Fran­zö­si­scher Vor­ent­scheid 1969: Ein Lager aus Verlegenheit

Erst­ma­lig über­schritt die Zahl der vor­ge­schla­ge­nen Lie­der für die haus­in­ter­ne Euro­vi­si­ons­aus­wahl des fran­zö­si­schen Sen­ders ORTF im Jah­re 1969 die magi­sche Gren­ze zur Drei­stel­lig­keit: 108 Titel zählt die Web­site Euro­vi­si­on Histo­ry, von denen sich jedoch nur gut jeder zehn­te auch Interpret:innen zuord­nen lässt. Mit gleich zwei Lie­dern war dabei der in der Bre­ta­gne gebo­re­ne Sän­ger Romu­ald Figu­ier ver­tre­ten, doch weder die pas­send zum Lied­ti­tel sehr upt­em­po­rär-ein­gän­gi­gen ‘Trom­meln des Win­des’ schaff­ten es, noch das eher belang­los vor sich hin plät­schern­de ‘Seul not­re Amour n’a pas chan­gé’. Wie bereits fünf Jah­re zuvor und wie auch fünf Jah­re spä­ter, als der im eige­nen Land nichts gel­ten­de Pro­phet auf die fran­ko­phi­le Songab­wurf­stel­le Mona­co aus­wich, such­te er sich auch dies­mal ein ande­res Out­let und fand es mit dem zwei­ten gal­li­schen Satel­li­ten­staat Luxem­burg, für den er beim Grand Prix in Madrid eine ‘Cathé­ri­ne’ anschmach­ten durf­te. Es soll­te mit Rang 11 das schlech­tes­te sei­ner drei Euro­vi­si­ons­re­sul­ta­te wer­den, was aber letz­ten Endes auch kei­ne Rol­le spiel­te, denn im Gedächt­nis blieb kei­ner sei­ner Auftritte.

Die Play­list mit den auf­find­ba­ren Titeln die­ses Jahrgangs.

Ähn­lich ver­hielt es sich bei Ser­ge Lama (bür­ger­lich: Ser­ge Chau­vier). Der in Bor­deaux gebo­re­ne Künst­ler, des­sen bekann­tes­ter Titel das auch von Dali­da inter­pre­tier­te ‘Je suis mala­de’ (1974) wer­den soll­te, konn­te mit der schwer­mü­ti­gen, har­mo­ni­ka­sat­ten Bal­la­de ‘Une Île’ nicht reüs­sie­ren und muss­te noch zwei Jah­re war­ten, ehe er sich im inter­nen Vor­auswahl­ver­fah­ren des fran­zö­si­schen Sen­ders mit dem ‘Jar­din sur la Terre’ gegen eine jun­ge Sän­ge­rin namens Séveri­ne durch­zu­set­zen ver­moch­te. Die wan­der­te dar­auf­hin nach Mona­co wei­ter, wo man sie mit dem mög­li­cher­wei­se ein­gän­gigs­ten Ohr­wurm der Grand-Prix-Geschich­te ver­sorg­te, näm­lich ‘Un Banc, un Arb­re, une Rue’. Der Rest ist Geschich­te… Die eben erwähn­te Dali­da fand sich eben­falls auf der dies­jäh­ri­gen Aus­wahl­lis­te von ORTF. Ihre ‘Bal­la­de über die ver­lo­re­ne Zeit’ zeich­ne­te sich, wenig über­ra­schend, nicht gera­de durch Froh­sinn aus, pass­te damit aber zu ihrer ein­zig­ar­ti­gen, herb-melan­cho­li­schen Stim­me. Die als Iolan­da Cris­ti­na Gigliot­ti in Kai­ro gebür­ti­ge, damals in Paris leben­de ita­lie­nisch­stäm­mi­ge Sän­ge­rin, Model und Schau­spie­le­rin soll­te nach einer Rei­he von Num­mer-Eins-Hits Ende der Fünf­zi­ger im Jah­re 1973 mit dem herr­lich iro­ni­schen ‘Paro­les, Paro­les’ und dem herz­er­grei­fen­den ‘Il venait d’avoir 18 ans’ (deut­scher Titel: ‘Er war gera­de 18 Jahr’) erneut für Auf­merk­sam­keit über die Lan­des­gren­zen hin­weg sorgen.

Wer kann da nicht jedes ein­zel­ne Wort zutiefst mit­emp­fin­den: Dali­da mit der bit­ter­sü­ßen Hym­ne an den jugend­li­chen Lieb­ha­ber (Reper­toire­bei­spiel).

Die­ses sich ganz weit oben in mei­nem per­sön­li­chen Schatz­käst­lein befind­li­che Lied knüpf­te an die tra­gi­schen Ereig­nis­se beim ita­lie­ni­schen San-Remo-Fes­ti­val 1967 an, wo Dali­da gemein­sam mit ihrem dama­li­gen Freund Lui­gi Ten­co des­sen selbst­ge­schrie­be­nes Lied ‘Ciao Amo­re Ciao’ prä­sen­tier­te. Ten­co ver­üb­te nach sei­nem Aus­schei­den in der Vor­run­de aus Ent­täu­schung über die Ent­schei­dung der Jury Selbst­mord, was Dali­da ver­ständ­li­cher­wei­se in eine see­li­sche Kri­se stürz­te. Der Thir­ty­so­me­thing trös­te­te sich mit­hil­fe eines acht­zehn­jäh­ri­gen ita­lie­ni­schen Stu­den­ten, von dem sie aller­dings schwan­ger wur­de und eine Abtrei­bung vor­neh­men ließ. Nach einer Aus­zeit vom Show­ge­schäft und einer Psy­cho­the­ra­pie zeig­te sie sich dann gefes­tigt genug, den Vor­fall in die­sem sehr per­sön­li­chen Lied zu ver­ar­bei­ten. Der Sui­zid soll­te sie jedoch wei­ter ver­fol­gen: 1983 nahm sich der Maler und Sän­ger Richard Chan­fray, von dem sie sich zwei Jah­re zuvor nach län­ge­rer Bezie­hung getrennt hat­te, das Leben. Und nur vier Jah­re spä­ter fand man Dali­da nach der Ein­nah­me einer Über­do­sis Schlaf­ta­blet­ten tot auf. „Das Leben ist mir uner­träg­lich – ver­gebt mir,“ lau­te­te ihr Abschiedsbrief.

Zum Nie­der­knien: Fri­da Boccara.

Deut­lich lebens­be­ja­hen­der zeig­te sich das von ORTF schließ­lich für den Grand Prix aus­ge­wähl­te Chan­son ‘Un Jour, un Enfant’, des­sen lyrisch anspre­chen­der Text die Welt durch die stau­nen­den Augen eines Kin­des betrach­te­te. Fri­da Boc­ca­ra inter­pre­tier­te es mit kris­tall­kla­rer Stim­me und einer extrem fein aus­ta­rier­ten Mischung aus kon­trol­lier­ter Zurück­hal­tung und abso­lu­ter Hin­ga­be. Dass Frank­reich mit einer musi­ka­lisch doch eher unzeit­ge­mä­ßen Kla­vier­bal­la­de völ­lig ohne Refrain in Madrid beim wohl bizarrs­ten Jahr­gang der ESC-Geschich­te neben drei ande­ren Mit­be­wer­be­rin­nen (!) die Kro­ne holen konn­te, ist vor allem ihr Verdienst.

Fran­zö­si­scher Vorentscheid

Sen­der­in­ter­ne Aus­wahl aus einer 108 Titel umfas­sen­den Vor­schlags­lis­te.

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 12.06.2021

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