
Eine Veranstaltung wie ein Drogenrausch: kurz, bunt und poppig präsentierte sich Ein Lied für Amsterdam, der deutsche Vorentscheid im Jahre 1970. Der Kontrast zur viel belächelten 1969er Kleintierzüchtervereinsvorstandssitzung, ebenso wie diese Show vom Hessischen Rundfunk produziert, hätte nicht krasser ausfallen können. Niemals zuvor und nie wieder danach atmete eine deutsche Eurovisionsvorentscheidung derart intensiv den Duft der großen weiten Welt. Beziehungsweise, präziser gesagt: den Metropolenflair Londons. Von dort her flog der hr die aus der britischen Chartshow Top of the Pops bekannte Tanzformation Pan’s People ein, die in den Wertungspausen anstelle des preußisch-zackigen Ehepaars Trautz das Publikum im Sendestudio (und vor den Bildschirmen) unterhalten sollte. Und wie sie das taten! In knalligen Komplementärfarben aufreizend knapp gekleidet, wirbelten sie zu den Klängen der Beatles (was sich mittlerweile zum Problem ausgewachsen hat, weil die aktuellen Rechte-Inhaber deswegen ständig die Youtubevideos sperren lassen. Elende Arschgeigen!) bzw. des ‘Clapping Song’ derart wild auf der Bühne herum, dass sich die Zuschauer:innen vor lauter Farben und Bewegung auf einem LSD-Trip (oder zumindest im Afri-Cola-Rausch) wähnen mussten.
Im Spätsommer der Liebe: Pan’s People, die tanzende Dessousabteilung.
Augenscheinlich hatten die Leute des Pan dazu noch gleich das Frankfurter Sendestudio eingerichtet, denn bunt und psychedelisch wirkten auch die Projektionen auf der Videoleinwand, vor der die Interpret:innen dieser Vorentscheidung ihre Beiträge zum Besten gaben. Selbst die sechs Titel, wenngleich textlich allesamt eher banale Liebesschlager, wirkten doch durch ihren musikalischen Vortrag sowie nicht zuletzt durch die tatkräftige Hilfe des begleitenden Günter-Kallmann-Chores, der so spacig gestimmt klang wie eben frisch von der Raumpatrouille eingeschwebt, geradezu revolutionär modern. Bereits die Eröffnungssequenz, eine verjazzte (und somit beinahe erträgliche) Instrumental-Interpretation des letztjährigen deutschen Beitrags ‘Primaballerina’ wies die Richtung. Die seit frühesten Kindheitstagen singende Hotelierstochter Mary Roos (bürgerlich: Rosemarie Schwab), die nur wenige Wochen später mit dem von Giorgio Moroder komponierten ‘Arizona Man’, dem ersten deutschsprachigen Hit mit Synthesizer-Einsatz, ihren endgültigen Karrieredurchbruch schaffte und sich als Königin des deutschen Schlagers etablierte, startete das Feld mit beiläufiger Grandezza. In einen riesigen, handgehäkelten, FDP-farbenen Topflappen gewandet, mit gestufter Kurzhaarfrisur und Orion-Eyeliner sah sie nicht nur extrem stylish aus, sondern interpretierte ihr fabelhaftes ‘Bei jedem Kuss’ zudem mit adorabler Coolness. Nichts spießig Dumpfes haftete diesem Auftritt mehr an, wie es in den Vorentscheiden der Sechziger noch üblich war: hier begann eine neue deutsche Eurovisionsära!
Der swingende Topflappen: Mary Roos mit einer ihrer anbetungswürdig lässigen Performances, für die wir sie so sehr lieben (plus Playlist mit allen ELF-Auftritten).
Dabei sollte ursprünglich die als Marika Késmárky in Budapest geborene und 1969 nach Deutschland übergesiedelte Edina Pop die Nummer vortragen. Sie fiel jedoch kurzfristig krankheitsbedingt aus. Mary sprang ein, was erklärt, warum sie diese funkelnd strahlende Vorentscheidungsperle leider, leider, leider nie auf Tonträger aufnahm. Frau Pop, die noch im gleichen Jahr mit der Eindeutschung des britischen Eurovisionsbeitrags ‘Knock knock, who’s there’ (bei Edina: ‘Komm, komm zu mir’) ihren ersten von gerade mal zwei Top-40-Hits feiern konnte, versuchte es 1972 im genesenen Zustand vergeblich beim Vorentscheid. 1979 hingegen obsiegte sie, dann als Teil des von Ralph Siegel kompilierten Retortensextetts Dschinghis Khan, beim Lied für Jerusalem. Dort sollte sie erneut auf Roberto Blanco treffen, den aus dem deutschen Schlagerwesen nicht wegzudenkenden “wunderbaren Neger”, wie ihn der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in der TV-Quasselbude Hart aber Fair einmal nannte und daran nichts rassistisches finden wollte. Roberto, der im Vorjahr mit dem schwungvollen ‘Heute so, morgen so’ den Sieg beim Deutschen Schlager-Wettbewerb 1969 errungen hatte, besang hier in seinem fast nur aus Refrain bestehenden Schlager eurovisionstypisch die Liebe in den verschiedensten Sprachen des Kontinents und wirkte dabei gar nicht so sehr wie der spätere Oktoberfest-Bierzeltstimmungssänger, sondern geradezu jetsetmäßig international.
Auf dem Kurfürstendamm sagt man “ohne Gummi fuffzig, mit dreißig”.
Die norwegische Dreifach-Grand-Prix-Repräsentantin Kirsti Sparboe, die im Vorjahr mit dem fröhlichen ‘Ein Student aus Uppsala’ einen europaweiten Top-Hit landen konnte, erschien ebenfalls im quietschgelben Topflappen und gab einen von Drafi Deutscher erdichteten, schlimmen Schunkelschlager mit verklärender Romantik über das sorgenfreie Leben der ach so glücklichen Berber von Paris zum Besten. Da hatte Drafi beim Texten wohl dem französischen Landrotwein Marke “Pennerglück” etwas zu sehr zugesprochen… Nach so viel Internationalität mutete das 2007 verstorbene Schlagerfossil Peter Beil mit seinem drögen Anforderungskatalog an mögliche Gespielinnen, nämlich ‘Rote Augen, braune Lippen und kastanienblaues Haar’ (oder so ähnlich), doch ein wenig provinziell an. In dem zeitsprunghaft modernen Umfeld des diesjährigen Vorentscheids fühlte er sich wohl dergestalt verunsichert, dass er sich während des gesamten Vortrags ängstlich am Mikrofonkabel festklammerte und seinen Auftritt ziemlich vergeigte. Konsequenterweise erhielt er keinen einzigen Punkt. Auch Beil war kurzfristig eingesprungen, nachdem der ursprünglich vorgesehene, in Frankreich als Sohn eines tschechischen Arztes und einer spanischen Krankenschwester geborene Schauspieler, Sänger und – wie sich später herausstellen sollte – kommunistische Geheimdienstmitarbeiter Josef Laufer seine Teilnahme wieder stornierte.
Auch Beil kam mit der Farbauflistung das ein oder andere Mal durcheinander. Oder haben Sie schon mal eine rote Kastanie gesehen?
Kein Vorentscheid ohne Skandälchen: rund um das Lied für Amsterdam kam es zu einem öffentlichen Eklat zwischen der ARD und dem Schlagerstar Manuela. Die als Doris Wegener im Berliner Wedding geborene, mehrfache Bravo-Otto-Gewinnerin hatte 1963 mit dem Millionenseller ‘Schuld war nur der Bossa Nova’ eine jener zeitgeisttypisch mit nachgestelltem amerikanischen Akzent aufgenommenen Eindeutschungen abgeliefert, deren Popularität hierzulande das englischsprachige Original um Längen schlug. Und das, obwohl (oder weil) der Bayerische Rundfunk damals Manuelas Version auf den Index setzte, weil ihr Text andeutete, dass sie sich – als ledige Frau! – über Nacht außerhalb des elterlichen Haushaltes bei einem Mann aufgehalten hatte. Ein Sittenskandal, der in ihrem 1969er Hit ‘Helicopter US Navy 66’ wiederkehrte, in welchem ein Besatzungssoldat sie aus selbstverschuldeter Seenot rettete und von ihr dafür “mit einem Kuss belohnt” wurde. Ob es daran lag, dass Manuelas Bewerbung um die Teilnahme am Vorentscheid 1970 an der gestrengen hr-Auswahljury scheiterte? Und das, obwohl sie es doch “als einzige deutsche Sängerin nach Caterina Valente geschafft hat, im amerikanischen Fernsehen Fuß zu fassen,” wie sie der Presse empört zu Protokoll gab! Als Racheakt nahm sie im Anschluss an den ESC eine schauderhafte Coverversion des Siegerliedes ‘All Kinds of Everything’ auf, mit welcher ihr sogar ein Top-30-Hit und eine Spitzenposition in der ZDF-Hitparade gelingen sollte.
Sogar als “Bildplatte”, also als Tonträger mit Videoclip, erschien Manuelas absolut furchtbare deutsche Einspielung des internationalen Siegertitels.
Doch zurück zum offiziellen Programm: die hinreißende, sensationelle, fantastische Katja Ebstein (bürgerlich: Karin Ilse Witkiewicz), statusmäßig zu diesem Zeitpunkt strenggenommen noch eine hoffnungsvolle Nachwuchskraft, ließ bereits bei ihrem ersten Auftritt erkennen, dass nur sie die Königin des Abends sein könne. Nicht eine Sekunde biederte sie sich beim Publikum an, hatte lediglich die vage Andeutung eines huldvollen Lächelns übrig: sie wusste sehr genau, dass niemand sie vom Material her schlagen konnte, dass sie über einen Jahrhundertsong verfügte. ‘Wunder gibt es immer wieder’, die Referenzklasse des deutschen Tröstungsschlagers, erhielt durch ihren stimmlich dramatischen wie bedeutungsschwer melancholischen Vortrag einen Tiefgang, der nochmals deutlich über den eigentlichen Text hinausging. Welcher im Gegensatz zu den vergleichsweise weinerlichen Paradies-wo-bist-Du-Schlagern der Sechziger die subtile Aufforderung zum aktiven Zupacken (“…musst Du sie auch sehn”) enthielt. Und damit sagte: nimm Dein Leben selbst in die Hand, Du bist Deines Glückes Schmied! Das war neu im deutschen Schlager, der bis dato eher eine Art von schicksalsergebener Duldungsstarre propagierte. Musikalisch fand sich das spannungsgeladene Lied ohnehin Äonen vom üblichen Schlagereinerlei entfernt, in einer völlig anderen Galaxie.
Plunder gibt es immer wieder / wenn er dir begegnet / musst du ihn erstehn: Katja Ebstein gibt Tipps für den Bäckereibesuch.
Auch Reiner Schöne, ein in Weimar aufgewachsener Schauspieler und Liedermacher, der 1968 aus der DDR rübermachte und in der Bundesrepublik Hauptrollen in aktuellen Musicals wie ‘Hair’ und ‘Jesus Christ Superstar’ sowie später in zahllosen Serien- und Filmproduktionen ergatterte, legte einen beachtlichen Auftritt hin. Selbst wenn er, wie schon weiland Cliff Richard, dabei gelegentlich den Eindruck erweckte, unter Diarrhö zu leiden, so geduckt, wie er dastand. Mit hippiesk langem Haupt- sowie schamlos freigelegtem Brusthaar sah er ein bisschen aus wie der friesische Blödelbarde Otto Waalkes auf Testosteron. Nur, dass Schöne deutlich besser singen konnte. Sein Beitrag ‘Allein unter Millionen’ beschäftigte sich im Grunde mit demselben Thema, mit dem zwei Jahre zuvor Karel Gott für Österreich beim Londoner Contest baden ging: die Einsamkeit in der Großstadt. Wirkte Karels Schlager jedoch verzagt, so zeichnete sich Schönes optimistisch gestimmtes, kompetent vorgetragenes Angebot als eines aus, das Mut macht (“…und das Glück wird mich belohnen”) und, wie Katjas Lied, die Zuhörer:innen auffordert, sich das pralle Leben mit beiden Händen fest zu greifen. Auch ihm wäre, ebenso wie Mary Roos, ein Sieg durchaus zu gönnen gewesen.
Ich bin kein Hampelmann: der Reiner findet seine Schöne auch inmitten von Millionen.
Die Wertung teilte sich in zwei Phasen auf: sieben Jurymitglieder durften zunächst jeweils drei Beiträgen ihrer Wahl je einen Punkt geben; die drei bestplatzierten Titel kamen eine Runde weiter. Wobei die an die letztjährige Szenerie angelehnte Präsentation der Stimmenauswertung zwei revolutionäre gesellschaftliche Fortschritte beinahe verdeckte: zum ersten hatte man die Lobbyisten der Branchenverbände ausgeladen und durch Fachkundige aus dem Unterhaltungsbereich der ARD ersetzt. Und zum anderen durften erstmalig auch zwei Frauen für alle sichtbar mitbestimmen. Man muss wohl froh sein, dass es damals noch kein Internet gab: die Wutkommentare sich in ihrem Alleinvertretungsanspruch bedroht fühlender Männer wären vermutlich kaum auszuhalten gewesen! Die langatmigen Erklärungen des deutschen Grand-Prix-Verantwortlichen Hans-Otto Grünefeldt, man suche etwas Vorzeigbares für das internationale Parkett (ach, wie sehr wünschte man sich, die heutige NDR-Auswahljury zeigte sich vom selben Ziel beseelt, anstatt ängstlich darauf zu schielen, was auf heimischen Mainstream-Radiowellen laufen könnte), verfehlten ihre Wirkung nicht: tatsächlich flogen die drei eher klassischen Schlager von Blanco, Sparboe und Beil raus und die drei musikalisch wie inhaltlich anspruchsvolleren Beiträge der Roos, der Ebstein und des Schöne kamen ins Finale.
Noch fabelhafter im Mini mit silbernen Stiefeln: Modekönigin Katja Ebstein in Amsterdam!
Wobei der Sieg von Katja Ebstein, die sieben von sieben möglichen Punkten erhielt, bereits zu diesem Zeitpunkt feststand. Trotzdem mussten alle drei ihre Songs in der Endrunde nochmals präsentieren. Und zwar, da wollte man sich seitens des Hessischen Rundfunks wohl Aufwand ersparen, mit exakt der gleichen Dramaturgie und denselben Kameraeinstellungen wie schon im ersten Durchlauf. Was die Show nicht gerade abwechslungsreicher machte. In der zweiten Wertungsrunde gingen Herr Schöne und Frau Roos dann fieser Weise völlig leer aus, was sämtliche Chancen auf eine kommerzielle Verwertung ihrer tollen Songs komplett zunichte machte, und Frau Ebstein durfte ihren Schlager ein drittes Mal an diesem Abend singen. Die Moderatorin Marie-Louise Steinbauer, der man diesmal erlaubt hatte, ihren Job zu machen und etwas lockerer zu plaudern als noch im letzten Jahr, freute sich aufrichtig, auch wenn sie das komplett lethargische, hauptsächlich aus Pressemenschen bestehende Studiopublikum zum Siegesapplaus erst gesondert auffordern musste. Mit einer Chorinterpretation von ‘Boom Bang A Bang’ ging der unter sechzigminütige Farben- und Klangrausch schließlich zu Ende.
Alles neu: beim deutschen Vorentscheid 1970 (komplette Show) wehte der Zeitgeist kräftig durch das hr-Studio. Dass wir den ersten Pausenfüllerauftritt der Pan’s People ohne Musik genießen dürfen, verdanken wir ein paar elenden Rechteverwertungswichsern.
Vorentscheid DE 1970
Ein Lied für Amsterdam, Samstag, 16. Februar 1970, aus dem Sendestudio des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Sechs Teilnehmer, Moderation: Marie-Luise Steinbauer. Siebenköpfige Jury.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Mary Roos | Bei jedem Kuss | 05 | 02 | - |
02 | Roberto Blanco | Auf dem Kurfürstendamm sagt man “Liebe” | 01 | 05 | - |
03 | Kirsti Sparboe | Pierre, der Clochard | 03 | 04 | - |
04 | Peter Beil | Blaue Augen, rote Lippen und kastanienbraunes Haar | 00 | 06 | - |
05 | Katja Ebstein | Wunder gibt es immer wieder | 07 | 01 | 16 |
06 | Rainer Schöne | Allein unter Millionen | 05 | 02 | - |

Letzte Aktualisierung: 05.11.2022
Na, so toll war die Mary meiner Meinung nicht… Sie hätte sich im Finale mit der Monegassin irgendwo platzgleich hinten wiedergefunden .…