende Vorfall verhalf seiner Heimat jedoch nicht, wie von Tenco erhofft, zur “Klarheit”. Stattdessen führte er zum Streit: konservative Politiker denunzierten den toten Sänger in öffentlichen Stellungnahmen in der ihnen eigenen Empathielosigkeit als psychisch verwirrten Schwächling, die Linke überhöhte ihn zum Märtyrer und zum Opfer der gnadenlosen Musikindustrie, die es – wie den verhassten popkulturellen Mainstream – nun erst recht um jeden Preis zu bekämpfen gelte. Inklusive natürlich des verderbten Musikwettbewerbs.
Wissen, wie man verliert: der schwule Mainstream-Künstler Lucio Dalla weiß, ein Lied davon zu singen. Und er tut es auch.
Der präsentierte sich ausgerechnet in diesem Jahr musikalisch nun wirklich nicht in seiner besten Form und bestand – bis auf die beiden erwähnten Ausnahmen – durchgängig aus (immerhin schmerzfrei anhörbaren) Nichtigkeiten. Gerade so, als wolle man die Pop-Hasser:innen auch noch in ihrer Meinung bestätigen. Als Anspieltipp für die untenstehenden Playlist empfiehlt sich vielleicht das zwar auch nicht weltbewegende, aber immerhin hübsch eingängige, zweitplatzierte ‘Quando dico che ti amo’, besonders in der extra possierlichen Fassung der Surfs. Eine Erwähnung verdient natürlich die wie immer fantastische Ornella Vanoni, die ihre eher unspektakuläre Festivalballade ‘La musica è finita’ alleine schon durch ihre Erscheinung und ihre exzellente Intonation zum Ereignis machte. Hört man genau hin, möchte man meinen, hier die Inspiration für den italienischen Monsterhit des Jahres 1975, ‘Torneró’ von I Santo California entdecken zu können, bei uns noch etwas bekannter in der (noch stärkeren) deutschen Fassung von Michael Holm (‘Wart auf mich’ [‘Du, wenn ich dich verlier’]). Der eindringlich hektische Basslauf von Little Tonys ‘Cuore Matto’, dem kommerziell erfolgreichsten Stück dieses Festivals, fand sich wiederum im Jahre 1973 in dem rundheraus großartigen Abschiedsschlager ‘Und dein Zug, der geht in fünf Minuten’ von Katja Ebstein wieder, welcher unfasslicherweise als B‑Seite ihrer Hitsingle von ‘Indiojungen aus Peru’ verschwendet wurde.
Die Playlist: alle Finaltitel, plus ein paar Goodies aus dem Semi.
Den umgekehrten Weg der musikalischen Inspiration ging der Siegersong dieses San-Remo-Jahrgangs, ‘Non pensare a me’ von Iva Zanicchi. Die ranzige Breitwand-Schmachtballade nahm sehr deutliche Anleihen bei Frank Sinatras ‘Strangers in the Night’, weswegen die Rai wohl davor zurückschreckte, ihn – wie sonst üblich – zum Eurovision Song Contest zu delegieren. Da man aber jemanden nach Wien entsenden musste – schließlich war die Abmeldefrist schon lange verstrichen – nahmen die Verantwortlichen den sich im Herbst seiner Schnulzensängerkarriere befindlichen Zweitinterpreten Claudio Villa und gaben ihm einen neu geschriebenen Titel mit auf den Weg in die österreichische Hauptstadt. ‘Non andare più lontano’, ein nicht minder altmodischer Schmachtfetzen, fügte sich nahtlos in das übliche Repertoire des Rentner:innenschwarms und muss als Rückfall in die finstere erste Periode des Wettbewerbs gelten, in welcher man den Grand Prix vor allem als probates Schlafmittel schaute. Trotz eines erwartbar mauen Mittelfeldplatzes für Villa behielt die Rai dieses absurde Verfahren in den beiden folgenden Jahren bei: auch da schickte man jeweils einen der beiden San-Remo-Sieger:innen zum ESC, aber mit einem anderen Lied. Was wohl impliziert, dass die Italiener:innen ihre Canzoni als entweder deutlich zu schlecht oder aber als viel zu gut für die europäischen Ohren betrachteten. Ab 1970, wo Adriano Celentano erstmalig den ligurischen Liederwettstreit gewann, entkoppelte sich das San-Remo-Festival dann vollends vom Eurovision Song Contest.
Es ist der italienische Beitrag für den Grand Prix, also fangen wir mal gleich mit dem Wort “Amore” an.
Vorentscheid IT 1967
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 28. Januar 1967, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 25 Teilnehmer:innen. Moderation: Mike Bongiorno und Renata Mauro.Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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Claudio Villa | Iva Zanicchi | Non pensare a me | 45 | 01 | 07 | 15 |
Annarita Spinaci | Les Surfs | Quando dice che ti amo | 43 | 02 | 09 | – |
I Giganti | The Bachelors | Proposta | 28 | 03 | 01 | – |
Ornella Vanoni | Mario Guarnera | La Musica è finita | 24 | 04 | 15 | – |
Orietta Berti | Les Compagnons de la Chanson | Io, tu e le Rose | 15 | 05 | 03 | – |
Lucio Dalla | The Rokes | Bisogna saper perdere | 14 | 06 | – | 04 |
Sergio Endrigo | Memo Remigi | Dove credi di andare | 12 | 07 | – | – |
Gian Pieretti | Antoine | Pietre | 11 | 08 | – | 02 |
Johnny Dorelli | Don Becky | L’Immensità | 09 | 09 | 02 | 05 |
Little Tony | Mario Zelinotti | Cuore matto | 08 | 10 | 01 | – |
Pino Donaggio | Carmen Villani | Io per Amore | 05 | 11 | – | – |
Wilma Goich | The Bachelors | Per vedere quant’è grande il Mondo | 05 | 11 | – | – |
Gianni Pettenati | Gene Pitney | La Rivoluzione | 03 | 13 | 14 | 08 |
Giorgio Gaber | Remo Germani | E allora dai | 03 | 14 | 15 | – |
Letzte Aktualisierung: 11.06.2021