Ein Lied für Madrid 1969: Hey, das ist Musik für mich!

Siw Malmkvist, DE 1969
Die Unbe­schwer­te: Siw Malmkvist, deut­sche Ver­tre­te­rin 1969.

Als bedrü­cken­de Lehr­stun­de des frap­pan­ten öffent­lich-recht­li­chen Unter­hal­tungs­elends kann ohne jede Fra­ge die Grand-Prix-Vor­ent­schei­dung des Jah­res 1969 die­nen. Die vom musi­ka­li­schen Niveau und in ihrer Gestal­tung nach dem hoff­nungs­fro­hen ästhe­ti­schen Auf­bruch im Vor­jahr wie­der­um einen typi­schen her­ben Rück­schritt in den Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dungs­mo­der­ni­sie­rungs­be­mü­hun­gen der ARD mar­kie­ren­de Show lief ver­mut­lich exakt so ab, wie sich das Deutsch­lands obers­ter Grand-Prix-Beam­te, Hans-Otto Grü­ne­feldt vom Hes­si­schen Rund­funk, immer vor­ge­stellt hat­te. So ver­wen­de­te er quä­lend lan­ge Sen­de­mi­nu­ten dar­auf, den Zuschauer:innen haar­klein aus­ein­an­der­zu­set­zen, dass dies hier ein Kom­po­nis­ten­wett­be­werb sei, in wel­cher Form die Vor­auswahl der neun an die­sem Abend zu Gehör zu brin­gen­den Schlicht­schla­ger erfolg­te und, ganz beson­ders wich­tig, dass die Auf­tritts­rei­hen­fol­ge der drei Sänger:innen, die sich “freund­li­cher­wei­se zur Ver­fü­gung gestellt” hat­ten, den Mist weg­zu­sin­gen, selbst­ver­ständ­lich unter nota­ri­el­ler Auf­sicht aus­ge­lost wur­de. Ord­nung muss schließ­lich sein!

Der letz­te TV-Auf­tritt Alex­an­dras vor ihrem tra­gi­schen Tod fand nicht, wie zunächst geplant, beim deut­schen Vor­ent­scheid statt. Für die Aktu­el­le Schau­bu­de stand sie statt­des­sen augen­schein­lich ziem­lich zuge­dröhnt in der ver­müll­ten Ost­see (Reper­toire­bei­spiel).

Nach Anga­ben des Fan­clubs Euro­vi­si­on Club Ger­ma­ny soll­te ursprüng­lich auch Alex­an­dra (‘Mein Freund, der Baum’) in Frank­furt am Main dabei sein. Die Aus­nah­me­sän­ge­rin mit der ein­zig­ar­ti­gen Stim­me, die – wie jede etwas auf sich hal­ten­de Pop­star-Legen­de – nur weni­ge Mona­te spä­ter im Alter von ledig­lich 27 Jah­ren bei einem Auto­un­fall den Tod fin­den soll­te, sag­te jedoch auf­grund wich­ti­ge­rer Ter­mi­ne ab. Oder viel­leicht doch wegen des grau­en­haf­ten Song­ma­te­ri­als? Selbst der so char­man­ten wie bedau­erns­wer­ten Mode­ra­to­rin Marie-Loui­se Stein­bau­er war es sei­tens des Sen­ders strengs­tens unter­sagt, ihren Job aus­zu­üben und tat­säch­lich zu mode­rie­ren. Irgend­wel­che gar noch spon­ta­nen Äuße­run­gen hät­ten ja als Beein­flus­sung gel­ten kön­nen. So muss­te sie die Rol­le eines Sprech­ro­bo­ters spie­len und durf­te ledig­lich ansa­gen: “Das war Lied Num­mer 1 und jetzt kommt Lied Num­mer 2”. Und auch das ver­mut­lich erst, nach­dem die­ser Satz durch das hr-Jus­ti­zia­ri­at nach strengs­ter, acht­fa­cher Gegen­prü­fung geneh­migt wur­de. Selbst bei der Büh­nen­de­ko­ra­ti­on leg­te man ängst­lich Wert dar­auf, bloß kei­nen der drei Protagonist:innen, die jeweils im Wech­sel drei Lied­lein vor­zu­tra­gen hat­ten, in irgend­ei­ner Form zu bevorzugen.

Hey, DAS ist Musik für mich: die poly­glot­te Peg­gy March.

Doch für wen eigent­lich der gan­ze Auf­wand? Denn selbst­ver­ständ­lich blie­ben die unmün­di­gen Zuschauer:innen von der Ent­schei­dungs­fin­dung aus­ge­schlos­sen. Statt­des­sen tag­te ein Gre­mi­um von elf alten Män­nern (und null Frau­en!) in grau­en Tre­vi­ra­an­zü­gen und mit bil­li­gen Tou­pets, die nicht ver­drieß­li­cher das Grau­en des alles­läh­men­den deut­schen Ver­bands­un­we­sens hät­ten illus­trie­ren kön­nen: je zwei Ver­tre­ter der Tex­ter- und Kom­po­nis­ten­lob­bys sowie der “Arbeits­ge­mein­schaft Schall­plat­te” (also der Indus­trie), eini­ge Unter­hal­tungs­chefs der ARD-Sen­de­an­stal­ten und, wohl als rech­ne­ri­sches Züng­lein an der Waa­ge, der Kapell­meis­ter der Städ­ti­schen Büh­nen Frank­furt am Main, Rudi Franz. Letz­te­rer ver­rich­te­te sei­ne Juro­ren­tä­tig­keit (wegen des Spe­sen­schecks?) wenigs­tens mit einem son­ni­gen Lächeln, wäh­rend die übri­gen Her­ren mit staats­tra­gend sau­er­töp­fi­scher Mie­ne und zusam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen (sowie ver­mut­lich auch Poba­cken) ihre alber­nen Papp-Wer­tungs­tä­fel­chen zogen und vor sich “depo­nier­ten”. In ihrer unfass­bar spie­ßi­gen Ver­klemmt­heit wirk­te die gan­ze Sze­ne­rie wie ein Sketch von Lori­ot. (Unfrei­wil­lig) lus­tig wur­de es jedoch nur ein­mal ganz kurz, als der Gro­ße Vor­sit­zen­de Grü­ne­feldt die von einem der Lob­by­is­ten abge­ge­be­ne Vote für Peg­gy March wie­der­hol­te: “Herr Hée: Hey!”.

Die Play­list zum Durch­skip­pen mit allen neun Vor­ent­schei­dungs­ti­teln plus Jury­vo­ting und Siegerreprise.

Bei sel­bi­gem Titel, der es zusam­men mit dem spä­te­ren Sie­ger­lied ‘Pri­ma­bal­le­ri­na’ der Schwe­din Siw Malmkvist und Rex Gil­do‘Die bes­te Idee mei­nes Lebens’ (was man über sei­ne Teil­nah­me an die­ser Vor­run­de nicht unbe­dingt sagen kann) in die End­aus­wahl schaff­te, han­delt es sich denn auch um den ein­zi­gen nen­nens­wer­ten Bei­trag des Abends. “Hey, das ist Musik für mich / Hey, das ist Musik für Dich / Denn Musik, die ist nun mal / Inter­na­tio­nal”: grand­pri­x­es­ker konn­te die Bot­schaft des musi­ka­lisch locker-flo­ckig swin­gen­den Easy-Lis­tening-Knül­lers kaum sein. Zu modern und frisch ver­mut­lich für die grau­en Herr­schaf­ten der Jury (auch Frau­en die Macht einer so essen­ti­el­len Ent­schei­dung zuzu­ge­ste­hen, hät­te ver­mut­lich die gesell­schaft­li­che Ord­nung der Bun­des­re­pu­blik zusam­men­bre­chen las­sen), die sich statt­des­sen mehr­heit­lich für das ver­staub­te Spiel­do­sen-Schla­ger­lein ‘Pri­ma­bal­le­ri­na’ aus der Feder von Hans Blum erwärm­ten. Der Fair­ness hal­ber soll gesagt sein: es war neben ‘Hey!’ der ein­zi­ge wei­te­re Wett­be­werbs­bei­trag, der das Publi­kum nicht sofort in dorn­rös­chen­glei­chen Tief­schlaf ver­setz­te, da er zumin­dest eine gefäl­li­ge, umit­tel­bar ins Ohr gehen­de Melo­die bot. Die man bei den rest­li­chen sie­ben Seicht­songs schmerz­lich vermisste.

Sag, weint Dein Herz? Siw Malmkvist gibt uns die ‘Pri­ma­bal­le­ri­na’

Skur­ril: Dur­odont-Rex, des­sen Hoch­zeits-Kitsch­lied in der ers­ten Run­de noch am ein­deu­tigs­ten führ­te, erhielt in der Final­ab­stim­mung von den­sel­ben Juro­ren kei­nen ein­zi­gen Punkt. Anfang der Sech­zi­ger noch gemein­sam mit Git­te Hæn­ning als “Traum­paar des deut­schen Schla­gers” ver­mark­tet, war Gil­do lan­ge Jah­re Stamm­gast in der 1969 zum ers­ten Mal aus­ge­strahl­ten ZDF-Hit­pa­ra­de und lan­de­te im sel­ben Jahr mit ‘Don­do­lo’ einen sei­ner zahl­rei­chen Top-Ten-Hits. Drei­ßig Jah­re und etli­che des­il­lu­sio­nie­ren­de Möbel­haus-Auf­trit­te spä­ter wähl­te der schrank­schwu­le Schla­ger­sän­ger dann den Frei­tod. Doch zurück nach 1969: die weni­gen Vorentscheidungs-Zuschauer:innen, die bis hier­hin noch nicht abge­schal­tet hat­ten und auch die bei­den als Pau­sen­über­brü­ckung gebuch­ten, mit zackig-preu­ßi­scher Prä­zi­si­on exer­zier­ten “Tanz­dar­bie­tun­gen” des Ehe­paa­res Trautz ohne Spon­tan­au­gen­krebs über­stan­den, ent­ließ man mit dem siche­ren Gefühl, dass die gan­ze Ver­an­stal­tung für alle sen­der­seits Betei­lig­ten, sei­en es die Juro­ren, die Mode­ra­to­rin oder die Sänger:innen, min­des­tens genau so quä­lend gewe­sen sein muss wie für die Men­schen vor den TV-Gerä­ten. Juris­tisch unan­greif­bar und jeg­li­cher Schie­bung unver­däch­tig gewiss, aber dafür eben auch nicht eine Sekun­de lang unter­halt­sam. Also alle Kli­schees über die red­li­chen, aber lang­wei­li­gen Deut­schen bestätigend.

Eine vol­le Stun­de deut­schen Unter­hal­tungs­fern­se­hens, die man unbe­dingt gese­hen haben muss, um das gan­ze Elend die­ses Lan­des sinn­lich zu erfah­ren: der deut­sche Vor­ent­scheid 1969.

Vor­ent­scheid DE 1969

Ein Lied für Madrid. Sams­tag, 22. Febru­ar 1969, aus dem Sen­de­stu­dio 2 des Hes­si­schen Rund­funks in Frank­furt am Main. Drei Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Marie-Loui­se Stein­bau­er. Zwölf­köp­fi­ge Jury, plus Superfinale.
#Inter­pre­tenSong­ti­telJurySuperPlatzCharts
01Siw MalmkvistDein Come­back zu mir0207-
02Rex Gil­doLady Julia0404-
03Peg­gy MarchKarus­sell mei­ner Liebe0109-
04Siw MalmkvistMelo­die0404-
05Rex Gil­doDie bes­te Idee mei­nes Lebens070003-
06Peg­gy MarchAber die Lie­be bleibt bestehen0404-
07Siw MalmkvistPri­ma­bal­le­ri­na05070113
08Rex Gil­doFes­ti­val der jun­gen Liebe0009-
09Peg­gy MarchHey!06040229

Wel­cher Song hät­te Dei­ner Mei­nung nach 1969 nach Madrid fah­ren sollen?

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< Deut­scher Vor­ent­scheid 1968

Ein Lied für Ams­ter­dam 1970 >

5 Comments

  • Inter­es­sant auch, dass nur “Pri­ma­bal­le­ri­na” und “Hey” über­haupt auf Plat­te ver­öf­fent­licht wur­den. Von Rex Gil­do kei­ner der Songs. Das sagt schon viel über die Qua­li­tät die­ses Jahr­gangs aus. Eine Alex­an­dra hät­te der Sen­dung sicher gutgetan.

  • Hal­lo , Ja es ist scha­de das Alex­an­dra nicht dabei war !
    Es ist aber eine Frecht­heit und end­spricht nicht der Wahr­heit das Alex­an­dra zuge­dröhnt war bei die­ser Aufnahme .…
    Wer sich rich­tig infor­mie­ren möch­te soll­te es auf http://www.alexandra-welt.de tun.
    Tho­mas ST
    Alex­an­dra – Freunde

  • Ich bin selbst beken­nen­der Alex­an­dra-Fan und Ver­eh­rer. Aber man muss schon sup­pen­tel­ler­gro­ße Scheu­klap­pen vor den Augen haben, um nicht zu sehen, dass sie bei die­sem Auf­tritt zumin­dest unter Vali­um stand. Was gar kein Vor­wurf ist: so gna­den­los, wie sie der Alex­an­dra-Bio­gra­fie von Marc Boett­cher zufol­ge ver­heizt wur­de, nimmt das nicht wei­ter Wunder.

  • Sicher war “Hey” von P. March das bes­te Lied der Vor­ent­schei­dung. Aber hat der gute Heinz Korn da nicht ein biss­chen “Pup­pet On A String” im Ohr gehabt? Oder bin ich da zu kritisch?

  • Eine (fast) völ­lig ein­schlä­fern­de Ver­an­stal­tung, da wur­de ganz, ganz, ganz tief in die Mot­ten­kis­te gegra­ben. Rex Gil­do mit ope­ret­ten­haf­ten Songs, die jeden unter 80 in Tief­schlaf ver­setz­ten, Siw Malmkvist optisch äußerst bie­der, mit zwei Titeln, die zu Recht völ­lig ver­ges­sen sind und einer Zweit­ver­wer­tung ihres Vor­gän­ger-Hits “Har­le­kin”, und Peg­gy March, die nur mit “Hey” zei­gen durf­te, dass sie noch nicht auf die Ren­te zusteuerte.

    Dass bei all der fürch­ter­li­chen Bie­der­keit natür­lich NICHT der ein­zig brauch­ba­re Song, “Hey”, gewann, war dann nur kon­se­quent, und wur­de eben­so kon­se­quent inter­na­tio­nal abgestraft.

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