Jurys sind Wichser™! Den im Vergleich zu den Nul-Point-Ergebnissen der Vorjahre zwar deutlich besseren, im Lichte der Konkurrenz dennoch etwas enttäuschenden (und ungerechten!) sechsten Platz im ersten Jahr der eurovisionären Farbausstrahlung verdankt der fabelhafte deutsche Beitrag von 1968 unter anderem den norwegischen Wertungsrichtern: die reagierten pikiert, weil die in Oslo gebürtige, in Deutschland jedoch keinen unerheblichen Anteil ihres Einkommens als Schlagersängerin generierende Wencke Myhre nicht fürs Heimatland sang, und straften sie fürs Fremdgehen mit null Punkten ab. Doch auch Deutschland sorgte beim Contest in London nicht nur mit dem progressiven ‘Ein Hoch der Liebe’ für Furore, sondern eben auch mit den angeblich von Korruption geprägten Wertungen unserer Juror:innen.
Alles so schön bunt hier: der ESC 1968 war der erste, der in Farbe aufgezeichnet wurde. Die Ausstrahlung erfolgte noch weitgehend in schwarzweiß. (Hinweis: aufgrund von Contentwichserei fehlt ‘Congratulations’. Danke für nichts, ihr dämlichen Arschgeigen!)
Die punkteten nämlich, getreu des Mottos, dass ein anspruchsvolles Lied gewinnen solle, mit sechs ihrer insgesamt zehn Stimmen die Spanierin Massiel und ihren tiefschürfenden Titel ‘La La La’ nach vorne und verhalfen ihr so zum unerwarteten Sieg. Bei Massiel (eigentlich: María de los Ángeles Santamaría Espinosa) handelte es sich um die Zweitbesetzung für das kraftvolle und eingängige, Lebensfreude transportierende Chanson über die Lust am Singen: der ursprünglich vorgesehene Interpret Joan Manuel Serrat, einer der bekanntesten iberischen Liedermacher und Sänger, wollte es nur in der Regionalsprache Kataloniens, von wo er stammte, vortragen. Da hatte Spaniens Diktator Franco, dem die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen als Bedrohung seiner Macht galten, aber was gegen: er tauschte Serrat gegen die willige Kollaborateurin Massiel aus. Fairerweise muss man zugeben: das Lied verfügt tatsächlich über vier Strophen Text, neben den gezählten 138 “La“s des Refrains (der Song transportiert eben extrem viel Lebensfreude!). Die Zuschauer:innen standen nach dem Überraschungssieg der Spanierin Kopf, denn eigentlich galt jemand ganz anderes als klarer Favorit.
Doch, vor allem der Refrain gewinnt eine ganz neue Bedeutung: ‘La la la’ in der von Serrat bevorzugten katalanischen Fassung
Nämlich der britische, weltweit bekannte und mit insgesamt mehr als 250 Millionen verkauften Alben kommerziell extrem erfolgreiche Superstar Cliff Richard. Sein heutiger Wunschsendungs-Evergreen ‘Congratulations’, eine flotte Popnummer mit prominentem Trommelmotiv, stand zum Zeitpunkt des Song Contests bereits seit Wochen hoch in allen europäischen Charts (so auf #3 in Deutschland, #2 in Österreich und der Schweiz und an der Spitze in den Niederlanden, Belgien, Norwegen und natürlich im Vereinigten Königreich). Frenetisch kreischend begrüßte ihn das heimische Publikum in der Royal Albert Hall, es schien reine Formsache zu sein, dass er nach seiner Vorgängerin Sandie Shaw mit dem vom gleichen Autorenteam geschriebenen Hit den Doppelsieg holen würde, für den kein Wettbüro etwas gezahlt hätte. Doch nun durchkreuzten die deutschen Juror:innen seine Pläne. Es lag vermutlich nicht an der sehr exaltierten Darbietung Richards, sondern an dem idiotischen Mantra vieler Juroren, Hits hätten beim Grand Prix nichts zu suchen.
Im linguistischen Nirwana: die äußerst selbstbewusste Massiel (ES).
Eine Anleitung zum Nachtanzen der legendären ‘Congratulations’-Performance findet sich auf der britischen, genial zynischen Eurovisionsfanseite Whoops, Dragovic! Hier die Übersetzung: “Die Tanzschritte zu Cliffs Euroklassiker können Sie überall problemlos nachstellen; ob Zuhause, in Ihrem Garten, der Kirche oder im Loft.
- Laufen Sie den Gartenpfad (bzw. den Kirchgang) hinunter, direkt auf die freudig jubelnden Massen zu.
- Am Ende des Pfades angekommen, tun Sie so, als würden Sie mit Ihren Füßen ein Feuer austreten.
- Beim Singen ducken Sie sich leicht verkrampft zusammen, so als ob Sie unter Durchfall litten. Lassen Sie gleichzeitig Ihre Arme wie Propeller kreisen.
- Während des Instrumentalparts Ihres Liedes weisen Sie die Zuschauer auf die (nicht vorhandenen) Notausgänge zu Ihrer Linken und Rechten hin.
- Beim großen Songfinale treten Sie nochmals die Flammen aus. Recken Sie dann die Arme dem willkommenen Applaus entgegen.
- Verstecken Sie sich auf der Toilette, bis Sie jemand holt.” (Cliff verbrachte nach eigener Aussage die komplette Zeitspanne der Jurystimmenauszählung auf dem Lokus, weil er die Anspannung nicht aushielt.)
Der Seilspringpantomime: Cliff Richard (UK).
Oder spielte Geld eine Rolle? Nach einer hochspekulativen, hauptsächlich auf Gerüchten und später wieder zurückgezogenen Aussagen basierenden Dokumentation der Privat-TV-Station La Sexta (dem Haussender von Rodolfo Chikilicuatre) aus dem Jahre 2008 sollen das Franco-Régime und der Staatssender TVE mehrere europäische Jurys, darunter die deutsche, mit dem kostspieligen Ankauf von dann ungesendet im Archiv verrottenden Fernsehserien bestochen haben: der Tatort Eurovision! Ziel: durch einen Sieg Spaniens und die Austragung des Grand Prix im Folgejahr wollte sich die an touristischen Einnahmen interessierte Diktatur als kulturell anschlussfähige europäische Nation präsentieren. Was auch gelang! Bewiesen sind diese Behauptungen indes bis heute nicht, auch wenn der offenbar arg gekränkte Cliff Richard, der schon 1968 Massiel mit einem “warmen Kehlendruck” gratulieren wollte, meinte, er sei “der glücklichste Mensch der Welt”, sollten sie sich bewahrheiten. So lange dient dem schlechten Verlierer der trotz des zweiten Platzes sehr viel größere kommerzielle Erfolg seines Beitrags mit knapp zwei Millionen verkaufter Einheiten sicher als kleines Trostpflaster.
Plädiert dafür, auf der Suche nach dem Lieblingsmenschen durch die ‘Tausend Fenster’ in der Nachbarschaft zu spannen: Karel Gott (AT).
Aber nicht nur Sir Richard lieferte eine spektakuläre Performance. Mit der Einführung des Farbfernsehens in jenem Jahr schien auch jeder Rest von Chansonseligkeit, vornehmer Zurückhaltung, durch steife Abendroben bedingter Bewegungsunfähigkeit und Dezenz von der Veranstaltung abzufallen. Schon der mit einem vom Contest-Gewinner Udo Jürgens verfassten, allerdings arg verzagten alpenländischen Anspruchsschlager über die ach so schlimme Einsamkeit der Großstadt für Österreich startende Karel SchlagerGott gebärdete sich auf der Bühne so tuntig wie ein Musicalsänger: eine Vier auf der Haldor-Lægreid-Skala für die “Goldene Stimme aus Prag”. Wien soll den Anschuldigungen in der oben erwähnten La-Sexta-Doku zufolge ebenfalls in die angebliche Schiebung verwickelt gewesen sein: so habe das Franco-Régime Unterstützung bei der Veröffentlichung von Alben tschechischer und bulgarischer Künstler in Spanien offeriert. Der vom ORF intern ausgewählte Gott stammte aus der damaligen ČSSR, und tatsächlich gewährte die Wiener Jury Massiel recht unauffällig zwei Punkte. Bulgarien allerdings nahm erstmals 2005 am Eurovision Song Contest teil, und so scheint dieser ganze Skandal doch ziemlich frei erfunden.
Auch schön: Männer in Strumpfhosen. Die aufgeplatzten Gedärme am Ellenbogen irritierten aber ein wenig (YU).
Noch schwuler als der Tscheche wirkten die jugoslawischen Dubrovački Trubaduri, die sich als mittelalterliche Minnesänger kostümierten und zu ihrer possierlichen Folkschlager-Weise anmutig über die Bühne hüpften wie hormongesteuerte Waldelfe im Frühlingssturm der Gefühle. Aufgrund des beim Grand Prix noch immer geltenden Gruppenverbotes mussten sich die eigentlich fünfköpfigen Troubadoure aus Dubrovnik, die trotz mäßigen Jury-Ergebnisses mit ihrer Nummer moderate kommerzielle Erfolge über die Landesgrenzen hinaus feiern konnten, offiziell als Duo (Luci & Hamo) mit Begleitchor tarnen. Zur musikalischen Auffrischung des Wettbewerbsfeldes trugen ebenso die skandinavischen Vertreter:innen bei. Der Schwede Claes-Göran Hederström wirkte im Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen allerdings wie der böse Onkel vom Kinderspielplatz, vor dem uns unsere Eltern immer gewarnt hatten, was den Genuss seines wunderbar jazzigen Popschlager ‘Banne mej’, in dem er das schwere Schicksal beklagte, frisch verliebt zu sein, erheblich minderte. Etwas optische Linderung verschaffte uns das direkt folgende Finnland, das eine sympathische junge Sängerin namens Kristina Hautala mit einem harmlosen Liedchen und in einem lindgrünen Kleidchen mit gerüschten Blümchen auf dem Ärmel schickte: eine singende Frühlingswiese!
Verdammt, es ist Liebe: die Schweden sind schon echte Romantiker! (SE)
Der Norweger Odd Børre Sørensen schaute seinen Tanzstil bei dem direkt vor ihm aufgetretenen Cliff ab – nur, dass er mit dicker Hornbrille und Bill-Gates-Frisur aussah wie der verrückte Professor aus einem Horrorfilm der legendären Londoner Hammer-Studios. Was perfekt zu seinem wirren Lied mit dem treffenden Titel ‘Stress’ passte. Dieser ursprünglich zweitplatzierte Song der norwegischen Vorentscheidung war nachgerückt, nachdem einem anonymen Denunzianten eine angebliche Ähnlichkeit des ebenfalls von Odd Børre interpretierten Siegertitels ‘Jeg har aldri vært så glad i no’en som deg’ mit dem Cliff-Richard-Hit ‘Summer Holiday’ auffiel und er die Komponistin dieses Songs so lange terrorisierte, bis sie ihn zurückzog. Für das nicht abgekupferte ‘Stress’ kassierte Norwegen lediglich zwei Mitleidspünktchen – der gerechte kosmische Ausgleich für ihre Rachewertung gegenüber “unserer” Wencke Myhre! Die schunkelte und propellerte zum vom BBC-Orchester leider etwas schaumgebremst begleiteten ‘Hoch der Liebe’ über die Bühne wie ein zu stark aufgezogener Brummkreisel, und das in einem topmodischen, quietschgelben Minikleid, das ein wenig in den Augen wehtat.
Engagiert vorgetanzt: Wencke Myhre (DE).
Nicht sehr vorteilhaft machte sich auch die französische Siegerin von 1962, Isabelle Aubret, zurecht. Ihr labbriges, blassblaues Satin-Nachthemd kontrastierte so schmerzvoll zu ihrer platinblonden Lockenpracht, dass man sich kaum auf ihr faszinierendes Chanson ‘La Source’ zu konzentrieren vermochte, einer dunklen Schauergeschichte über ein von ihren drei Vergewaltigern im Wald erschlagenes Mädchen. Wobei sich die Frage stellt, ob ihr diese optische Ablenkungsstrategie angesichts des nicht nur für Grand-Prix-Verhältnisse ungewöhnlich düsteren Songthemas nicht sogar zum Vorteil gereichte: immerhin erreichte Madame Aubret Rang 3 und schnitt damit deutlich besser ab als die für die kulturellen Satellitenstaaten Monaco und Luxemburg angetretenen gallischen Schlagerpärchen Line & Willy sowie Chris & Sophie. Den absoluten Vogel aber schoss der so drollige wie tragische, für die Schweiz startende Italiener Gianni Mascolo ab. In einem damals vermutlich topmodernen, kürbisfarbenen Anzug, der hauteng anlag und den landestypisch ohnehin nicht besonders großen Sänger optisch noch kompakter erscheinen ließ, lieferte er den abschließenden Beweis, dass das sämtliche modischen Fehlgriffe schonungslos aufdeckende Farbfernsehen nicht immer ein Segen sein muss.
Bra bra bra statt la la la: Odd Børre (NO).
Zudem hatte er mit dem gefühlvoll vorgeschluchzten ‘Guardano il Sole’ eine sehr grandprixeske, im Refrain merklich vom belgischen ESC-Beitrag von 1963 abgekupferte Ballade im Gepäck. Im Gegensatz zum drögen Original verfügte die schweizerische Kopie jedoch über ein großes, emotionsgeladenes, aufwallendes Finale. Ein Song also, wie er eigentlich für französische Chansonetten typisch ist. Und wie eine solche gebärdete sich Gianni auch: er strahlte, schmetterte und warf die Arme in die Luft, exaltierter als jeder Jürgen Marcus und mindestens genau so enthusiastisch wie drei Jahre nach ihm Sévérine. Die gewann 1971 in Dublin mit genau so einer Darbietung. Dem armen Gianni bleib das verwehrt: mit nur mageren zwei Pünktchen, ebenso vielen wie Odd Børre erhielt, landete er ganz hinten. Ein glasklarer Fall von geschlechtsspezifischer Diskriminierung: blöde für den im falschen Körper geborenen, ehemaligen Kirchenchor-Sängerknaben, der seine Karriere kurz darauf beendete, dass es seinerzeit noch keine Gleichstellungsbeauftragten gab.
Eine fünf auf der Haldor-Lægreid-Skala: Gianni (CH).
Deutlich zurückhaltender agierte sein Landsmann Sergio Endrigo, der mit einer selbstgeschriebenen, etwas spröde wirkenden Liebeserklärung an eine gewisse ‘Marianne’ antrat. Das heimische San-Remo-Festival hatte er zuvor mit einem anderen, ebenfalls eigenkomponierten Titel gewonnen. Ob der Cantautore selbst oder die Rai auf dem Austausch bestanden, bleibt unklar. Welches Potential in dem Lied eigentlich steckt, bewies Endrigos britischer Konkurrent: Cliff Richard coverte die Nummer mit einem englischen Text und sehr viel mehr Schmacht in der Stimme. Das reichte auf der Insel für Platz 22 in den Charts. ‘La, la, la’, der Song, der ihm zur Verbitterung seiner Landsleute den Sieg “gestohlen” hatte, verkaufte sich übrigens europaweit ziemlich gut (#18 in den Niederlanden, #12 in Deutschland, #8 in Österreich und der Schweiz sowie #5 in Norwegen). Und konnte, sozusagen als Kirsche auf dem Sahnehäubchen, selbst die sonst gegen fremdsprachige Titel so hermetisch abriegelten britischen Top 40 knacken (#35). Manchmal lohnt sich ein Königsmord also doch!
Einmal reißt er doch ganz kurz die Ärmchen hoch, aber sonst bleibt Sergio landesuntypisch eher steif (IT).
Eurovision Song Contest 1968
Eurovision Song Contest. Samstag, 6. April 1968, aus der Royal Albert Hall in London, Großbritannien. 17 Teilnehmerländer, Moderation: Katie Boyle.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | PT | Carlos Mendes | Verão | 05 | 11 |
02 | NL | Ronnie Tober | Morgen | 01 | 16 |
03 | BE | Claude Lombard | Quand tu reviendras | 08 | 08 |
04 | AT | Karel Gott | Tausend Fenster | 02 | 13 |
05 | LU | Chris Baldo + Sophie Garel | Nous vivrons d’Amour | 05 | 12 |
06 | CH | Gianni Mascolo | Guardano il Sole | 02 | 13 |
07 | MC | Line + Willy | À chacun sa Chanson | 08 | 07 |
08 | SE | Claes-Göran Hederström | Det börjar verka Kärlek, banne mej | 15 | 05 |
09 | FI | Kristina Hautala | Kun Kello käy | 01 | 16 |
10 | FR | Isabelle Aubret | La Source | 20 | 03 |
11 | IT | Sergio Endrigo | Marianne | 07 | 10 |
12 | UK | Cliff Richard | Congratulations | 28 | 02 |
13 | NO | Odd Børre Sørensen | Stress | 02 | 15 |
14 | IE | Pat McGeegan | Chance of a Lifetime | 18 | 04 |
15 | ES | Massiel | La la la | 29 | 01 |
16 | DE | Wencke Myhre | Ein Hoch der Liebe | 11 | 06 |
17 | YU | Dubrovački Trubaduri | Jedan Dan | 08 | 08 |
Letzte Aktualisierung: 12.10.2022