Nach einem knappen Jahrzehnt hausinterner Auswahlen entschied sich das französische Fernsehen zu Beginn der neuen Dekade wieder zu einem öffentlichen Vorentscheid. Ob man es beim ORTF schlichtweg leid war, sich durch eine dreistellige Zahl von Vorschlägen zu quälen, muss dahingestellt bleiben. Die lediglich 16 Lieder jedenfalls, die sich in dem Musicolors getauften Auswahlverfahren 1970 zusammenfanden, mussten vier Viertelfinale und zwei Semis durchlaufen, in denen regionale Jurys jeweils drei beziehungsweise einen Beitrag eliminierten. Über die Teilnehmer:innen der Vorrunden gibt es abweichende Angaben: so sollen der französischen Wikipedia zufolge der ehemalige gallische Grand-Prix-Repräsentant Alain Barrière und die Jazzinterpretin Christine Legrand jeweils einen Titel im Rennen gehabt haben, die jedoch im (umfangreicheren) Listing der Seite Eurovision World nicht auftauchen. Letztere Quelle stimmt allerdings mit der hier präsentierten Playlist der sechzehn allesamt vor demselben Plastikrhombus inszenierten Viertelfinal-Auftritte überein, sodass man wohl von ihrer Richtigkeit ausgehen kann.
Alle Viertelfinallieder in der Auftrittsreihenfolge: die Musicolors-Playlist.
Ihr zufolge schrägte es trotz gleich zweier Eisen im Feuer die französische Sängerin Michèle Torr, die 1966 beim Grand Prix in und für Luxemburg an den Start gegangen war und dies 1977 erneut tun sollte, diesmal für die andere frankophile Beitragsabwurfstelle Monaco. Bis ins Semi schaffte es die ehemalige gallische Eurovisionsvertreterin Noëlle Cordier, gar bis ins Finale ihre Kollegin Isabelle Aubret. Die platinblonde Chanteuse, die bei ihrem Vorentscheidungsauftritt dasselbe babyblaue Nachthemd trug wie bereits bei ihrer letzten Grand-Prix-Partizipation in London, duettierte sich mit dem neben seiner musikalischen Laufbahn vor allem als Schauspieler und Synchronsprecher bekannt gewordenen Daniel Beretta, den sie während des Singens dermaßen anschmachtete, dass beinahe der Bildschirm von innen beschlug. Nutzte jedoch nichts: ihr saftlos-schwelgerisches ‘Olivier, Olivia’ zog den Kürzeren gegen den Komponisten von Isabelles 1968er ESC-Beitrag ‘La Source’, Guy Bonnet. Der kleinwüchsige Guy suggerierte mithilfe einer speihässlichen Nana-Mouskouri-Brille und eines eigenbeklimperten Klaviers wohl eine (nicht vorhandene) musikalische Tiefe und sprach somit die konservativen Teile der Jury an, die seiner selbst geschriebenen Ödnisballade ‘Marie-Blanche’, in welcher er selbige Dame zu seinem Besitz erklärte, den Weg nach Amsterdam ebneten.
Bizarr: die Deutsche Julie Bergen besang beim französischen Vorentscheid das saarländische Kuhkaff ‘Menningen’.
Was um so mehr schmerzt, da sich unter den 15 Konkurrenztiteln genügend Alternativen befanden. Selbst wenn die wenigen uptemporären Beiträge wie beispielsweise die flotte Hommage ‘Monsieur Jules Verne’ von Jean Claude Allora (der merkwürdigerweise bis heute bei jedem San-Remo-Festival perpetuelle Erwähnung findet), das geigenschwangere ‘L’Amour est la’ des optisch wie eine Kreuzung aus Elton John und Séverine wirkenden Jérémy London oder der Beatschlager ‘Bye bye petit Julie’ des Herrentrios The Sunshines keinen allzu nachhaltigen Eindruck hinterließen, wären sie dem todlangweiligen Siegersong, einem meiner persönlichen Allzeit-Hasstitel, allesamt vorzuziehen gewesen. Im Sinne der Völkerverständigung der ehemaligen Erzfeinde trat wohl die im Norddeutschen geborene, stimmlich ein bisschen an Mary Roos und Alexandra erinnernde Julie Bergen an, deren typisch französische Dreiecksgeschichte in ‘Menningen’ spielte. Das existiert zum einen in der Eifel, zum zweiten im Badischen und zum dritten in der ehemaligen DDR. Gemeint war aber wohl das 600-Seelen-Dörfchen im Saarland, das laut eigener Bevölkerungsstatistik im Jahre 1778 noch aus “neun Ackerleuten, 15 Tagelöhnern und 15 Bettlern” bestand. Frau Bergen flog zwar im Viertelfinale raus, ging aber anschließend mit dem seinerzeit oft beim San-Remo-Festival präsenten Antoine auf Frankreichtour. Heute lebt sie in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main.
Optisch wie akustisch von der ersten bis zur letzten Sekunde eine einzige unerträgliche Qual: der Siegersong ‘Marie Blanche’.
Vorentscheid FR 1970
Musicolors. Samstag, 21. Februar 1970, aus dem Maison de la Radio Studio in Paris. Zwei Teilnehmer:innen. Moderation: Dany Danielle & Sylvain Deschamps.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Guy Bonnet | Marie-Blanche | n.b. | 1 |
02 | Isabelle Aubret + Daniel Béretta | Olivier, Olivia | n.b. | 2 |
Letzte Aktualisierung: 09.07.2021
< Französischer Vorentscheid 1969
Französischer Vorentscheid 1971 >