Gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Schweiz als Standort der ausrichtenden EBU sowie als Erfinder, Ausrichter und Sieger des allerersten Grand Prix Eurovision nicht ganz ohne Grund als ideelle Heimat des Eurovision Song Contest betrachtet, kommt man nicht umhin, die Eidgenoss:innen für ihren mehr als laxen Umgang mit der Historie ihrer eigenen nationalen Vorentscheide zu tadeln. Zugegeben, auch in Deutschland klaffen in der ersten Dekade des Wettbewerbs archivarische Lücken. Doch in der kulturell dreigeteilten Alpennation treten diese auch beim Übergang in die Hochphase des Wettbewerbs Anfang der Siebzigerjahre erneut offen zutage. Und das ausgerechnet beim im Gegensatz zur bisher üblichen D‑Listen-Versammlung ersten wirklich hochklassig bestückten helvetischen Vorentscheid, bei dem sich die großen Namen das Mikro in die Hand gaben. Jedenfalls, soweit wir es überblicken können. Denn von den erneut sechs Beiträgen des Concours Eurovision sind nur vier bekannt. Hierzu zählt der Titel ‘Due Ragazzi’ der kroatischen Sängerin und zweimaligen ESC-Teilnehmerin Tereza Kesovija, der sich allerdings nicht so recht zwischen Beatschlager und Ballade entscheiden konnte und somit zu Recht auf der Strecke blieb.
So richtige Brüller waren ihre Beiträge nie: die monegassische und jugoslawische ESC-Vertreterin Tereza mit ihrem schweizerischen Vorentscheidungstitel.
Um so heller strahlt der Name ihrer Konkurrentin Mina. Der bis heute musikalisch aktive und in ihrer Heimat gottgleich verehrte italienische Superstar hatte sich 1966 im schweizerischen Lugano niedergelassen und dort im Jahr darauf ihr eigenes Plattenlabel gegründet. Dem San-Remo-Festival, an dem sie 1960 und 1961 zu Beginn ihrer sieben Jahrzehnte umspannenden Karriere teilnahm, hatte sie im Zorn über eine negative Pressekritik hinsichtlich ihres letzten Auftrittes dort für immer den Rücken gekehrt. Und so lag es nahe, dass sie es nun in ihrer neuen Heimat versuchte, deren Staatsbürgerschaft sie zwanzig Jahre später zusätzlich zu ihrer ursprünglichen annehmen sollte. Zumal der Vorentscheid an ihrem neuen Wohnort stattfand, wobei sich heute nicht mehr eruieren lässt, ob als hausinterne Auswahl hinter verschlossenen Türen oder als TV-Show. Jedenfalls stand sie mit gleich zwei Liedern auf der helvetischen Auswahlliste, nämlich mit dem ausgesprochen fröhlichen Samba ‘Dai dai domani’ und der herzergreifend herb-introvertierten Ballade ‘Non credere’. Beide Titel veröffentlichte sie gemeinsam als Single, mit dem langsameren Stück als A‑Seite, und erreichte in Italien damit Rang 3 der Verkaufshitparade.
Wem du’s heute kannst besorgen, bei dem komme nicht erst morgen: Mina.
Glaube nicht, dass dieser Song zu gut für den Contest sei: Mina.
Die Schweiz hingegen verschmähte die erlesenen Leihgaben und entschied sich stattdessen für ein Eigengewächs. Wobei die damals erst achtzehnjährige Paola del Medico zumindest väterlicherseits ebenfalls über italienische Wurzeln und ebenso wie Mina über beide Pässe verfügt. Für die in St. Gallen geborene Paola war es die zweite Teilnahme an einem helvetischen Vorentscheid. Der von dem in Dresden geborenen KZ-Überlebenden Henry Meyer, einem der fleißigsten Schlagerschaffenden Nachkriegsdeutschlands, komponierte Titel ‘Bonjour Bonjour’, der in absolut passenden, optimistisch-mitreißenden Dur-Tönen und geradezu überbordend euphorischen Lyrics vom berauschenden Endorphin-Hoch des Frischverliebtseins berichtete, bescherte der späteren TV-Moderatorin die erste von zwei Eurovisionsteilnahmen. Sowie ihre erste von noch zahlreich folgenden Hitsingles, zu denen neben ihren beiden leider sehr infantilen deutschen Vorentscheidungsbeiträgen ‘Der Teufel und der junge Mann’ (1981) und ‘Peter Pan’ (1982) vor allem ihr bekanntester Titel zählt, die 1978 veröffentliche Eindeutschung des US-amerikanischen Country-Klassikers ‘Blue Bayou’.
Noch vor dem ESC 1969 durfte Paola ihren Beitrag in der ARD-Musikantenscheune ‘Zum blauen Bock’ präsentieren, wobei sich Heinz Schenk etwas schwer mit ihrem Nachnamen tat.
Dieser Signatur-Song ist im deutschsprachigen Raum so stark mit ihrem Namen verbunden, dass kaum noch jemand das ebenfalls kommerziell erfolgreiche Original von Roy Orbinson aus dem Jahre 1963 oder die 1977 von Linda Ronstadt neu eingespielte Version kennt, welche die Vorlage für Paolas Top-Hit bildete. Wozu natürlich auch das immer wieder gern ausgegrabene Flutschbananen-Malheur in der Karl-Dall-Gala betrug, dem vielleicht lustigsten Live-Missgeschick in der Geschichte des deutschen Fernsehens, das die Schweizerin mit adorabler Bravour meisterte. Leider überstrahlt dieser Erfolg ein wenig ihr restliches Œuvre, zu dem auch mein persönliches uneinholbares Lieblings-Guilty-Pleasure zählt, ihre 1982 veröffentlichte Eindeutschung von Charlenes schreiend campem Selbstfindungsheuler ‘I’ve never been to me’. Zumal wohl niemand so absolut glaubwürdig diese antifeministische Kitsch-Knotte interpretieren konnte wie die mit Kurt Felix vermählte Sängerin, die in diesem Lied einer ehemaligen Schulfreundin und Vollzeit-Hausfrau-und-Mutter gesteht, wie sehr sie ihr eigenes, selbstbestimmtes Jet-Set-Leben hasst und die darob sicherlich begeisterte Bekannte darum beneidet, einfach nur den Mann zu umsorgen, wenn er “müd’ von der Arbeit kommt”.
Da kriegen Mitglieder der Werte-Union einen Harten: Paolas Hausfrauenhymne (Repertoirebeispiel).
Zu Paolas größten Fans zählt übrigens ihr Schweizer Eurovisionskollege Michael von der Heide, der ihr im Jahr 2016 ein ganzes Album mit Coverversionen widmete. Das darin enthaltene Duett ‘Wo ist das Land’ stellt denn auch ihre letzte Veröffentlichung dar, nach dem sich Paola anlässlich ihres vierzigsten Geburtstags eigentlich bereits Ende der Achtzigerjahre aus dem Schlagergeschäft zurückgezogen hatte. Um nun aber nochmals auf die von ihr 1969 ausgebootete Mina zurückzukommen: die bewarb sich auch 1970 (hier kennen wir nur zwei der sechs Konkurrenztitel) um das eidgenössische Eurovisionsticket. Da mit dem epischen Canzone ‘Insieme’ (nicht zu verwechseln mit Toto Cutugnos gleichnamiger Europahymne von 1990), mit dem sie erneut die italienischen Charts aufrollte (#2 IT), aber wiederum gegen einen Schweizer den Kürzeren zog, nämlich gegen den späteren Kinderlied-Interpreten Henri Dès (bürgerlich: Destraz) und seine kirmeshafte Noveltynummer ‘Retour’, die in der Hauptsache von lustigen Geräuscheffekten und einem “Ba babapp ba baa ba”-Refrain lebte. Verständlicherweise versuchte es Mina nach dieser erneuten Brüskierung nie wieder.
https://youtu.be/59Uf9q1oEjw
Für den ESC womöglich zu anspruchsvoll: Minas Vorentscheidungsbeitrag von 1970.
Vorentscheid CH 1969
Concours Eurovision. Senderinterne Auswahl unter sechs Teilnehmer:innen im TSR-Sendestudio in Lugano.# | Interpreten | Songtitel | Platz |
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01 | n.b. | n.b. | n.b. |
02 | n.b. | n.b. | n.b. |
03 | Tereza Kesovija | Due Ragazzi | n.b. |
04 | Mina | Non crederi | n.b. |
05 | Mina | Dai, dai, Domani | n.b. |
06 | Paola | Bonjour, Bonjour | 01 |
Letzte Aktualisierung: 12.06.2021