Nachdem die Rai bereits seit 1967 nicht mehr den eigentlichen Gewinnertitel des ligurischen Liederfestivals von San Remo zum Eurovision Song Contest entsandte, aber zumindest noch eine:n der beiden siegreichen Interpret:innen (mit jeweils einem neuen Song), markierte dieser Jahrgang die vollständige Abkoppelung des italienischen Grand-Prix-Beitrags vom einst als Blaupause für den europäischen Wettbewerb dienenden und seit 1956 als nationaler Vorentscheid fungierenden Festival della Canzone Italiano. Das zeigte sich diesmal ohnehin deutlich provinzieller als früher: gaben sich in der goldenen San-Remo-Ära der Sechziger Jahre in dem Küstenstädtchen noch weltweite Top-Stars wie Cher, Paul Anka oder Stevie Wonder das Mikrofon in die Hand und brachten so den Duft der großen weiten Welt an die norditalienische Riviera, so schmorte man diesmal komplett im eigenen Saft: auf fortgesetzten Druck der heimischen Sänger:innenlobby machten die Veranstalter die Grenzen dicht und ließen fast ausschließlich altbekannte heimische Interpret:innen zu. Die ehemalige britische Eurovisionssiegerin Sandie Shaw blieb die einzige teilnehmende Künstlerin ohne italienische Wurzeln. Sie scheiterte allerdings bereits im Semifinale mit einem Titel von Pino Donaggio.
Soweit ich das beurteilen kann, mit einem beeindruckend akzentfreien Italienisch, aber leider keiner allzu beeindruckenden Gesangsleistung: Sandie Shaw, die einzige “Ausländerin” beim San-Remo-Festival 1970.
Diese kulturelle Nationaltümelei sorgte indes dafür, dass dieser San-Remo-Jahrgang im Gegensatz zu früheren Ausgaben keinen einzigen internationalen Hit abwarf. Dazu erwies sich das musikalische Feld allerdings auch als deutlich zu schwach, bis auf das nervös-uptemporäre ‘Taxi’ von Anna Identici und das leidenschaftlich-dramatische, von mehreren Tempowechseln gekennzeichnete und von der herben Stimme der grandiosen Patty Pravo lebende ‘La Spada nel Cuore’ (‘Das Schwert im Herzen’) blieb nichts in irgendeiner Form hängen. Selbst das vom simplen Titel her verlockend klingende ‘Tipitipitì’ der italienischer Schlagerlegende Orietta Berti ging zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, während es zwar wie immer ein unbeschreibliches optisches Vergnügen war, der sensationellen Ornella Vanoni bei der Arbeit zuzuschauen, ihr Canzone sich aber leider nicht für die ‘Eternità’ bestimmt zeigte. Der alte Haudegen Adriano Celentano räumte gemeinsam mit seiner Angetrauten Claudia Mori und dem Titel ‘Chi non lavora non fa l’amore’ (sinngemäß: ‘Ohne Arbeit keinen Sex’) bei den Jurys ab. Und das, obwohl er während des Semifinalauftrittes mehrfach scherzhaft so tat, als habe er seinen Text vergessen.
Die Playlist: alle 14 Finaltitel in Auftrittsreihenfolge, in beiden Versionen. Plus wenige handverlesene Lieder aus den Qualifikationsrunden.
Einen heimischen Nummer-Eins-Hit konnte der für solche Albereien bekannte Celentano ebenfalls erzielen, und da seine internationale Karriere als Sänger und Schauspieler zu diesem Zeitpunkt auch so schon wie geschmiert lief, sah er in einer Teilnahme an dem wegen des Wertungsfiaskos vom Madrid gerade heftig umstrittenen Eurovision Song Contest vermutlich mehr Risiken als Chancen für sich. Ob er deswegen absagte oder ob eine Entsendung des San-Remo-Siegers nach Amsterdam von vorneherein nicht auf der Rechnung stand, entzieht sich indes meiner Kenntnis. Eine Verbindung zwischen dem Festival und dem italienischen Grand-Prix-Beitrag lässt sich zwar dennoch herleiten: auf dem zweiten Rang in der Jurywertung landete die von Nicola di Bari anlässlich der Geburt seiner Tochter geschriebene Ballade ‘La Prima cosa Bella’, vorgetragen vom Cantautori selbst sowie von der noch relativ neuen Gesangsgruppe Ricchi e Poveri, die damit ihren ersten heimischen Hit landete, dem in den nächsten zwei Dekaden noch zahlreiche weitere folgen sollten. Das Quartett kam als Last-Minute-Ersatz für den Schauspieler und Schlagersänger Gianni Morandi zum Zuge, der den Titel eigentlich in der Zweitbesetzung interpretieren sollte, der aber – wie schon im Jahr zuvor – kurzfristig absagte.
Anfang der Siebziger war der Abstand zwischen Reichen und Armen noch nicht so massiv wie heute: Ricchi e Poveri mit dem zweitplatzierten San-Remo-Lied.
Vorentscheid* IT 1970
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 28. Februar 1970, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 28 Teilnehmer:innen. Moderation: Nuccio Costa, Enrico Salerno und Ira von Fürstenberg.* Für den ESC ausgewählt wurde im Anschluss Gianni Morandi, der seine geplante San-Remo-Teilnahme kurzfristig storniert hatte.
# | Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|---|
01 | Marisa Sannia | Gianni Nazzaro | L’amore è una Colomba | 041 | 11 | – | – |
02 | Sergio Endrigo | Iva Zanicchi | L’Arca di Noè | 296 | 03 | 03 | 12 |
03 | Tony Renis | Sergio Leonardi | Canzone blu | 028 | 13 | 25 | – |
04 | Luciano Tajoli | Mal | Sole, Pioggia e Vento | 044 | 10 | – | 09 |
05 | Little Tony | Patty Pravo | La Spada nel Cuore | 133 | 05 | 06 | 16 |
06 | Caterina Caselli | Nino Ferrer | Re di Cuori | 024 | 14 | 24 | – |
07 | Ornella Vanoni | Camaleonti | Eternità | 235 | 04 | 13 | 02 |
08 | Orietta Berti | Mario Tessuto | Tipitipitì | 052 | 08 | 08 | – |
09 | Nicola di Bari | Ricchi e Poveri | La Prima cose Bella | 309 | 02 | 01 | 08 |
10 | Anna Identici | Antoine | Taxi | 052 | 08 | – | 07 |
11 | Fausto Leali | Carmen Villani | Hippy | 037 | 12 | 21 | – |
12 | Gigliola Cinquetti | Bobby Solo | Romantico Blues | 096 | 06 | 14 | 22 |
13 | Nada | Rosalino Cellamare | Pa’ diglielo a ma’ | 070 | 07 | 12 | – |
14 | Adriano Celentano | Claudia Mori | Chi non lavora non fa l’Amore | 344 | 01 | 01 | – |
Mussten höllisch achtgeben, nicht vom Boom-Mikro erschlagen zu werden: die sechs Finalist:innen des Canzonissima 1969/1970 (Playlist in Reihenfolge der Platzierung).
Es erscheint nun auf den ersten Blick befremdlich, dass die Rai ihn für seine Wankelmütigkeit auch noch belohnte, in dem sie ausgerechnet ihn zum europäischen Wettsingen delegierte. Allerdings hatte der schmucke Morandi bereits im Januar 1970 den ebenfalls vom italienischen Staatssender veranstalteten Wettbewerb Canzonissima gewonnen, ein zwischen 1956 und 1974 laufendes Liederfestival für bereits fest etablierte Stars, welches sich jeweils vom Spätherbst bis kurz über den Jahreswechsel schob und welches die Rai auch in den Folgejahren noch öfters zur Rekrutierung ihrer Eurovisionsrepräsentant:innen nutzen sollte. Seinen dortigen Siegersong ‘Ma chi se ne importa’ hatte er natürlich längst veröffentlicht, so dass dieser nach den damaligen Regeln für den ESC nicht mehr in Frage kam. Und so trat er in Amsterdam stattdessen mit dem vom großen Lucio Dalla komponierten ‘Occhi di Ragazza’ an, einer süffig-melancholischen Schlagerballade über die hypnotische Kraft der Augen seines Gspusis, die um Klassen besser klang als alles, was sich 1970 in San Remo versammelt hatte, und die er in den Niederlanden mit sehr viel Charme und Aplomb vortrug. Erstaunlicherweise konnte er nur wenige – darunter zwei deutsche – Juror:innen von sich überzeugen und landete abgeschlagen im letzten Tabellendrittel. Bei so viel europäischer Ignoranz nimmt es natürlich wenig Wunder, dass die Liebe der Italiener:innen zum Grand Prix sich empfindlich abkühlte. Da hätte es von beiden Seiten mehr Arbeit gebraucht.
Da ist es wieder, das alte Problem vieler männlicher Interpreten: wohin bloß mit den Händen?
Vorentscheid* IT 1970
Canzonissima. Dienstag, 6. Januar 1970, aus dem Teatro delle Vittorie in Rom. Sechs Teilnehmer:innen. Moderation: Johnny Dorelli, Alice & Ellen Kessler, Raimondo Vianello.*Die Rai entsandte den Sieger, Gianni Morandi, mit einem anderen Song zum ESC 1970.
Interpreten | Songtitel | Jury | Postkarten | Platz | |
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01 | Orietta Berti | Una Bambola blu | 049 | 399.724 | 05 |
02 | Gianni Morandi | Ma chi se ne importa | 117 | 1.008.009 | 01 |
03 | Massimo Ranieri | Se bruciasse la Città | 116 | 502.366 | 03 |
04 | Al Bano | Mezzanotta d’Amore | 033 | 238.992 | 06 |
05 | Domenico Modugno | Come hai fatto | 102 | 418.990 | 04 |
06 | Claudio Villa | Il Sole del Mattino | 083 | 768.496 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 10.08.2021