Als bedrückende Lehrstunde des frappanten öffentlich-rechtlichen Unterhaltungselends kann ohne jede Frage die Grand-Prix-Vorentscheidung des Jahres 1969 dienen. Die vom musikalischen Niveau und in ihrer Gestaltung nach dem hoffnungsfrohen ästhetischen Aufbruch im Vorjahr wiederum einen typischen herben Rückschritt in den Eurovisionsvorentscheidungsmodernisierungsbemühungen der ARD markierende Show lief vermutlich exakt so ab, wie sich das Deutschlands oberster Grand-Prix-Beamte, Hans-Otto Grünefeldt vom Hessischen Rundfunk, immer vorgestellt hatte. So verwendete er quälend lange Sendeminuten darauf, den Zuschauer:innen haarklein auseinanderzusetzen, dass dies hier ein Komponistenwettbewerb sei, in welcher Form die Vorauswahl der neun an diesem Abend zu Gehör zu bringenden Schlichtschlager erfolgte und, ganz besonders wichtig, dass die Auftrittsreihenfolge der drei Sänger:innen, die sich “freundlicherweise zur Verfügung gestellt” hatten, den Mist wegzusingen, selbstverständlich unter notarieller Aufsicht ausgelost wurde. Ordnung muss schließlich sein!
Der letzte TV-Auftritt Alexandras vor ihrem tragischen Tod fand nicht, wie zunächst geplant, beim deutschen Vorentscheid statt. Für die Aktuelle Schaubude stand sie stattdessen augenscheinlich ziemlich zugedröhnt in der vermüllten Ostsee (Repertoirebeispiel).
Nach Angaben des Fanclubs Eurovision Club Germany sollte ursprünglich auch Alexandra (‘Mein Freund, der Baum’) in Frankfurt am Main dabei sein. Die Ausnahmesängerin mit der einzigartigen Stimme, die – wie jede etwas auf sich haltende Popstar-Legende – nur wenige Monate später im Alter von lediglich 27 Jahren bei einem Autounfall den Tod finden sollte, sagte jedoch aufgrund wichtigerer Termine ab. Oder vielleicht doch wegen des grauenhaften Songmaterials? Selbst der so charmanten wie bedauernswerten Moderatorin Marie-Louise Steinbauer war es seitens des Senders strengstens untersagt, ihren Job auszuüben und tatsächlich zu moderieren. Irgendwelche gar noch spontanen Äußerungen hätten ja als Beeinflussung gelten können. So musste sie die Rolle eines Sprechroboters spielen und durfte lediglich ansagen: “Das war Lied Nummer 1 und jetzt kommt Lied Nummer 2”. Und auch das vermutlich erst, nachdem dieser Satz durch das hr-Justiziariat nach strengster, achtfacher Gegenprüfung genehmigt wurde. Selbst bei der Bühnendekoration legte man ängstlich Wert darauf, bloß keinen der drei Protagonist:innen, die jeweils im Wechsel drei Liedlein vorzutragen hatten, in irgendeiner Form zu bevorzugen.
Hey, DAS ist Musik für mich: die polyglotte Peggy March.
Doch für wen eigentlich der ganze Aufwand? Denn selbstverständlich blieben die unmündigen Zuschauer:innen von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Stattdessen tagte ein Gremium von elf alten Männern (und null Frauen!) in grauen Treviraanzügen und mit billigen Toupets, die nicht verdrießlicher das Grauen des alleslähmenden deutschen Verbandsunwesens hätten illustrieren können: je zwei Vertreter der Texter- und Komponistenlobbys sowie der “Arbeitsgemeinschaft Schallplatte” (also der Industrie), einige Unterhaltungschefs der ARD-Sendeanstalten und, wohl als rechnerisches Zünglein an der Waage, der Kapellmeister der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, Rudi Franz. Letzterer verrichtete seine Jurorentätigkeit (wegen des Spesenschecks?) wenigstens mit einem sonnigen Lächeln, während die übrigen Herren mit staatstragend sauertöpfischer Miene und zusammengekniffenen Lippen (sowie vermutlich auch Pobacken) ihre albernen Papp-Wertungstäfelchen zogen und vor sich “deponierten”. In ihrer unfassbar spießigen Verklemmtheit wirkte die ganze Szenerie wie ein Sketch von Loriot. (Unfreiwillig) lustig wurde es jedoch nur einmal ganz kurz, als der Große Vorsitzende Grünefeldt die von einem der Lobbyisten abgegebene Vote für Peggy March wiederholte: “Herr Hée: Hey!”.
Die Playlist zum Durchskippen mit allen neun Vorentscheidungstiteln plus Juryvoting und Siegerreprise.
Bei selbigem Titel, der es zusammen mit dem späteren Siegerlied ‘Primaballerina’ der Schwedin Siw Malmkvist und Rex Gildos ‘Die beste Idee meines Lebens’ (was man über seine Teilnahme an dieser Vorrunde nicht unbedingt sagen kann) in die Endauswahl schaffte, handelt es sich denn auch um den einzigen nennenswerten Beitrag des Abends. “Hey, das ist Musik für mich / Hey, das ist Musik für Dich / Denn Musik, die ist nun mal / International”: grandprixesker konnte die Botschaft des musikalisch locker-flockig swingenden Easy-Listening-Knüllers kaum sein. Zu modern und frisch vermutlich für die grauen Herrschaften der Jury (auch Frauen die Macht einer so essentiellen Entscheidung zuzugestehen, hätte vermutlich die gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik zusammenbrechen lassen), die sich stattdessen mehrheitlich für das verstaubte Spieldosen-Schlagerlein ‘Primaballerina’ aus der Feder von Hans Blum erwärmten. Der Fairness halber soll gesagt sein: es war neben ‘Hey!’ der einzige weitere Wettbewerbsbeitrag, der das Publikum nicht sofort in dornröschengleichen Tiefschlaf versetzte, da er zumindest eine gefällige, umittelbar ins Ohr gehende Melodie bot. Die man bei den restlichen sieben Seichtsongs schmerzlich vermisste.
Sag, weint Dein Herz? Siw Malmkvist gibt uns die ‘Primaballerina’
Skurril: Durodont-Rex, dessen Hochzeits-Kitschlied in der ersten Runde noch am eindeutigsten führte, erhielt in der Finalabstimmung von denselben Juroren keinen einzigen Punkt. Anfang der Sechziger noch gemeinsam mit Gitte Hænning als “Traumpaar des deutschen Schlagers” vermarktet, war Gildo lange Jahre Stammgast in der 1969 zum ersten Mal ausgestrahlten ZDF-Hitparade und landete im selben Jahr mit ‘Dondolo’ einen seiner zahlreichen Top-Ten-Hits. Dreißig Jahre und etliche desillusionierende Möbelhaus-Auftritte später wählte der schrankschwule Schlagersänger dann den Freitod. Doch zurück nach 1969: die wenigen Vorentscheidungs-Zuschauer:innen, die bis hierhin noch nicht abgeschaltet hatten und auch die beiden als Pausenüberbrückung gebuchten, mit zackig-preußischer Präzision exerzierten “Tanzdarbietungen” des Ehepaares Trautz ohne Spontanaugenkrebs überstanden, entließ man mit dem sicheren Gefühl, dass die ganze Veranstaltung für alle senderseits Beteiligten, seien es die Juroren, die Moderatorin oder die Sänger:innen, mindestens genau so quälend gewesen sein muss wie für die Menschen vor den TV-Geräten. Juristisch unangreifbar und jeglicher Schiebung unverdächtig gewiss, aber dafür eben auch nicht eine Sekunde lang unterhaltsam. Also alle Klischees über die redlichen, aber langweiligen Deutschen bestätigend.
Eine volle Stunde deutschen Unterhaltungsfernsehens, die man unbedingt gesehen haben muss, um das ganze Elend dieses Landes sinnlich zu erfahren: der deutsche Vorentscheid 1969.
Vorentscheid DE 1969
Ein Lied für Madrid. Samstag, 22. Februar 1969, aus dem Sendestudio 2 des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Drei Teilnehmer:innen, Moderation: Marie-Louise Steinbauer. Zwölfköpfige Jury, plus Superfinale.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Super | Platz | Charts |
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01 | Siw Malmkvist | Dein Comeback zu mir | 02 | – | 07 | - |
02 | Rex Gildo | Lady Julia | 04 | – | 04 | - |
03 | Peggy March | Karussell meiner Liebe | 01 | – | 09 | - |
04 | Siw Malmkvist | Melodie | 04 | – | 04 | - |
05 | Rex Gildo | Die beste Idee meines Lebens | 07 | 00 | 03 | - |
06 | Peggy March | Aber die Liebe bleibt bestehen | 04 | – | 04 | - |
07 | Siw Malmkvist | Primaballerina | 05 | 07 | 01 | 13 |
08 | Rex Gildo | Festival der jungen Liebe | 00 | – | 09 | - |
09 | Peggy March | Hey! | 06 | 04 | 02 | 29 |
Letzte Aktualisierung: 24.09.2022
Interessant auch, dass nur “Primaballerina” und “Hey” überhaupt auf Platte veröffentlicht wurden. Von Rex Gildo keiner der Songs. Das sagt schon viel über die Qualität dieses Jahrgangs aus. Eine Alexandra hätte der Sendung sicher gutgetan.
Hallo , Ja es ist schade das Alexandra nicht dabei war !
Es ist aber eine Frechtheit und endspricht nicht der Wahrheit das Alexandra zugedröhnt war bei dieser Aufnahme .…
Wer sich richtig informieren möchte sollte es auf http://www.alexandra-welt.de tun.
Thomas ST
Alexandra – Freunde
Ich bin selbst bekennender Alexandra-Fan und Verehrer. Aber man muss schon suppentellergroße Scheuklappen vor den Augen haben, um nicht zu sehen, dass sie bei diesem Auftritt zumindest unter Valium stand. Was gar kein Vorwurf ist: so gnadenlos, wie sie der Alexandra-Biografie von Marc Boettcher zufolge verheizt wurde, nimmt das nicht weiter Wunder.
Sicher war “Hey” von P. March das beste Lied der Vorentscheidung. Aber hat der gute Heinz Korn da nicht ein bisschen “Puppet On A String” im Ohr gehabt? Oder bin ich da zu kritisch?
Eine (fast) völlig einschläfernde Veranstaltung, da wurde ganz, ganz, ganz tief in die Mottenkiste gegraben. Rex Gildo mit operettenhaften Songs, die jeden unter 80 in Tiefschlaf versetzten, Siw Malmkvist optisch äußerst bieder, mit zwei Titeln, die zu Recht völlig vergessen sind und einer Zweitverwertung ihres Vorgänger-Hits “Harlekin”, und Peggy March, die nur mit “Hey” zeigen durfte, dass sie noch nicht auf die Rente zusteuerte.
Dass bei all der fürchterlichen Biederkeit natürlich NICHT der einzig brauchbare Song, “Hey”, gewann, war dann nur konsequent, und wurde ebenso konsequent international abgestraft.