“Ich dachte, Balladen lägen wieder im Trend. Ich lag falsch, so einfach ist das”. Simple Worte der Einsicht aus dem Munde eines Delegationsleiters: für deutsche Eurovisionsfans vollkommen unvorstellbar, für den seinerzeitigen Unterhaltungschef der BBC, Tom Sloane, kein Problem. Und er ließ seinen Worten Taten folgen: nachdem der von ihm im Vorjahr persönlich als Grand-Prix-Repräsentant ausgesuchte schottische Operntenor Kenneth McKellar der Insel ihr bislang schlechtestes Ergebnis bescherte, verpflichtete der Sender diesmal einen frischen, jungen Popstar auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: die bei einem Talentwettbewerb entdeckte Sandie Shaw konnte zum Zeitpunkt ihrer Ernennung als britische Eurovisionsrepräsentantin bereits zwei heimische Nummer-Eins-Hits sowie Charterfolge in den USA und in Europa vorweisen. Für ihre Akklamation spielte eine entscheidende Rolle, dass sie viele ihrer Titel in den verschiedensten Sprachversionen einspielte, so dass sie über einen Popularitätsbonus auch auf dem Festland verfügte.
Enthält merkwürdigerweise nur die ersten drei der insgesamt fünf Vorentscheidungstitel: der ASFE-Mitschnitt von Sandies Youtube-Channel.
Die als Sandra Ann Goodrich geborene Sängerin soll Bedenken geäußert haben, ob eine Eurovisionsteilnahme nicht ihre Pop-Kredibilität gefährde, fügte sich aber ihrem Management, das in der Show eine Chance auf mehr Promotion witterte. Fünf Songs stellte man für die Publikumsabstimmung zusammen, und die nach einem Urlaubsgefühle evozierenden Sandstrand Bekünstlernamte präsentierte in der wöchentlich ausgestrahlten Rolf-Harris-Show jeweils einen davon. Im Finale von A Song for Europe sang sie dann, auf einer schmalen Kulissenstraße spazierend, alle fünf nochmal hintereinander weg. Und es waren echte Kracher darunter: das uptemporäre ‘Tell the Boys’ beispielsweise klang ein wenig vom Motown-Sound inspiriert, dabei sehr eingängig und mitreißend, und erzählte inhaltlich, wenngleich es vordergründig ums Thema Treue ging, eine recht emanzipiertere Geschichte: die sich nunmehr in festen Händen befindende Protagonistin verabschiedete sich darin von ihren früheren Liebhabern (Plural! Das in einer Zeit, wo das Patriarchat in Form der Kirche und der öffentlichen Moral noch immer predigte, eine Frau solle “rein” in die Ehe gehen!), mit denen sie bislang “sehr viel Spaß” gehabt habe. In Sandies vielschichtiger Interpretation mischte sich unter die ehrliche Freude, den einen Kerl fürs Leben gefunden zu haben, zudem ein ganz subtil wahrnehmbarer Wehmut im Angedenken an die nun für immer hinter ihr liegenden, hedonistischen Zeiten, in denen sie “herumgekommen” war.
Sag’s den Jungs: wenn Sandie nicht mehr möchte, übernehme ich gerne!
Es entbehrt insofern nicht einer gewissen Pikanterie, dass die Sängerin im echten Leben zum gleichen Zeitpunkt Schlagzeilen als “die andere Frau” machte. Die damals 17jährige Sandie hatte zu Beginn ihrer Karriere ein Techtelmechtel mit dem verheirateten Produzenten einer TV-Show angefangen, in der sie regelmäßig auftrat, und wurde von der gehörnten Gemahlin “im Nachthemd” in der ehelichen Wohnung erwischt, was nun im Rahmen des Scheidungsprozesses an die klatschsüchtige Öffentlichkeit kam. Das hätte sie neben einem Werbevertrag für Lux-Seife beinahe die Eurovisionsteilnahme gekostet, da die prüde BBC den Skandal fürchtete. In die gewissermaßen gegnerische Rolle der betrogenen und verletzten Ehefrau versetzte sich die versatile Künstlerin beim Vorentscheid in der ebenfalls sensationellen Ballade ‘Ask any Woman’, die mit dramatisch hart gestrichenen Geigen und einem noch dramatischer huhenden (unsichtbaren) Damenchor aufwartete. Beide Titel überzeugten durch einen authentischen Pop-Appeal und wären in keiner tagesaktuellen Musiksendung fehl am Platz gewesen, womit sie in einem scharfen Kontrast zu den meisten Liedern standen, die zeitgleich anderswo für den Song Contest ausgewählt wurden. Das zur Abstimmung aufgeforderte britische Publikum hatte jedoch eine andere Vorstellung: mehr als die Hälfte der eingesandten rund 80.000 Postkarten entfielen auf den bierzeltigen Humptata-Schlager ‘Puppet on a String’, einen Titel, den die Interpretin als “fürchterlich” bezeichnete.
Einen Appell an sich selbst sang Sandie mit ‘Ask any Woman’.
Eine Einschätzung, die der Komponist Bill Martin naturgemäß nicht teilte. Ähnlich wie Ralph Siegel 15 Jahre später war sich der Schotte bereits beim Schreiben sicher, einen Grand-Prix-Siegersong geschaffen zu haben: “Er war so anders als alle anderen Song in den Charts in 1967,” erinnert er sich in Gordon Roxburghs Buch Songs for Europe, Vol. 1. “Ich hatte festgestellt, dass die Menschen im Alter meiner Eltern keinen Rock’n’Roll mochten, aber die Beatles tolerierten. Ich wusste, wir brauchten etwas anderes. ‘Puppet on a String’ war anders, und ich wusste, wir würden gewinnen. Ich wusste es einfach”. Auch die Kritiker lobten das Lied für sein “unbeschwertes Karussell-Feeling” und seine “sprudelnde Fröhlichkeit”, vergaßen dabei jedoch nicht den erheblichen Beitrag, den die passend zum Künstlerinnenname meist barfüßig auftretende Shaw zum Erfolg beisteuerte: “sie strahlt richtig durch,” urteilte beispielsweise der Record Mirror. “Sie ist unverwechselbar und verdammt gut”. Daran, dass ‘Puppet on a String’ ein mehr als fragwürdiges Frauenbild transportierte, nahm bis auf die Sängerin – deren Ehrgeiz, siegen zu wollen, es sie trotzdem vortragen ließ – niemand Anstoß. Auch nicht das plattenkaufende Publikum: die Single ging alleine in der Originalfassung europaweit mehr als eine Million Mal über die Ladentische und bescherte ihr sowohl auf der Insel als auch in Deutschland einen weiteren Nummer-Eins-Hit.
1970 lud man Sandie als Stargast zum spanischen Grand-Prix-Vorentscheid, wo sie wirklich alles gab, das Saalpublikum zu animieren.
Sandie nahm alle fünf Vorentscheidungsbeiträge auch auf französisch, spanisch, italienisch und deutsch auf. Mit der phonetisch eingesungenen deutschen Fassung ihres Siegerliedes mit dem unfassbaren Titel ‘Wiedehopf im Mai’ erreichte sie immerhin noch Rang 34 der germanischen Hitparade. Lustigerweise sang sie diese Version in der Silvestershow der BBC im Jahre 1969, mit der ihr erfolgreichstes Jahrzehnt verabschiedet wurde. Die Siebziger entpuppten sich als weniger gute Zeit für sie: Sandie, die nach dem Contest eine eigene Modelinie herausgebracht hatte, heiratete einen Designer, in dessen Geschäft sie fast all ihre Ersparnisse steckte. Nachdem dieses pleite ging, war die ehemalige Plattenmillionärin gezwungen, zeitweilig als Kellnerin zu jobben, um die Familie über die Runden zu bringen. Mit ihrer Hinwendung zum Buddhismus zog sie sich nach eigener Aussage aus ihren schwerwiegenden Depressionen heraus. In den Neunzigern studierte sie Psychotherapie und eröffnete ein Behandlungszentrum für Menschen aus kreativen Berufen. Im Jahre 2012, als der Eurovision Song Contest in Baku gastierte, schloss sie sich einer Kampagne von Amnesty International gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit in Aserbaidschan an. 2017 schließlich wurde sie anlässlich des fünfzigsten Jahrestags ihres ESC-Siegs mit dem Verdienstorden des britischen Imperiums ausgezeichnet.
Der Silvesterauftritt umfasste Gott sei Dank nur den Refrain.
Vorentscheid UK 1967
A Song for Europe. Samstag, 25. Februar 1967, aus dem TV-Studio der BBC in London. Eine Teilnehmerin (Songentscheid). Moderation: Rolf Harris. Postkartenvoting.# | Interpretin | Songtitel | Postkarten | Platz |
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01 | Sandie Shaw | Tell the Boys | n.b. | 02 |
02 | Sandie Shaw | I’ll cry myself to Sleep | n.b. | n.b. |
03 | Sandie Shaw | Had a Dream last Night | n.b. | n.b. |
04 | Sandie Shaw | Puppet on a String | > 40.000 | 01 |
05 | Sandie Shaw | Ask any Woman | n.b. | n.b. |
Letzte Aktualisierung: 20.10.20
A Song for Europe 1968 >