Zu einer Art von Castingshow griff der jedes Jahr ein neues Verfahren ausprobierende spanische Sender TVE zur Auswahl seiner Eurovisionsrepräsentantin 1971. Zwischen dem 17. Oktober und dem 30. Dezember 1970 gingen insgesamt zwölf Shows der Reihe Pasaporte a Dublin über die Antenne und bescherten dem Staatsfernsehen einen grandiosen Einschaltquotenerfolg. In der 75minütigen Auftaktsendung erklärten die ehemaligen iberischen Eurovisionsvertreter:innen Julio Iglesias und Massiel zunächst das Konzept, danach folgten unterhaltsame Kurzvorstellungen der insgesamt zehn Konkurrent:innen, inklusive eines Potpourris ihrer bisherigen Hits. In den darauffolgenden Galas präsentierte jeweils eine:r von ihnen werbewirksam Titel aus dem eigenen Repertoire, während die neun anderen zum wechselnden Motto der Woche (wie z.B. Songs aus Lateinamerika oder Musik der Beatles) passende Lieder anstimmten. Stargäste und Sketche rundeten die Shows ab. Im Anschluss an die Weihnachtsgala am 23. Dezember durften die Spanier:innen dann mittels einer der Programmzeitschrift beigelegten Stimmkarte entscheiden, wer von den zehn Bewerber:innen den begehrten Reisepass nach Dublin erhalten soll. Es steht aber zu vermuten, dass es nicht nur das Dokument, sondern auch das Flugticket obendrauf gab…
Eine sehr dominant agierende Massiel und ein erstaunlich schüchterner Julio Iglesias stellen die um das Ausweisdokument ritternden Sänger:innen vor.
Zu den Beteiligten gehörten (in aufsteigender Reihenfolge ihrer Beliebtheit) die in Madrid geborene María del Carmen Arévalo Latorre alias Cristina; die 2006 verstorbene Flamencosängerin Rocio Jurado; das hauptsächlich mit spanischen Coverversionen internationaler Hits erfolgreiche Poptrio Los Mismos; der im Alter von nur 28 Jahren bei einem Autounfall verstorbene Luis Manuel Ferri Llopis alias Nino Bravo; die in Sevilla geborene Encarna Polo, deren größter Hit ‘Paco, Paco’ aus dem Vorjahr vier Dekaden später als Internetmeme wieder auferstand, weil er rhythmisch perfekt unter Beyoncés ikonisches ‘Single Ladies’-Video passte; der auf den Philippinen geborene Antonio Morales Barreto alias Junior, der vor allem in den Sechzigern in verschiedenen Gruppen und Duos, aber auch solo aktiv war; die in Buenos Aires geborene Sängerin und Schauspielerin Concha Marquez Piquer sowie der schnulzensingende Tabakfabrikantensprössling Jamie Morey, der als Zweitplatzierter dieser Sendereihe im Jahr darauf intern ausgewählt wurde, Spanien auf der internationalen Bühne zu vertreten und der Ende der Siebziger nach ausbleibenden Plattenverkäufen vorübergehend nach Mexiko zog, wo er in diversen Telenovelas mitspielte. 2001 ließ er sich blauäugig in einen Anlagebetrugsskandal verwickeln, wurde jedoch später freigesprochen. Morey verstarb 2015 im Alter von 73 Jahren an Krebs.
Viel blond und viel gefügiges Gehauche: der Vorstellungsclip von Karina.
Den Pasaporta a Dublin konnte schließlich Maria Isabel Llaudés Santiago erringen, deren Künstlerinnennamen Karina auf dem italienischen Kosewort Carina (Liebling) beruht. Sie stand seit 1963 bei Massiels Vater unter Vertrag und konnte zunächst mit diversen Coverversionen, so zum Beispiel vom 1965er ESC-Siegersong ‘Poupée de Cire’, Erfolge feiern. Dazwischen mischten sich auch wenige eigene Lieder: so hatte sie 1968 mit dem brachialen Humptataschlager ‘Fiesta’ einen nationalen Sommerhit. Für den Eurovision Song Contest stattete man sie mit dem Song ‘En un Mundo nuevo’ (‘In einer neuen Welt’) aus, der musikalisch als sanfte Easy-Listening-Ballade begann, nach einer Minute per Rückung hochschaltete und von Vers zu Vers stets noch ein Schippchen drauflegte. Erst nach 2 Minuten und 22 Sekunden, just nach der ersten Nennung der offiziellen Titelzeile, kippte das Ganze dann endgültig in einen scheppernden Militärmarsch um. Bis zu dieser Marke dominierte die stets gleiche Vers-Eröffnungszeile “Al Fin del Camino” (“Am Ende der Straße”) das lyrische Geschehen, und so lässt sich trefflich spekulieren, ob es sich nicht um eine clever durch die Zensur geschmuggelte, subtile Kritik auf den zunehmend greiser werdenden Diktator Franco und das herbeigesehnte Ende seiner Schreckensherrschaft handelte, auf welche die Spanier:innen allerdings noch ein paar Jahre warten mussten.
Schon in den Siebzigern zeigte sich durch den Massentourismus die hässliche Fratze des Kapitalismus: Karina versucht vergebens, den brutalen Betonburgen per Anhalter zu entfliehen.
In Dublin belegte Karina den zweiten Platz. Sie spielte neben der spanischen auch eine italienische, eine englische, eine französische und eine sehr, sehr niedliche deutsche Fassung (‘Wir glauben an Morgen’) ein, konnte aber außerhalb des Heimatlandes keinen Hit damit landen. Auch die Eurovisionskolleginnen Mary Roos und Micha Marah (‘Die heerlijke Wereld’) nahmen den Titel in ihr Repertoire auf. Um keine Chance auf kommerzielle Verwertung ungenutzt zu lassen, folgte 1972 noch ein gleichnamiger Schlagerfilm mit Karina in der Hauptrolle, ihr vierter und letzter in einer Reihe ähnlich gestrickter Machwerke. In diesem Streifen sicherte sich die Sängerin die Eurovisionsteilnahme, in dem sie mit dem Verlobten der eigentlich vorgesehenen Interpretin Marta schlief, nachdem sie sich als Babysitterin für das bei der gleichen Plattenfirma unter Vertrag stehende Kinderquintett La Pandilla den Zugang zu ihm erschlichen hatte. Der IMDB zufolge soll auch die Stimme von Katja Ebstein in diesem cineastischen Meisterwerk zu hören sein. 1978 lief Karinas Plattenvertrag aus, sie verlegte ihr künstlerisches Wirken für ein paar Jahre nach Mexiko und widmete sich danach der Familie.
Die große Mary Roos spielte Karinas Schlager nochmals in einer verständlichen Fassung ein.
Pasaporta a Dublin
Mittwoch, 30.12.1970, aus den Prado del Rey Studios in Madrid. Zehn Teilnehmer:innen, Moderation: Jose Luis Uribarri. Interpretenkür per Postkartenentscheid. Der Song wird intern ausgewählt.
Letzte Aktualisierung: 19.07.2021
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