Wie nicht selten in der belgischen Eurovisionsgeschichte, kann auch der vom wallonischen Sender RTBF organisierte belgische Grand-Prix-Vorentscheid 1970 als trauriges Beispiel für das maximale Missverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis gelten. Neun über ein knappes Vierteljahr verteilte Sendungen, langwierige Postkartenabstimmungen und gleich vier verschiedene Jurys brauchte es, bis der ungeeignetste Titel für den internationalen Wettbewerb ausgewählt war. Bereit Mitte Oktober 1969 ging die erste von insgesamt sechs immer dienstags im Abstand von 14 Tagen terminierten Vorrunden mit jeweils sechs Beiträgen über die Bühne, von denen der Spitzenreiter einer während der Sendung live vorgenommenen Auszählung unter hundert von RTBF handverlesenen Zuschauer:innen in eines der beiden Halbfinale weiterzog. Außerdem durfte das TV-Publikum per Postkartenzuschrift einen zweiten Titel ins Semi wählen. Auf der Strecke blieben in diesen Vorrunden unter anderem zwei Liedvorschläge der damals noch solo agierenden Schlagerette Nicole Josy, die erst 1973 mit ihrem Mann Hugo Sigal für die Flamen an den Start durfte.
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Die Playlist mit den vier Songs aus dem Finale in Auftrittsreihenfolge sowie den verfügbaren Vorrundentiteln.
In den beiden Semis stimmte dann neben der Zuschauer:innenjury auch eine ebenfalls hundertköpfige Jugendjury (!) ab, die beide jeweils einen Titel weiterwählen durften. Per Postkartenabstimmung konnten die Wallon:innen einen dritten Song retten. Nach Adam Riese kamen so wiederum sechs Titel für das Finale der Chansons Euro ’70 am 3. Februar zusammen. Allerdings hatten sowohl die 1984 im Alter von nur 35 Jahren verstorbene Andrée Simons als auch das Schlagerehepaar Serge und Christine Ghisoland jeweils gleich zwei Titel bis in die Endrunde durchgebracht. Getrieben von der nicht unberechtigten Befürchtung eines Stimmensplits zogen beide Acts jeweils einen Beitrag zurück, so dass schließlich nur vier Lieder ins Rennen gingen. Abstimmungsberechtigt waren hier – ganz ähnlich wie beim deutschen Auswahlverfahren der Jahre 2020 und fortfolgende – eine 600 Personen (!) starke Zuschauer:innenjury, die sich mehrheitlich für das mit scheppernden Soundeffekten angereicherte, lautmalerisch-flotte ‘Lai lai lai’ der Eheleute Ghisoland und die altertümliche Ballade ‘Quand on est amoureux’ des als Johnny Wittevrouw geborenen Schmalziers Johnny White entschied, sowie eine aus Abgesandten der elf restlichen Teilnehmernationen bestehende internationale Jury.
Die Nachwirkungen von Massiels ‘La La La’: die belgischen Cindy & Bert mit ihrem ersten, herrlich süffigen ESC-Versuch.
Die internationalen Profis straften das in der Publikumsabstimmung zweitplatzierte ‘Lai lai lai’ mit vollständiger Ignoranz und verbrecherischen null Punkten und manipulierten stattdessen den bei den Zuschauer:innen nur an dritter Stelle liegenden Jean Vallée (bürgerlich: Paul Goeders) mit seinem tödlich langweiligen ‘Viens l’oublier’ nach vorne. Bleibt eigentlich nur zu vermuten, dass sie auf diese Weise Konkurrenz für das eigene Land ausschalten wollten und daher für diesen absolut aussichtslosen Quark votierten. Diese Rechnung ging auf: Vallée landete in Amsterdam im hinteren Tabellendrittel. Beim Eurovision Song Contest 1978 sollte er mit dem absolut unfassbaren zweiten Platz für das noch schnarchnasigere ‘L’amour ça fait chanter la Vie’ ein deutlich besseres Ergebnis erzielen. 1999 wurde er vom belgischen Königshaus zum Ritter geschlagen. Er verstarb 2014. Für die rüde Missachtung durch die internationalen Jurys entschädigte der wallonische Sender die Ghisolands zwei Jahre später mit einer Direktnominierung. Beim ESC in Edinburgh scheiterten sie jedoch erneut an den Juror:innen, die ihnen den vorletzten Platz zuwiesen und so ihre letzten Hoffnungen auf eine Schlagerkarriere zunichte machten.
Zum Vergessen: der Herr Vallée.
Vorentscheid BE 1970
Finale belge du Grand Prix Eurovision. Dienstag, 7. Februar 1970. Vier Teilnehmer:innen. Moderation: Claude Delacroix.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Andrée Simons | La belle Époque | 376 | 03 |
02 | Serge + Christine Ghisoland | Lai lai lai | 270 | 04 |
03 | Johnny White | Quand on est amoureux | 524 | 02 |
04 | Jean Vallée | Viens l’oublier | 813 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 07.072021
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