A Song for Euro­pe 1967: Bar­fuß im Regen

Ich dach­te, Bal­la­den lägen wie­der im Trend. Ich lag falsch, so ein­fach ist das”. Simp­le Wor­te der Ein­sicht aus dem Mun­de eines Dele­ga­ti­ons­lei­ters: für deut­sche Euro­vi­si­ons­fans voll­kom­men unvor­stell­bar, für den sei­ner­zei­ti­gen Unter­hal­tungs­chef der BBC, Tom Slo­ane, kein Pro­blem. Und er ließ sei­nen Wor­ten Taten fol­gen: nach­dem der von ihm im Vor­jahr per­sön­lich als Grand-Prix-Reprä­sen­tant aus­ge­such­te schot­ti­sche Opern­te­nor Ken­neth McKel­lar der Insel ihr bis­lang schlech­tes­tes Ergeb­nis bescher­te, ver­pflich­te­te der Sen­der dies­mal einen fri­schen, jun­gen Pop­star auf dem Höhe­punkt ihrer Kar­rie­re: die bei einem Talent­wett­be­werb ent­deck­te San­die Shaw konn­te zum Zeit­punkt ihrer Ernen­nung als bri­ti­sche Euro­vi­si­ons­re­prä­sen­tan­tin bereits zwei hei­mi­sche Num­mer-Eins-Hits sowie Chart­erfol­ge in den USA und in Euro­pa vor­wei­sen. Für ihre Akkla­ma­ti­on spiel­te eine ent­schei­den­de Rol­le, dass sie vie­le ihrer Titel in den ver­schie­dens­ten Sprach­ver­sio­nen ein­spiel­te, so dass sie über einen Popu­la­ri­täts­bo­nus auch auf dem Fest­land verfügte.

Ent­hält merk­wür­di­ger­wei­se nur die ers­ten drei der ins­ge­samt fünf Vor­ent­schei­dungs­ti­tel: der ASFE-Mit­schnitt von San­dies Youtube-Channel.

Die als San­dra Ann Good­rich gebo­re­ne Sän­ge­rin soll Beden­ken geäu­ßert haben, ob eine Euro­vi­si­ons­teil­nah­me nicht ihre Pop-Kre­di­bi­li­tät gefähr­de, füg­te sich aber ihrem Manage­ment, das in der Show eine Chan­ce auf mehr Pro­mo­ti­on wit­ter­te. Fünf Songs stell­te man für die Publi­kums­ab­stim­mung zusam­men, und die nach einem Urlaubs­ge­füh­le evo­zie­ren­den Sand­strand Bekünst­lern­am­te prä­sen­tier­te in der wöchent­lich aus­ge­strahl­ten Rolf-Har­ris-Show jeweils einen davon. Im Fina­le von A Song for Euro­pe sang sie dann, auf einer schma­len Kulis­sen­stra­ße spa­zie­rend, alle fünf noch­mal hin­ter­ein­an­der weg. Und es waren ech­te Kra­cher dar­un­ter: das upt­em­po­rä­re ‘Tell the Boys’ bei­spiels­wei­se klang ein wenig vom Motown-Sound inspi­riert, dabei sehr ein­gän­gig und mit­rei­ßend, und erzähl­te inhalt­lich, wenn­gleich es vor­der­grün­dig ums The­ma Treue ging, eine recht eman­zi­pier­te­re Geschich­te: die sich nun­mehr in fes­ten Hän­den befin­den­de Prot­ago­nis­tin ver­ab­schie­de­te sich dar­in von ihren frü­he­ren Lieb­ha­bern (Plu­ral! Das in einer Zeit, wo das Patri­ar­chat in Form der Kir­che und der öffent­li­chen Moral noch immer pre­dig­te, eine Frau sol­le “rein” in die Ehe gehen!), mit denen sie bis­lang “sehr viel Spaß” gehabt habe. In San­dies viel­schich­ti­ger Inter­pre­ta­ti­on misch­te sich unter die ehr­li­che Freu­de, den einen Kerl fürs Leben gefun­den zu haben, zudem ein ganz sub­til wahr­nehm­ba­rer Weh­mut im Ange­den­ken an die nun für immer hin­ter ihr lie­gen­den, hedo­nis­ti­schen Zei­ten, in denen sie “her­um­ge­kom­men” war.

Sag’s den Jungs: wenn San­die nicht mehr möch­te, über­neh­me ich gerne!

Es ent­behrt inso­fern nicht einer gewis­sen Pikan­te­rie, dass die Sän­ge­rin im ech­ten Leben zum glei­chen Zeit­punkt Schlag­zei­len als “die ande­re Frau” mach­te. Die damals 17jährige San­die hat­te zu Beginn ihrer Kar­rie­re ein Tech­tel­mech­tel mit dem ver­hei­ra­te­ten Pro­du­zen­ten einer TV-Show ange­fan­gen, in der sie regel­mä­ßig auf­trat, und wur­de von der gehörn­ten Gemah­lin “im Nacht­hemd” in der ehe­li­chen Woh­nung erwischt, was nun im Rah­men des Schei­dungs­pro­zes­ses an die klatsch­süch­ti­ge Öffent­lich­keit kam. Das hät­te sie neben einem Wer­be­ver­trag für Lux-Sei­fe bei­na­he die Euro­vi­si­ons­teil­nah­me gekos­tet, da die prü­de BBC den Skan­dal fürch­te­te. In die gewis­ser­ma­ßen geg­ne­ri­sche Rol­le der betro­ge­nen und ver­letz­ten Ehe­frau ver­setz­te sich die ver­sa­ti­le Künst­le­rin beim Vor­ent­scheid in der eben­falls sen­sa­tio­nel­len Bal­la­de ‘Ask any Woman’, die mit dra­ma­tisch hart gestri­che­nen Gei­gen und einem noch dra­ma­ti­scher huhenden (unsicht­ba­ren) Damen­chor auf­war­te­te. Bei­de Titel über­zeug­ten durch einen authen­ti­schen Pop-Appeal und wären in kei­ner tages­ak­tu­el­len Musik­sen­dung fehl am Platz gewe­sen, womit sie in einem schar­fen Kon­trast zu den meis­ten Lie­dern stan­den, die zeit­gleich anders­wo für den Song Con­test aus­ge­wählt wur­den. Das zur Abstim­mung auf­ge­for­der­te bri­ti­sche Publi­kum hat­te jedoch eine ande­re Vor­stel­lung: mehr als die Hälf­te der ein­ge­sand­ten rund 80.000 Post­kar­ten ent­fie­len auf den bier­zel­ti­gen Humpt­ata-Schla­ger ‘Pup­pet on a String’, einen Titel, den die Inter­pre­tin als “fürch­ter­lich” bezeichnete.

Einen Appell an sich selbst sang San­die mit ‘Ask any Woman’.

Eine Ein­schät­zung, die der Kom­po­nist Bill Mar­tin natur­ge­mäß nicht teil­te. Ähn­lich wie Ralph Sie­gel 15 Jah­re spä­ter war sich der Schot­te bereits beim Schrei­ben sicher, einen Grand-Prix-Sie­ger­song geschaf­fen zu haben: “Er war so anders als alle ande­ren Song in den Charts in 1967,” erin­nert er sich in Gor­don Rox­burghs Buch Songs for Euro­pe, Vol. 1. “Ich hat­te fest­ge­stellt, dass die Men­schen im Alter mei­ner Eltern kei­nen Rock’n’Roll moch­ten, aber die Beat­les tole­rier­ten. Ich wuss­te, wir brauch­ten etwas ande­res. ‘Pup­pet on a String’ war anders, und ich wuss­te, wir wür­den gewin­nen. Ich wuss­te es ein­fach”. Auch die Kri­ti­ker lob­ten das Lied für sein “unbe­schwer­tes Karus­sell-Fee­ling” und sei­ne “spru­deln­de Fröh­lich­keit”, ver­ga­ßen dabei jedoch nicht den erheb­li­chen Bei­trag, den die pas­send zum Künst­le­rin­nen­na­me meist bar­fü­ßig auf­tre­ten­de Shaw zum Erfolg bei­steu­er­te: “sie strahlt rich­tig durch,” urteil­te bei­spiels­wei­se der Record Mir­ror. “Sie ist unver­wech­sel­bar und ver­dammt gut”. Dar­an, dass ‘Pup­pet on a String’ ein mehr als frag­wür­di­ges Frau­en­bild trans­por­tier­te, nahm bis auf die Sän­ge­rin – deren Ehr­geiz, sie­gen zu wol­len, es sie trotz­dem vor­tra­gen ließ – nie­mand Anstoß. Auch nicht das plat­ten­kau­fen­de Publi­kum: die Sin­gle ging allei­ne in der Ori­gi­nal­fas­sung euro­pa­weit mehr als eine Mil­li­on Mal über die Laden­ti­sche und bescher­te ihr sowohl auf der Insel als auch in Deutsch­land einen wei­te­ren Nummer-Eins-Hit.

1970 lud man San­die als Star­gast zum spa­ni­schen Grand-Prix-Vor­ent­scheid, wo sie wirk­lich alles gab, das Saal­pu­bli­kum zu animieren.

San­die nahm alle fünf Vor­ent­schei­dungs­bei­trä­ge auch auf fran­zö­sisch, spa­nisch, ita­lie­nisch und deutsch auf. Mit der pho­ne­tisch ein­ge­sun­ge­nen deut­schen Fas­sung ihres Sie­ger­lie­des mit dem unfass­ba­ren Titel ‘Wie­de­hopf im Mai’ erreich­te sie immer­hin noch Rang 34 der ger­ma­ni­schen Hit­pa­ra­de. Lus­ti­ger­wei­se sang sie die­se Ver­si­on in der Sil­ves­ter­show der BBC im Jah­re 1969, mit der ihr erfolg­reichs­tes Jahr­zehnt ver­ab­schie­det wur­de. Die Sieb­zi­ger ent­pupp­ten sich als weni­ger gute Zeit für sie: San­die, die nach dem Con­test eine eige­ne Mode­li­nie her­aus­ge­bracht hat­te, hei­ra­te­te einen Desi­gner, in des­sen Geschäft sie fast all ihre Erspar­nis­se steck­te. Nach­dem die­ses plei­te ging, war die ehe­ma­li­ge Plat­ten­mil­lio­nä­rin gezwun­gen, zeit­wei­lig als Kell­ne­rin zu job­ben, um die Fami­lie über die Run­den zu brin­gen. Mit ihrer Hin­wen­dung zum Bud­dhis­mus zog sie sich nach eige­ner Aus­sa­ge aus ihren schwer­wie­gen­den Depres­sio­nen her­aus. In den Neun­zi­gern stu­dier­te sie Psy­cho­the­ra­pie und eröff­ne­te ein Behand­lungs­zen­trum für Men­schen aus krea­ti­ven Beru­fen. Im Jah­re 2012, als der Euro­vi­si­on Song Con­test in Baku gas­tier­te, schloss sie sich einer Kam­pa­gne von Amnes­ty Inter­na­tio­nal gegen die Unter­drü­ckung der Pres­se­frei­heit in Aser­bai­dschan an. 2017 schließ­lich wur­de sie anläss­lich des fünf­zigs­ten Jah­res­tags ihres ESC-Siegs mit dem Ver­dienst­or­den des bri­ti­schen Impe­ri­ums ausgezeichnet.

Der Sil­ves­ter­auf­tritt umfass­te Gott sei Dank nur den Refrain.

Vor­ent­scheid UK 1967

A Song for Euro­pe. Sams­tag, 25. Febru­ar 1967, aus dem TV-Stu­dio der BBC in Lon­don. Eine Teil­neh­me­rin (Son­gent­scheid). Mode­ra­ti­on: Rolf Har­ris. Postkartenvoting.
#Inter­pre­tinSong­ti­telPost­kar­tenPlatz
01San­die ShawTell the Boysn.b.02
02San­die ShawI’ll cry mys­elf to Sleepn.b.n.b.
03San­die ShawHad a Dream last Nightn.b.n.b.
04San­die ShawPup­pet on a String> 40.00001
05San­die ShawAsk any Womann.b.n.b.

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 20.10.20

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