
Ein neues Jahrzehnt, ein neuer Aufbruch. Das bekam das Publikum schon bei der deutschen Vorentscheidung zu spüren, die sowohl inhaltlich und optisch als auch musikalisch einer kleinen Revolution gleichkam. Revolutionär auch unsere Vertreterin in Amsterdam, Katja Ebstein. Aus der Liedermacherszene kommend und beseelt von sozialkritisch-aufklärerischer Attitüde, sang die spätere SPD-Wahlkämpferin und Heinrich-Heine-Rezitatorin einen von ihrem damaligen Ehemann Christian Bruhn geschriebenen Tröstungsschlager namens ‘Wunder gibt es immer wieder’. Ein unvergesslicher Evergreen, weil er sich musikalisch wie textlich sehr deutlich von der bisher üblichen, biederen Schlager-Standardware unterschied. Ein gewaltiges, spannungsgeladenes Intro mit einer Blue Note als Hinhörer; der gedehnte und damit dramatisch wirkende Gesang der Ebstein; ein Liedtext, der zu einem bewussten Leben und zum aktiven Selbstgestalten des eigenen Schicksals auffordert; sowie ein furioses Finale machten das Lied zu einem Meilenstein der Contestgeschichte und einem der besten Popsongs überhaupt.
Katja in Eisvogel-Blau (DE).
Und, wie um den Songtitel zu bestätigen, erzielte die Ebstein in Amsterdam mit Rang 3 das bis dahin beste deutsche Eurovisions-Ergebnis. In ihrem sensationellen, spacigen Outfit mit schickem Mini, silbernen Astronautenstiefeln und lichtblauem Maximantel – niemand in der über sechzigjährigen Contestgeschichte konnte unsere Katja jemals modisch toppen – erreichte sie erstmals für Deutschland eine Medaillenposition beim europäischen Gesangswettstreit. Dafür hatten sie ihre Landsleute so lieb, dass die ARD sie für das kommende Jahr gleich fest buchte – eine Vorgehensweise, die sich exakt vier Dekaden später mit einer gewissen Lena Meyer-Landrut wiederholen sollte. Die 1970er Siegestrophäe indes ging an die gerade achtzehnjährige Irin Dana (geborene Rosemary Brown) und ihr ‘All kinds of everything’, einen weiteren Eurovisionsevergreen, wenn auch keiner der von mir goutierten Sorte. Sie gab sich ganz als die naïve, natürliche Unschuld vom Lande, wie Jahre später eine gewisse Nicole auf einem Hocker sitzend (allerdings ohne Lagerfeuergitarre) und mit enervierend hoher Kinderstimme wolkig-harmlose Allgemeinplätze über die Liebe intonierend.
Die irische Andrea Jürgens: Dana National.
Das war alles sehr geschickt auf heile Welt und Kindchenschema produziert. Was vor Ort auch darin Ausdruck fand, dass Danas mit angereiste Eltern ihren Augapfel im verderbten holländischen Sündenpfuhl Amsterdam nicht eine Sekunde unbeobachtet ließen. Kein Wunder, dass die kleine Dana im Gegensatz zu Katja später einen politisch stramm konservativen Kurs einschlug: nach einer Karriere als Fernsehpredigerin in den USA kandidierte sie Ende der Neunziger (und erneut in 2011) für den Posten der irischen Präsidentin, allerdings ohne Erfolg. Von 1999 bis 2004 saß sie im Europaparlament, wo sie sich vor allem als fundamentalistisch strenge Abtreibungsgegnerin hervortat – eine Position, die sie mit Katja Ebsteins enger Freundin und Grand-Prix-Kollegin Inge Brück teilt. Die irische Delegation hatte, wie der Buchautor Gordon Roxburgh in seiner Fibel Songs for Europe beschreibt, nicht damit gerechnet, dass Dana gewinnen könnte, so dass die anschließende Siegesfeier im Hotelzimmer stattfinden musste. Dort kam es im Verlaufe der Nacht zu einem Raufhandel, als zwei angetrunkene irische Arbeiter, die gerade in Amsterdam weilten, anklopften und Dana persönlich gratulieren wollten, man sie aber abwies. Im Laufe der Auseinandersetzung sollen mehrere Scheiben zu Bruch gegangen sein.
Herein, wenn’s kein Wogan ist: Mary Hopkin (UK) öffnete die Türe weit.
Vergeblich einen Ballsaal gebucht hatte stattdessen die britische Delegation, zumal ihr Beitrag im Vorfeld bei den Buchmachern führte. Nun gehört das letztendlich zweitplatzierte Stück ‘Knock knock, who’s there’ der von den Beatles entdeckten und von ihrem Schallplattenlabel Apple (nein, keine Division des heutigen Herstellers von schick designten, massiv überteuerten Mobiltelefonen) gesignten Britin Mary Hopkin ebenfalls zu der Fraktion der Eurovisionslieder, die man sofort erkennt. Dem Titel gerecht werdend, arbeitete es mit den seinerzeit im englischen Pop sehr beliebten Klopfmotiven und erwies sich als eher einfach strukturiert, war an diesem Grand-Prix-Abend nach sechs vorausgegangenen, hauptsächlich frankophilen Langeweileliedern jedoch hochwillkommen, was sich auch am frenetischen Saalapplaus bemerkbar machte. Die Interpretin selbst mochte den Titel, den ihr das heimische TV-Publikum unter sechs möglichen Alternativen in einem Song-Vorentscheid ausgesucht hatte, weil es am deutlichsten der Humptata-Siegesformel von ‘Puppet on a String’ entsprach, hingegen überhaupt nicht. Roxburgh zitiert sie mit den Worten: “Es war mir so peinlich. Es ist furchtbar, auf der Bühne zu stehen und ein Lied zu singen, das Du hasst”. Diese Abneigung merkte man ihr ein wenig an, auch wenn sie sich alle Mühe gab, den Bierzeltschlager mit der nötigen Verve zu interpretieren.
Sweet, sweet Gwendolyne: Julio in der Strafhose (ES).
Für Spanien trat ein ehemaliger Fußballspieler des FC Real Madrid an, der hier den Grundstein für seine Karriere als erfolgreichster Schnulzensänger Europas legte. Abertausende von Hausfrauen sollten bei seinen Konzerttourneen vor Verzückung in Ohnmacht fallen und ihm jahrzehntelang ausverkaufte Säle sowie goldene Schallplatten in rauen Mengen sichern: laut Wikipedia setzte er insgesamt mehr als 300 Millionen Tonträger ab. Hier landete der noch etwas fahrig wirkende und in einer babyblauen Achselhose ziemlich unschön anzuschauende Julio Langnesias Iglesias, der Mann mit dem zarten Schmalz, mit seiner schmachtend vorgejaulten ‘Gwendolyne’ auf dem vierten Rang. Grund seiner Nervosität war übrigens, dass seine Delegation ihm vor dem gegenüber seiner Darbietung beim heimischen Vorentscheid deutlich entkoffeinierten Auftritt die Sakkotaschen hatte entfernen lassen, auf dass er nicht die Hände darin vergrabe. Nun wusste er nicht, wohin damit – ein Schicksal, dass er mit zahlreichen anderen männlichen Eurovisionsinterpreten teilt. So wie beispielsweise mit dem mediterranen Konkurrenten Gianni Morandi, der während seiner Interpretiation des mitreißenden Italoschlagers ‘Occhi di Raggazi’ mehrfach versuchte, flügelschlagend von der Bühne abzuheben.
Dominique Dussel Dussault und ihr deutsches Idol (MC).
Deutschland sah sich nicht nur von Katja Ebstein repräsentiert: die für Monaco antretende, intern ausgesuchte junge Französin Dominique Dussault himmelte in ihrem Chanson die unsterbliche deutsche Schauspielerin ‘Marlene’ Dietrich an, in ihrer verführerisch-geheimnisvollen Androgynie seit jeher ein Lesbenidol. Dominique imitierte im Laufe ihrer Femmage die beliebtesten Posen des Filmstars. Das war von hoher unfreiwilliger Komik, denn der eher kompakten, schneckenlockigen und trotz ihrer Jugend irgendwie großmütterlich anmutenden Interpretin selbst ging jeglicher Glamour ab: es wirkte, als wenn Helga Beimer versuchte, Madonna nachzuahmen. Das Gastgeberland schickte das am Vorbild amerikanischer Motown-Girlgroups orientierte Schwesterntrio Hearts of Soul. Ihre topaktuelle Reverenz an das vom weltweit erfolgreichen Musical ‘Hair’ just ins popkulturelle Kollektivbewusstsein transportierte Wassermannzeitalter vermochte jedoch aufgrund des vom heimischen Orchester stark gebremsten Tempos bedauerlicherweise nicht zu überzeugen. Schade, denn mit anderthalbfacher Geschwindigkeit abgespielt, entwickelt der Song doch noch so etwas wie Groove. Aufgrund des noch immer gültigen Gruppenverbotes war man eigentlich gezwungen, eine der drei Maessen-Schwestern als Solistin mit Begleitchor herauszustellen. Dass der verantwortliche Sender den Act dennoch als “Hearts of Soul, Soliste: Patricia” annoncierte, unterstrich die zunehmende Ungeduld hinsichtlich den immer antiquierter wirkenden EBU-Regeln.
Die Supremes auf Valium: Hearts of Soul (NL).
Der psychedelische Look der deutschen Vorentscheidung setzte sich in Amsterdam fort: mit freischwebenden Kugeln erschufen die Holländer eine ziemlich futuristische Bühnen-Atmosphäre, in der die antretenden Künstler:innen jedoch, insbesondere bei eher klassischen Stücken, gelegentlich etwas fremd wirkten. Bestes Beispiel: der am Veranstaltungsort geborene niederländische Schlagersänger David Alexandre Winter, der im Vorjahr einen Nummer-Eins-Hit in Frankreich hatte und nun Luxemburg vertrat. Er sei direkt “vom Himmel gefallen”, wie er in seinem hoffnungslos altmodischen Schlager behauptete. Und zwar offenbar ohne Fallschirm: der ebenfalls wild mit den Armen rudernde Winter zerschellte mit (absolut gerechten) null Punkten auf dem Boden der Jurywertungen. Später siedelte er, wie die Alleswissende Müllhalde berichtet, in die USA über, wo er Gebrauchtwagen verkaufte. Ein allgemein als eher halbseiden angesehener Beruf, wie ihn auch Dieter Thomas Heck vor seiner Karriere als Radio-DJ und Pate der ZDF-Hitparade ausübte. Und der nahe liegt: in beiden Jobs muss man mit voller Überzeugung notdürftig aufpolierten Schrott an übertölpelte Kund:innen verhökern.
Naschte der Schauspieler und Sänger in Amsterdam von närrischen Pilzen oder wie erklärt sich sein wildes Herumgehampel? (IT)
Dass der Contest überhaupt in der Kifferwelthauptstadt stattfand, verdanken wir nach Roxburghs Recherche einem Zufall: nachdem im Vorjahr vier Länder punktgleich siegten, von denen zwei – nämlich das Vereinigte Königreich und Spanien – bereits 1968 respektive 1969 den Wettbewerb organisiert hatten, entschied ein Münzwurf zwischen den verbliebenen Kandidaten Holland und Frankreich, wer 1970 als Veranstalter übernehmen musste. “Die Niederlande verloren,” kommentierte ein BBC-Mitarbeiter maliziös den Ausgang der Entscheidung. Die Gastgeberschaft machte sich erneut bei der extrem sparsamen, fast schon frostigen Moderation bemerkbar: der bei der Punktevergabe bis weit über die Grenze zur Unhöflichkeit hinaus straffe Ablauf führte – bei nur zwölf Teilnehmerländern, denn alle skandinavischen Nationen sowie Österreich und Portugal boykottierten aus Protest gegen die Wertungsfarce des Vorjahres den Wettbewerb – nicht nur zu einer außergewöhnlich kurzen Sendezeit, sondern verstärkte auch den unpersönlichen, kalten Eindruck dieses Jahrgangs. Die Show dauerte nur knapp 75 Minuten, obwohl das niederländische Fernsehen die Sendung erstmals mit eigens angefertigten Einspielfilmen zwischen den Songs streckte, welche die antretenden Interpret:innen bei einem winterlichen Stadtbummel in ihrer jeweiligen Heimatmetropole zeigten. Diese aus der Not geborene Idee sollte sich dauerhaft halten: noch heute werden die Umbaupausen zwischen den Live-Auftritten mit den sogenannten Postkarten überbrückt.
Der allererste Novelty-Song in der Grand-Prix-Historie kam 1970 ausgerechnet aus der nicht unbedingt für ihren Humor berühmten Schweiz: der Kinderliedautor Henri Dès alberte sich durch sein infantiles ‘Retour’.
Kommerziell hingegen lief alles rund: die drei erstplatzierten Sängerinnen landeten maßstabsgerecht auf Rang #4 (Dana), #12 (Mary Hopkin) und #16 (Katja Ebstein) in den deutschen Verkaufscharts. Die beiden englischsprachigen Songs erreichten zudem europaweit die Top Ten, wobei sich Frau Hopkin (#2) in den britischen Charts ebenso wie beim Contest der Irin Dana (#1) geschlagen geben musste. Die konnte weltweit mehr als zwei Millionen Exemplare ihrer Single verkaufen und bescherte ihrem Volk, das es laut dem Buchautor (‘Ireland and the Eurovision’) und zeitweiligen RTÉ-Unterhaltungschef David Blake Knox bis dato “nicht gewohnt war, irgendetwas zu gewinnen”, enorme nationale Glücksgefühle. Danas Sieg, der die bislang eher als randständig wahrgenommene Nation erstmals ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rückte, war zudem mit einer hohen innenpolitischen Bedeutung aufgeladen, stammte die Sängerin doch aus der nordirischen Stadt (London-)Derry, einem der zentralen Schauplätze der seinerzeitigen blutigen Auseinandersetzungen zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Separatisten. Die nationale irische Fluggesellschaft Aer Lingus transportierte die junge, nach eigener Aussage friedliebende Katholikin (“Das, was dort passierte, das hatte mit uns nichts zu tun”) am Sonntag direkt von Amsterdam nach Derry, wo sie von einer frenetisch jubelnden Menge empfangen wurde – der erste Flug der Linie, der im offiziell britischen Hoheitsgebiet landen durfte.
Nein, das ist kein stilisiertes Hakenkreuz – das Logo des ESC 1970 setzte sich aus vier kreisförmig angeordneten Musiknoten zusammen.
Eurovision Song Contest 1970
Eurovisie Songfestival. Samstag, 21. März 1970, aus dem Rai Congrescentrum in Amsterdam, Niederlande. Zwölf Teilnehmerländer. Moderation: Willy Dobbe.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | NL | Hearts of Soul | Waterman | 07 | 07 |
02 | CH | Henri Dès | Retour | 08 | 06 |
03 | IT | Gianni Morandi | Occhi di Ragazza | 05 | 10 |
04 | YU | Eva Sršen | Pridi, dala ti bom Cvet | 04 | 11 |
05 | BE | Jean Vallée | Viens l’oublier | 05 | 08 |
06 | FR | Guy Bonnet | Marie Blanche | 08 | 05 |
07 | UK | Mary Hopkin | Knock, knock, who’s there? | 26 | 02 |
08 | LU | David Alexandre Winter | Ju suis tombé du Ciel | 00 | 12 |
09 | ES | Julio Iglesias | Gwendolyne | 08 | 04 |
10 | MC | Dominique Dussault | Marlène | 05 | 09 |
11 | DE | Katja Ebstein | Wunder gibt es immer wieder | 12 | 03 |
12 | IE | Dana | All kinds of everything | 32 | 01 |
Zuletzt aktualisiert: 15.07.2021
Da stimmt was nicht ganz. Nicht dreißig, sondern vierzig Jahre waren es zwischen dem Doppelpack von Katja Ebstein und Lena.
Kopfrechnen müsste man können! Danke für den Hinweis, ist korrigiert.