Die zehnte Ausgabe des norwegischen Eurovisionsvorentscheids sorgte für eine wochenlange, erregt geführte öffentliche Debatte hart an der Grenze zu einem Krieg der Kulturen. Sowie gar zu einer zeitweiligen Verschlechterung des norwegisch-dänischen Verhältnisses. Dabei gestaltete sich die etwas über einstündige Sendung für sich genommen gar nicht so spektakulär, auch wenn der verantwortliche Sender NRK eine grundlegende Regeländerung vorgenommen hatte: anstatt des bislang praktizierten Verfahrens, jeden Beitrag in zwei unterschiedlich instrumentierten Fassungen mit verschiedenen Interpret:innen darzubieten, stellte man diesmal jedes Lied nur einmal vor. Dafür verdoppelte man das Feld: zusätzlich zu den fünf von einer Jury aus den 418 Einsendungen eines offenen Komponistenwettbewerbs ausgewählten Vorschlägen bat der NRK die bislang beim Melodi Grand Prix erfolgreichen Songschreiber um ein Lied. Die insgesamt zehn so gefundenen Beiträge fielen größtenteils in die Kategorie “okay”: sie erwiesen weder als wirklich gut noch als bemerkenswert schlecht, sondern ließen sich weitestenteils ohne all zu große Schmerzen weghören.
https://youtu.be/m6sdsKgBIqw
Zugegeben: vor dem Blick der Punktefee habe ich ein bisschen Angst (das komplette MGP 1969).
Auch die visuelle Präsentation neigte zu schmuckloser Sachlichkeit, wahrte allerdings die Konventionen. Dennoch darf eine Nummer aus diesem Teilnehmerfeld in keinem ernst zu nehmenden Rückblick der lustigsten Vorentscheidungsmomente aller Epochen fehlen: das an zweiter Stelle startende ‘FM Fordomsfri’ (‘Kennwort: Vorurteilsfrei’) der absoluten Legende Elisabeth Granneman nämlich! Die zum Zeitpunkt ihres vierten und letzten MGP-Auftritts erstaunlicherweise erst 39jährige, in einem unbeschreiblichen Großmutterkleid und mit einer noch unbeschreiblicheren, weißblonden Haarhelm-Perücke jedoch mindestens doppelt so alt aussehende “singende Hausfrau aus Lørenskog” schwebte trotz ihrer beachtlichen Leibesfülle elegant wie eine Gazelle (oder wie das Tier mit dem Rüssel heißt) die Studiotreppe herunter und brachte mit adorierenswerter Selbstsicherheit ihre gesungene Kontaktanzeige zum Vortrage. Und die bestand aus nicht wenigen, teils erstaunlichen Anforderungen: schlank müsse er sein, wenn er ihr schreiben wolle, so ließ Elisabeth die Männerwelt wissen, und ein eigenes Auto besitzen. Aber klar, so ein heißer Feger wie sie konnte natürlich Bedingungen stellen!
So praktisch: die beiden Außenwellen leisteten Elisabeth Granneman beim Aufsetzen ihrer Frisur wertvolle Dienste.
Wie viele Zuschriften hinterher in ihrem Postfach eintrudelten, ist nicht bekannt. Von den auf zehn Städte verteilten 50 Juror:innen (knapp ein Drittel davon Frauen) zeigten sich immerhin fünf angetan und schenkten ihr, wenn schon nicht ihr Herz, dann doch einen Punkt. Ganz im Gegensatz zur schwedischen Eurovisionsvertreterin von 1961, Lill-Babs. Die hier fremdsingende Schlagerette musste mit leeren Taschen wieder abreisen. Ein tatsächlich faires Ergebnis für ihren wirren Song über einen schummelnden Faxenmacher, der aus tausend halbgaren, lieblos zusammengeleimten Pop-Zitaten bestand. Gleichzeitig bestätigte der Titel ‘Juksemaker Pipelort’ sehr eindrucksvoll, dass Norwegisch vielleicht nicht die glamouröseste Gesangssprache ist. Ein bisschen schwer tat sich auch die damals im Lande sehr populäre 22jährige Vigdis Mostad damit, die Silben ihres Textes in die Melodifolge ihrer eleganten Ballade ‘Friaren’ zu pressen. Vigdis blieb nicht mehr viel Zeit, ihren Erfolg zu genießen: nur zwei Monate nach dem MGP stürzte sie gemeinsam mit vier weiteren Mitgliedern eines Tanzorchesters auf dem Weg zu einem Auftritt mit einem kleinmotorigen Flugzeug ab. Alle sechs Insassen inklusive des Piloten starben.
Konnte Lena Meyer-Landruts Siegeszug in Oslo 41 Jahre später vorhersehen: der ørre Bodd.
Odd Børre Sørensen wagte ein Jahr nach seinem 13. Platz beim ESC in London einen erneuten Anlauf und landete mit seinem wirklich runden Popsong ‘Lena’ auf dem zweiten Rang. Die doppelte Punktzahl wie Odd konnte, trotz zahlloser plombenziehend schiefer Töne vonseiten der Interpretin und der Blechbläsergruppe des Orchesters sowie eines sowohl von der Lautstärke als auch den Harmonien ziemlich ruppig agierenden dreiköpfigen Begleitchors Kirsti Sparboe klarmachen, die damit bereits ihre dritte (allerdings auch letzte) Eurovisionsteilnahme eintütete. Was natürlich vor allem daran lag, dass ihr der Ralph Siegel Norwegens, Arne Bendiksen, mit ‘Oj, oj, oj, så glad jeg skal bli’ (‘Ui ui ui, wie glücklich ich sein werde’) einen nachgerade unwiderstehlichen Gassenhauer komponiert hatte, der direkt mit dem Refrain eröffnete und sich in seiner Repetitivität rasend schnell und tief ins Gehirn fräste, ob man wollte oder nicht. Hinzu kam ein komplett sexistischer Schlagertext, der die bedingungslose Duldsamkeit gegenüber der offensiven Vielweiberei ihres Angehimmelten propagierte, während die Protagonistin im stillen Kämmerlein darauf hoffte, die Konkurrenz eines schönen Tages durch reines Abwarten für immer in die Flucht zu schlagen.
Eine Kakophonie der schiefertafelschiefen Töne: alle Beteiligten lieferten sich einen unerbittlichen Wettstreit, wer am weitesten daneben lag. Der Trompeter gewann.
Dieser nur schwer erträgliche lyrische Unfug und die ein wenig bei ‘Puppet on a String’ abgeschaute, indezente Eingängigkeit der Musik brachte nun die Anhänger:innen des anspruchsvollen Liedguts auf die Palme. Der dänische Literaturprofessor und Dozent an der Hochschule von Oslo, Erling Nielsen, gehörte zu den erbitterten Gegnern solcher gegenaufklärerischer Schlagernarretei. Und er äußerte sein Missfallen in klaren Worten. Im norwegischen Fernsehen, in der Talkshow Her og nå, noch am gleichen Abend. Und zwar in Anwesenheit von Sparboe und Bendiksen, der sich gegen die satirische Spitze, das “Oj oj oj” stelle in dem Song quasi noch den “Lichtblick” dar, mit dem Hinweis zu verteidigen suchte, er sei ja nicht Ibsen. Der Schlagabtausch zwischen Hochkultur und Unterhaltung wurde mit dem unerbittlichen Furor des letzten großen Gefechts der Menschheit ausgetragen, denn nicht Wenige sahen damals im Schlager ernsthaft den unvermeidlichen Untergang des Abendlandes und forderten, von solchen Veranstaltungen wie dem ESC abzulassen. Die Debatte fand ihre Fortsetzung in den Kommentarspalten der Tageszeitungen sowie fünf Tage später in der Diskussionssendung Åpen Post, erneut unter Beteiligung von Nielsen, wo der Tonfall diesmal endgültig ins Beleidigende abkippte.
Zeigte sich befremdewt von der norwegischen Debatte: die Schwedin Lill-Babs.
Während beiden Sendungen glühten bei NRK die Telefondrähte, nicht wenige Zuschauer:innen äußerten sich im höchsten Maße empört über den “unfreundlichen” und “hässlichen” Dänen, der sich gefälligst “etwas schämen” sollte. Ganz besonders patriotische Norweger:innen schworen gar, nie wieder Urlaub im Nachbarland machen zu wollen. Eine Drohung, die sich in ähnlicher Form 1982 wiederholen sollte, als die österreichische Jury “unserer” strahlenden Siegerin Nicole nur einen Punkt gab. Das Volk zeigte sich solidarisch mit Bendiksen und Sparboe, der inkriminierte Schlager toppte – erstmals in der MGP-Geschichte – wochenlang die heimische Hitliste. Beim Song Contest selbst behielten indes leider die Schlagerhasser der Jury die Oberhand: ein lausiges Pünktchen aus Schweden für Kirsti, die hieran der nicht minder erhitzt geführten Debatte um die von Norwegen betriebenen Robbenjagd die Schuld gab. 1970 setzten die Skandinavier:innen dann beim europäischen Wettsingen aus. Ob aus Protest gegen den Wertungseklat mit vier Sieger:innen in Madrid, wie es offiziell hieß, oder um etwas Gras über die Sache wachsen zu lassen, bleibt der Spekulation anheim gestellt.
Dasselbe Problem wie in der ZDF-Hitparade: wohin jetzt bloß mit dem Blumenstrauß? Kirsti bei der (wesentlich harmonischeren) Siegerreprise.
Vorentscheid NO 1969
Melodi Grand Prix. Samstag, 1. März 1969, aus den NRK-Fernsehstudios in Oslo. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Janka Polanyi.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Vigdis Mostad | Friaren | 04 | 05 |
02 | Elisabeth Granneman | F.M. Fordomsfri | 05 | 03 |
03 | Kirsti Sparboe | Oj, oj, oj så glad jeg skal bli | 18 | 01 |
04 | Inge Lise Andersen | Eventyr | 01 | 09 |
05 | Lill-Babs | Juksemaker pipelort | 00 | 10 |
06 | Per Müller | Sangen om den flygende Hollender | 04 | 05 |
07 | Lillan Askeland | La meg sove | 05 | 04 |
08 | Jan Høiland | Om du går på en Strand | 02 | 07 |
09 | Stein Ingebrigtsen | Viddu ha Tjangs | 02 | 08 |
10 | Odd Børre | Lena | 09 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 15.06.2021
Melodi Grand Prix 1971 >