Die gelernte Sekretärin, beliebte Popsängerin und noch beliebtere TV-Moderatorin Cilla Black (bürgerlich: Priscilla White) präsentierte den britischen Vorentscheid 1968 als Gastgeberin im Rahmen ihrer wöchentlichen BBC-Show Cilla. Dabei hatte der Sender ursprünglich ihr selbst angeboten, Großbritannien beim Eurovision Song Contest zu vertreten, der nach dem Sieg ihrer Landsfrau Sandie Shaw im Jahr zuvor diesmal in London gastierte. Black glaubte jedoch nicht, dass eine Frau für das Vereinte Königreich ein zweites Mal in Folge die Grand-Prix-Krone holen könnte und sagte ab. An ihrer Stelle verpflichtete der BBC-Unterhaltungschef Tom Sloane für die Gage von 2.000 £ einen weit über die Insel hinaus bekannten, männlichen Top-Star, der nun quasi auf den Tag genau schon seit zehn Jahren beständig Top-Hits einfuhr: den als Harry Rodger Webb in Indien geborenen Cliff Richard. Der hatte bis zum Zeitpunkt seiner Nominierung im Oktober 1967 bereits 42 Hitsingles (!) in den britischen Charts platzieren können. Auch in Deutschland war er – hauptsächlich mit von ihm auf deutsch phonetisch eingesungenen Coverversionen – erfolgreich und beliebt.
Er bleibe für immer ein ‘Bachelor-Boy’, bekannte Cliff bereits 1962. Seine Begleitband The Shadows sollte übrigens 1975 beim ESC antreten (Repertoirebeispiel).
Wie beliebt, bewiesen die hemmungslos kreischenden Teenagermädels, die sich in die Zuschauer:innenschaft von Cilla Blacks Show eingeschlichen hatten und ihrem als “Saubermann des Pop” und “ewigen Junggesellen” bekannten Idol frenetisch zujubelten. Ob sich an deren Begeisterung etwas geändert hätte, hätten sie um die stets geheim gehaltene sexuelle Orientierung des bekennenden Christen und ewigen Schrankschwulen gewusst? Knapp 200 Lieder wurden für ihn eingereicht, und sechs davon suchte eine Jury des Komponistenverbandes und der BBC für den Vorentscheid heraus. Cliff trug sie allesamt mit der gleichen Begeisterung und dem ihm so eigenen Tanzstil vor, und so verwundert es wenig, dass er am Ende der Titel meist ein wenig außer Puste war. Cilla Black verschaffte ihm mit der Ansage des jeweils nächsten Songs eine kleine Atempause, wobei sie nicht minder ekstatisch wirkte wie die schreienden Fans im Publikum und man glauben konnte, sie stünde ständig kurz vor einem Pflaumensturz. Dabei rechtfertigten die sechs mit jeweils zwei bis zweieinhalb Minuten Liedlänge zumindest segensreich kurzen Wettbewerbsbeiträge die Begeisterung nicht zwingend, sondern unterhielten allenfalls durch die aus den Songtiteln ableitbaren Assoziationen.
Eine sportliche Höchstleistung: gute 20 Minuten singt und hüpft Cliff Richard am Stück, ohne zusammenzubrechen (kompletter Vorentscheid).
‘Little Rag Doll’, ein Lied über eine geflohene Ex, die Cliff dem Songtext zufolge “noch einmal lieben” wollte, wirkte auch aufgrund des Vergleichs der Protagonistin mit einer “Flickenpuppe” ziemlich misogyn und creepy, während sich ‘The Sound of the Candyman’s Trumpet’ gleich in zweifacher Hinsicht als köstlich doppeldeutig erwies: zum einen natürlich aufgrund der sexuellen Konnotation, die der Interpret mit dem anzüglichen Befingern des als ebenso phallisch wie die titelgebende Trompete zu lesenden Mikrofons während seines Gesangsvortrags auch noch unbewusst verstärkte. Zur zweiten Auslegung berichtet der Produzent des Vorentscheids, Michael Hurll, in Gordon Roxburghs Fibel Songs for Europe, dass die BBC die Cilla-Show auch in die Länder des Commonwealth verkaufte und dabei “niemand daran dachte, die Aufforderung zur Einsendung von Stimmen für den Lieblingssong herauszueditieren”. Mit dem Ergebnis, dass (leider Wochen zu spät) auch von den karibischen Inseln Postkarten in London eintrafen und der ‘Candyman’ bei dieser Übersee-Abstimmung gewann: “Augenscheinlich war es dort ein Begriff für einen Drogendealer”. Ach was!
Lockt die Käufer:innen mit dem Klang seines Blasinstrumentes herbei: der Candyman (Neueinspielung, Audio only).
Innerhalb der fünftägigen Einsendefrist (die Abstimmungshoheit lag vorbildlich beim britischen Publikum) kamen aber auch ohne die Ex-Kolonien rund eine Viertelmillion Postkarten zusammen, und mehr als zwei Drittel von ihnen entfielen auf ‘Congratulations’ aus der Feder von Bill Martin und Phil Coulter. Die hatten bereits den letztjährigen Siegersong ‘Puppet on a String’ geschrieben, und so überrascht es nicht, dass der Song for Europe 1968 ebenso kirmeshaft klang wie der von 1967. Schon das direkt zum Auftakt eingesetzte, prägnante Klopfmotiv fesselte die Aufmerksamkeit, und auch der kurze Tempowechsel an der Stelle, wo üblicherweise die Rückung hingehört, trug zum Zirkusfeeling der Nummer bei, die im Erstentwurf noch den etwas zaghaften Titel ‘I think I love you’ trug. Zaghaft gestalteten sich die Erwartungen des Publikums nach der Akklamation des Siegertitels in der darauffolgenden Ausgabe der Cilla-Show hingegen nicht: auf die Frage von Tom Sloane, ob man damit erneut Chancen auf den Sieg habe, gab es aus dem Saalpublikum kreischende Zustimmung. Cliff bemerkte nur: “Ich hoffe, Sie behalten Recht”. Taten sie bekanntlich nicht, dennoch generierte er damit einen weiteren Nummer-Eins-Hit auf der Insel. Und auch im deutschsprachigen Raum verkaufte sich das Lied wie Schnittbrot (#3 DE, #2 AT und CH).
Als habe er direkt davor noch zwei Liter Apfelschorle geext: Cliff beim absolut denkwürdigen ESC-Auftritt.
Vorentscheid UK 1968
A Song for Europe. Dienstag, 5. März 1968, aus dem TV-Studio der BBC in London. Ein Teilnehmer (Songentscheid). Moderation: Cilla Black. Postkartenvoting.# | Interpret | Songtitel | Karten | Platz |
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01 | Cliff Richard | Wonderful World | 19.990 | 03 |
02 | Cliff Richard | Do you remember? | 4.200 | 06 |
03 | Cliff Richard | High ’n’ dry | 30.500 | 02 |
04 | Cliff Richard | The Sound of the Candyman’s Trumpet | 11.200 | 04 |
05 | Cliff Richard | Congratulations | 171.300 | 01 |
06 | Cliff Richard | Little rag Doll | 10.400 | 05 |
Letzte Aktualisierung: 28.02.2021
A Song for Europe 1969 >