Melo­di Grand Prix 1969: Kenn­wort Vorurteilsfrei

Die zehn­te Aus­ga­be des nor­we­gi­schen Euro­vi­si­ons­vor­ent­scheids sorg­te für eine wochen­lan­ge, erregt geführ­te öffent­li­che Debat­te hart an der Gren­ze zu einem Krieg der Kul­tu­ren. Sowie gar zu einer zeit­wei­li­gen Ver­schlech­te­rung des nor­we­gisch-däni­schen Ver­hält­nis­ses. Dabei gestal­te­te sich die etwas über ein­stün­di­ge Sen­dung für sich genom­men gar nicht so spek­ta­ku­lär, auch wenn der ver­ant­wort­li­che Sen­der NRK eine grund­le­gen­de Regel­än­de­rung vor­ge­nom­men hat­te: anstatt des bis­lang prak­ti­zier­ten Ver­fah­rens, jeden Bei­trag in zwei unter­schied­lich instru­men­tier­ten Fas­sun­gen mit ver­schie­de­nen Interpret:innen dar­zu­bie­ten, stell­te man dies­mal jedes Lied nur ein­mal vor. Dafür ver­dop­pel­te man das Feld: zusätz­lich zu den fünf von einer Jury aus den 418 Ein­sen­dun­gen eines offe­nen Kom­po­nis­ten­wett­be­werbs aus­ge­wähl­ten Vor­schlä­gen bat der NRK die bis­lang beim Melo­di Grand Prix erfolg­rei­chen Song­schrei­ber um ein Lied. Die ins­ge­samt zehn so gefun­de­nen Bei­trä­ge fie­len größ­ten­teils in die Kate­go­rie “okay”: sie erwie­sen weder als wirk­lich gut noch als bemer­kens­wert schlecht, son­dern lie­ßen sich wei­tes­ten­teils ohne all zu gro­ße Schmer­zen weghören.

Zuge­ge­ben: vor dem Blick der Punk­te­fee habe ich ein biss­chen Angst (das kom­plet­te MGP 1969).

Auch die visu­el­le Prä­sen­ta­ti­on neig­te zu schmuck­lo­ser Sach­lich­keit, wahr­te aller­dings die Kon­ven­tio­nen. Den­noch darf eine Num­mer aus die­sem Teil­neh­mer­feld in kei­nem ernst zu neh­men­den Rück­blick der lus­tigs­ten Vor­ent­schei­dungs­mo­men­te aller Epo­chen feh­len: das an zwei­ter Stel­le star­ten­de FM For­domsfri’ (‘Kenn­wort: Vor­ur­teils­frei’) der abso­lu­ten Legen­de Eli­sa­beth Gran­ne­man näm­lich! Die zum Zeit­punkt ihres vier­ten und letz­ten MGP-Auf­tritts erstaun­li­cher­wei­se erst 39jährige, in einem unbe­schreib­li­chen Groß­mutter­kleid und mit einer noch unbe­schreib­li­che­ren, weiß­blon­den Haar­helm-Perü­cke jedoch min­des­tens dop­pelt so alt aus­se­hen­de “sin­gen­de Haus­frau aus Lørens­kog” schweb­te trotz ihrer beacht­li­chen Lei­bes­fül­le ele­gant wie eine Gazel­le (oder wie das Tier mit dem Rüs­sel heißt) die Stu­dio­trep­pe her­un­ter und brach­te mit ado­rie­rens­wer­ter Selbst­si­cher­heit ihre gesun­ge­ne Kon­takt­an­zei­ge zum Vor­tra­ge. Und die bestand aus nicht weni­gen, teils erstaun­li­chen Anfor­de­run­gen: schlank müs­se er sein, wenn er ihr schrei­ben wol­le, so ließ Eli­sa­beth die Män­ner­welt wis­sen, und ein eige­nes Auto besit­zen. Aber klar, so ein hei­ßer Feger wie sie konn­te natür­lich Bedin­gun­gen stellen!

So prak­tisch: die bei­den Außen­wel­len leis­te­ten Eli­sa­beth Gran­ne­man beim Auf­set­zen ihrer Fri­sur wert­vol­le Dienste.

Wie vie­le Zuschrif­ten hin­ter­her in ihrem Post­fach ein­tru­del­ten, ist nicht bekannt. Von den auf zehn Städ­te ver­teil­ten 50 Juror:innen (knapp ein Drit­tel davon Frau­en) zeig­ten sich immer­hin fünf ange­tan und schenk­ten ihr, wenn schon nicht ihr Herz, dann doch einen Punkt. Ganz im Gegen­satz zur schwe­di­schen Euro­vi­si­ons­ver­tre­te­rin von 1961, Lill-Babs. Die hier fremd­sin­gen­de Schla­ge­ret­te muss­te mit lee­ren Taschen wie­der abrei­sen. Ein tat­säch­lich fai­res Ergeb­nis für ihren wir­ren Song über einen schum­meln­den Faxen­ma­cher, der aus tau­send halb­ga­ren, lieb­los zusam­men­ge­leim­ten Pop-Zita­ten bestand. Gleich­zei­tig bestä­tig­te der Titel ‘Juk­se­ma­ker Pipel­ort’ sehr ein­drucks­voll, dass Nor­we­gisch viel­leicht nicht die gla­mou­rö­ses­te Gesangs­spra­che ist. Ein biss­chen schwer tat sich auch die damals im Lan­de sehr popu­lä­re 22jährige Vigdis Mostad damit, die Sil­ben ihres Tex­tes in die Melo­di­fol­ge ihrer ele­gan­ten Bal­la­de ‘Fria­ren’ zu pres­sen. Vigdis blieb nicht mehr viel Zeit, ihren Erfolg zu genie­ßen: nur zwei Mona­te nach dem MGP stürz­te sie gemein­sam mit vier wei­te­ren Mit­glie­dern eines Tanz­or­ches­ters auf dem Weg zu einem Auf­tritt mit einem klein­mo­to­ri­gen Flug­zeug ab. Alle sechs Insas­sen inklu­si­ve des Pilo­ten starben.

Konn­te Lena Mey­er-Land­ruts Sie­ges­zug in Oslo 41 Jah­re spä­ter vor­her­se­hen: der ørre Bodd.

Odd Bør­re Søren­sen wag­te ein Jahr nach sei­nem 13. Platz beim ESC in Lon­don einen erneu­ten Anlauf und lan­de­te mit sei­nem wirk­lich run­den Pop­song ‘Lena’ auf dem zwei­ten Rang. Die dop­pel­te Punkt­zahl wie Odd konn­te, trotz zahl­lo­ser plom­ben­zie­hend schie­fer Töne von­sei­ten der Inter­pre­tin und der Blech­blä­ser­grup­pe des Orches­ters sowie eines sowohl von der Laut­stär­ke als auch den Har­mo­nien ziem­lich rup­pig agie­ren­den drei­köp­fi­gen Begleit­chors Kir­s­ti Spar­boe klar­ma­chen, die damit bereits ihre drit­te (aller­dings auch letz­te) Euro­vi­si­ons­teil­nah­me ein­tü­te­te. Was natür­lich vor allem dar­an lag, dass ihr der Ralph Sie­gel Nor­we­gens, Arne Ben­dik­sen, mit ‘Oj, oj, oj, så glad jeg skal bli’ (‘Ui ui ui, wie glück­lich ich sein wer­de’) einen nach­ge­ra­de unwi­der­steh­li­chen Gas­sen­hau­er kom­po­niert hat­te, der direkt mit dem Refrain eröff­ne­te und sich in sei­ner Repe­ti­ti­vi­tät rasend schnell und tief ins Gehirn fräs­te, ob man woll­te oder nicht. Hin­zu kam ein kom­plett sexis­ti­scher Schla­ger­text, der die bedin­gungs­lo­se Duld­sam­keit gegen­über der offen­si­ven Viel­wei­be­rei ihres Ange­him­mel­ten pro­pa­gier­te, wäh­rend die Prot­ago­nis­tin im stil­len Käm­mer­lein dar­auf hoff­te, die Kon­kur­renz eines schö­nen Tages durch rei­nes Abwar­ten für immer in die Flucht zu schlagen.

Eine Kako­pho­nie der schie­fer­ta­fel­schie­fen Töne: alle Betei­lig­ten lie­fer­ten sich einen uner­bitt­li­chen Wett­streit, wer am wei­tes­ten dane­ben lag. Der Trom­pe­ter gewann.

Die­ser nur schwer erträg­li­che lyri­sche Unfug und die ein wenig bei ‘Pup­pet on a String’ abge­schau­te, inde­zen­te Ein­gän­gig­keit der Musik brach­te nun die Anhänger:innen des anspruchs­vol­len Lied­guts auf die Pal­me. Der däni­sche Lite­ra­tur­pro­fes­sor und Dozent an der Hoch­schu­le von Oslo, Erling Niel­sen, gehör­te zu den erbit­ter­ten Geg­nern sol­cher gegen­auf­klä­re­ri­scher Schla­ger­nar­re­tei. Und er äußer­te sein Miss­fal­len in kla­ren Wor­ten. Im nor­we­gi­schen Fern­se­hen, in der Talk­show Her og nå, noch am glei­chen Abend. Und zwar in Anwe­sen­heit von Spar­boe und Ben­dik­sen, der sich gegen die sati­ri­sche Spit­ze, das “Oj oj oj” stel­le in dem Song qua­si noch den “Licht­blick” dar, mit dem Hin­weis zu ver­tei­di­gen such­te, er sei ja nicht Ibsen. Der Schlag­ab­tausch zwi­schen Hoch­kul­tur und Unter­hal­tung wur­de mit dem uner­bitt­li­chen Furor des letz­ten gro­ßen Gefechts der Mensch­heit aus­ge­tra­gen, denn nicht Weni­ge sahen damals im Schla­ger ernst­haft den unver­meid­li­chen Unter­gang des Abend­lan­des und for­der­ten, von sol­chen Ver­an­stal­tun­gen wie dem ESC abzu­las­sen. Die Debat­te fand ihre Fort­set­zung in den Kom­men­tar­spal­ten der Tages­zei­tun­gen sowie fünf Tage spä­ter in der Dis­kus­si­ons­sen­dung Åpen Post, erneut unter Betei­li­gung von Niel­sen, wo der Ton­fall dies­mal end­gül­tig ins Belei­di­gen­de abkippte.

Zeig­te sich befrem­dewt von der nor­we­gi­schen Debat­te: die Schwe­din Lill-Babs.

Wäh­rend bei­den Sen­dun­gen glüh­ten bei NRK die Tele­fon­dräh­te, nicht weni­ge Zuschauer:innen äußer­ten sich im höchs­ten Maße empört über den “unfreund­li­chen” und “häss­li­chen” Dänen, der sich gefäl­ligst “etwas schä­men” soll­te. Ganz beson­ders patrio­ti­sche Norweger:innen schwo­ren gar, nie wie­der Urlaub im Nach­bar­land machen zu wol­len. Eine Dro­hung, die sich in ähn­li­cher Form 1982 wie­der­ho­len soll­te, als die öster­rei­chi­sche Jury “unse­rer” strah­len­den Sie­ge­rin Nico­le nur einen Punkt gab. Das Volk zeig­te sich soli­da­risch mit Ben­dik­sen und Spar­boe, der inkri­mi­nier­te Schla­ger topp­te – erst­mals in der MGP-Geschich­te – wochen­lang die hei­mi­sche Hit­lis­te. Beim Song Con­test selbst behiel­ten indes lei­der die Schla­ger­has­ser der Jury die Ober­hand: ein lau­si­ges Pünkt­chen aus Schwe­den für Kir­s­ti, die hier­an der nicht min­der erhitzt geführ­ten Debat­te um die von Nor­we­gen betrie­be­nen Rob­ben­jagd die Schuld gab. 1970 setz­ten die Skandinavier:innen dann beim euro­päi­schen Wett­sin­gen aus. Ob aus Pro­test gegen den Wer­tungs­eklat mit vier Sieger:innen in Madrid, wie es offi­zi­ell hieß, oder um etwas Gras über die Sache wach­sen zu las­sen, bleibt der Spe­ku­la­ti­on anheim gestellt.

Das­sel­be Pro­blem wie in der ZDF-Hit­pa­ra­de: wohin jetzt bloß mit dem Blu­men­strauß? Kir­s­ti bei der (wesent­lich har­mo­ni­sche­ren) Siegerreprise.

Vor­ent­scheid NO 1969

Melo­di Grand Prix. Sams­tag, 1. März 1969, aus den NRK-Fern­seh­stu­di­os in Oslo. Zehn Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Jan­ka Polanyi.
#Inter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
01Vigdis MostadFria­ren0405
02Eli­sa­beth GrannemanF.M. For­domsfri0503
03Kir­s­ti SparboeOj, oj, oj så glad jeg skal bli1801
04Inge Lise AndersenEven­tyr0109
05Lill-BabsJuk­se­ma­ker pipelort0010
06Per Mül­lerSan­gen om den fly­gen­de Hollender0405
07Lil­lan AskelandLa meg sove0504
08Jan Høi­landOm du går på en Strand0207
09Stein Inge­b­rigt­senVid­du ha Tjangs0208
10Odd Bør­reLena0902

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 15.06.2021

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