Bel­gi­scher Vor­ent­scheid 1971: Ein Luft­schloss zum Teilen

Über­schat­tet von Krank­heit und Tod zeig­te sich die flä­mi­sche Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung im Jah­re 1971. Der zustän­di­ge Sen­der BRT hat­te hier­für ein drit­tes Mal nach 1963 und 1967 das von der ita­lie­ni­schen Rai geklau­te For­mat Can­zo­nis­si­ma her­vor­ge­kramt, das mit neun Vor­run­den und einem Fina­le sowie gleich drei Jurys mal wie­der einen maxi­ma­len Auf­wand für durch die Bank eher mit­tel­mä­ßig bis kata­stro­phal schlech­te Songs betrieb. Bereits im Okto­ber 1970 ging es mit der ers­ten Qua­li­fi­ka­ti­ons­run­de mit zehn Teilnehmer:innen los, wei­te­re Sen­dun­gen folg­ten im Abstand von jeweils 14 Tagen. Der Sän­ger Ron Davis erlitt weni­ge Tage nach der zwei­ten Show bei einem schwe­ren Ver­kehrs­un­fall einen dop­pel­ten Schä­del­ba­sis­bruch und lag eini­ge Wochen im Koma, bevor er im Janu­ar 1971 im Alter von nur 24 Jah­ren an den Fol­gen ver­starb. Somit redu­zier­te sich das Feld ab der drit­ten Sen­dung auf jeweils neun Kombattant:innen. Neben einer fünf­köp­fi­gen Pro­mi-Jury, deren teils bis­si­ge Kom­men­ta­re das Unter­halt­sams­te an Can­zo­nis­si­ma sein soll­ten, und einer nicht stimm­be­rech­ti­gen zwei­ten Fach­ju­ry, deren ein­zi­ge Auf­ga­be dar­in bestand, einen Son­der­preis für das “bes­te neue flä­mi­sche Lied” zu ver­ge­ben, durf­ten auch die Zuschauer:innen per Post­kar­te votie­ren, wobei es zu erheb­li­chen Unre­gel­mä­ßig­kei­ten kam.

Die ver­füg­ba­ren Can­zo­nis­sa-Final­bei­trä­ge in Auf­tritts­rei­hen­fol­ge als Playlist.

Denn nicht nur, dass nach fast jeder Sen­dung ungül­ti­ge Stimm­kar­ten bei BRT ein­tra­fen. Es stach zudem ins Auge, dass die gera­de acht­zehn­jäh­ri­ge, am Beginn ihrer Schla­ger­kar­rie­re ste­hen­de Alde­gon­da Lep­pens ali­as Micha Marah für jeden ihrer Bei­trä­ge ein Viel­fa­ches an Post­kar­ten ein­sam­meln konn­te wie ihre Konkurrent:innen, teil­wei­se bis weit über das Zehn­fa­che hin­aus. Unglaub­li­cher­wei­se führ­te die­ser offen­sicht­li­che Mani­pu­la­ti­ons­ver­such nicht zur Dis­qua­li­fi­ka­ti­on, sodass sie mit gleich drei Lie­dern ins Fina­le ein­zog, wo sie von der dort allei­ne stimm­be­rech­tig­ten, auf zwölf Per­so­nen erwei­ter­ten Jury aller­dings nicht einen ein­zi­gen Punkt erhielt. Den­noch konn­te sie mit dem marsch­be­ton­ten Kar­ne­vals­schla­ger ‘Tam­boer­ke’ daheim ihren ers­ten Chart­hit lan­den, dem eine eben­falls kom­mer­zi­ell erfolg­rei­che flä­mi­sche Cover­ver­si­on des spa­ni­schen Euro­vi­si­ons­bei­trags 1971 folg­te. Nach einem wei­te­ren Ver­such beim bel­gi­schen Vor­ent­scheid im Jah­re 1975 nomi­nier­te sie der Sen­der 1979 direkt und ließ ihr in einem rei­nen Songfi­na­le den Titel ‘Hey nana’ aus­su­chen, den sie per­sön­lich so sehr hass­te, dass sie ihn nie auf Plat­te auf­nahm. Sie beleg­te damit in Jeru­sa­lem den geteil­ten letz­ten Platz. Kar­ma is a Bitch!

Ein paar Jahr­zehn­te und etli­che Boto­xin­jek­tio­nen spä­ter gibt Marah immer noch die Tambourmajorette.

Marah blieb indes nicht die ein­zi­ge punk­te­freie Fina­lis­tin: drei Vier­tel der Lie­der gin­gen kom­plett leer aus. Einen ein­zi­gen Gna­den­punkt konn­te der Schnul­zen­sän­ger John­ny White für sei­ne schreck­li­che Schnarch­bal­la­de ‘Ver­lo­ren Hart, ver­lo­ren Droom’ mit­neh­men. Immer­hin drei Juror:innen erwärm­ten sich für Chris­tia­ne Lee­n­aerts ali­as Ann Chris­ty und ihr ‘Dag vreem­de Man’. Die hat­te es im Vor­jahr bereits im ande­ren Lan­des­teil, der fran­zö­sisch­spra­chen Wal­lo­nie, ver­sucht und soll­te in Flan­dern noch zwei­mal wie­der­keh­ren, bis sie 1975 mit ‘Geluk­kig zijn’ end­lich das Euro­vi­si­ons­ti­cket erlös­te. Chris­ty starb 1984 im Alter von nur 38 Jah­ren an Gebär­mut­ter­hals­krebs. Mit 75% der ver­füg­ba­ren Jury­stim­men gewann das frisch ver­hei­ra­te­te Schla­ger­pär­chen Nico­le (Josy) & Hugo (Sig­al), das für sei­nen luf­tig dahin­plät­schern­den, aus irgend­ei­nem Grun­de den­noch unwi­der­steh­li­chen Easy-Lis­tening-Klas­si­ker ‘Goeie Mor­gen, Mor­gen’ eigens eine raum­grei­fen­de Syn­chront­anz-Cho­reo­gra­fie ein­stu­dier­te, die zu ihrem Mar­ken­zei­chen wer­den soll­te. Doch die Mühe war umsonst: kurz vor dem Euro­vi­si­on Song Con­test erkrank­te Josy an Gelb­sucht, der Sen­der ersetz­te das Pär­chen not­ge­drun­gen in letz­ter Minu­te durch den frü­he­ren bel­gi­schen Reprä­sen­tan­ten Jac­ques Ray­mond sowie Lili Cas­tel, die in Dub­lin jedoch nur einen hin­te­ren Platz her­aus­ho­len konn­ten. In der Ori­gi­nal­ver­si­on wur­de der Song zu Hau­se den­noch ein Hit.

Fin­den auch noch die kleins­te Klei­nig­keit “sen­sa­tio­neel”, haben also augen­schein­lich Crys­tal Meth ein­ge­wor­fen: Hugo & Nicole.

Vor­ent­scheid BE 1971

Can­zo­nis­si­ma. Sams­tag, 6. Febru­ar 1971 aus dem The Ame­ri­kaans Thea­ter in Brüs­sel. Acht Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Jan Theys.

#Inter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
01Ann Chris­tyDaag vrem­de Man0302
02Nico­le & HugoGoeie Mor­gen, Morgen0801
03Joe Har­risAlles wordt oranje0004
04Mary Por­ce­li­jnLachen0004
05Micha MarahTam­boer­ke0004
06John­ny WhiteVer­lo­ren Hart, ver­lo­ren Droom0103
07Mary Por­ce­li­jnAls je terugkomt0004
08Mary Por­ce­li­jnWeet je nog wie ik ben0004
09Kalin­kaVroeg of laat0004
10Micha MarahIk ben zeventien0004
11Micha MarahDie Ring0004
12Johan StollzImmi­grant0004

Zuletzt aktua­li­siert: 15.07.2021

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