‘Wunder gibt es immer wieder’ – und im Vorjahr war tatsächlich eines geschehen: erstmals in der bisherigen, bereits ein Vierteljahrhundert währenden Grand-Prix-Geschichte konnte die in Berlin aufgewachsene Katja Ebstein für das bis dato beim internationalen Wettsingen eher glücklos agierende und im Schnitt nur sehr mäßig erfolgreiche Deutschland einen (bronzenen) Medaillenplatz erringen. Und, um das Glück perfekt zu machen, zudem noch mit einem Titel, der beim Publikum wie bei der Kritik gleichermaßen großen Anklang fand. Der seinerzeitige Grand-Prix-Verantwortliche Hans-Otto Grünefeldt vom Hessischen Rundfunk witterte verständlicherweise Morgenluft und buchte die sich selbst wohl eher als Chansonnière mit gesellschaftspolitischem Anspruch verstehende Schlagersängerin mit der sozialdemokratischen Weltverbessererinnenattitüde in diesem Jahr gleich fest. Wie man sieht, folgte das Lena-Doppel im Jahre 2011 also einem historischen Vorbild, und nicht dem Schlechtesten!
Ebstein, Ebstein, alles muss versteckt sein: die königliche Katja bestritt den deutschen Vorentscheid 1971 vollkommen alleine.
Die kluge Katja sah natürlich ihre Chance, ihre durch den Eurovision Song Contest fundierte Karriere durch einen erneuten prominenten TV-Auftritt zu festigen und sagte gerne zu. Um die einflussreichen Lobbyverbände zufrieden zu stellen, durften ihr sechs bekannte und in der Standesvertretung organisierte Schlagerkomponisten jeweils ein Lied auf den schlanken Leib schreiben. Die Ebstein sang sie in Zweierblöcken weg, in den Umkleidepausen unterbrochen von einer neuerlichen britischen Tanzformation, die – hektisch durch das Studio wirbelnd – für einen internationalen Touch sorgte. Auch der hippe Farbenrausch des Vorjahres feierte seine Rückkehr, wobei man die wilden Lichtprojektionen diesmal im Bluescreenverfahren hinter die Sängerin schnitt, während diese vor der Studiowand stand und mit – je nach persönlicher Zuneigung zum Titel – mehr oder minder starkem Einsatz performte.
Diese Welt: in einem garantiert nicht aus Bio-Baumwollfaser hergestellten Dress sinnierte Katja über die Folgen der Umweltzerstörung.
Als weniger hipp erwies sich die Moderation von Günther Schramm, der sich zwar alle Mühe gab, senderseits jedoch gezwungen wurde, das Publikum mit stundenlangen, schulmeisterlichen Belehrungen zum Thema Komponistenwettbewerb und zur Punktevergabe zu langweilen. Wie dünnhäutig und unentspannt der veranstaltende Hessische Rundfunk mit der Show umging, zeigte ein Zwischenfall: Schramm musste auf Weisung des hr-Justitiars noch in der laufenden Sendung seine unbedachte Bemerkung präzisieren, die Juror:innen säßen im Nebenstudio, wo sie ihre Wertung “abstimmen” würden: natürlich nicht untereinander, wie *hüstel* böswillige Verschwörungstheoretiker mutmaßen könnten, sondern nur mit sich selbst! Nicht, dass es wieder Manipulationsvorwürfe gibt! “Bevor man diese Sendung moderiert, hat man besser Jura studiert”, so der genervte Seufzer Schramms.
Alle Menschen will sie fragen, die Katja. Da hat sie aber gut zu tun!
Überhaupt, die Wertung: in Anlehnung an das beim Hauptwettbewerb praktizierte Verfahren durften erstmals neben fünf ARD-Fernsehunterhaltungschefs auch fünf “musikinteressierte Laien”, alle unter 25 Jahren, gleichberechtigt mitvoten. Damit sollte, ganz im Sinne des zeitlos gültigen Willy-Brandt-Mottos “mehr Demokratie wagen”, die Stimme der aufrührerischen Jugend Berücksichtigung finden. Natürlich trug der nur bedingt wagemutige hr jedoch durch die Auswahl Violine spielender Musikstudentinnen für das Laiengremium dafür Sorge, dass diese bloß nicht all zu aufrührerisch ausfallen möge. Um so bemerkenswerter, dass die Wahl generationsübergreifend auch bei den älteren Juroren auf den einzigen politischen Beitrag fiel: den die Umweltverschmutzung anprangernden und die über alle Maßen Ressourcen vernichtende Lebensweise der Industriestaaten in Frage stellenden Öko-Schlager ‘Diese Welt’, ein musikalisch wie inhaltlich packendes, qualitativ herausragendes Stück. Oder, wie Katja es lakonisch formulierte: “Wir wussten, wir lieferten keinen Schrott ab”. Wohl wahr!
“…auf der Welt”: unterhalb des ganzen Planeten tut’s die Ebstein nicht!
Die restlichen fünf Songs des Abends vermochten da nicht mitzuhalten, selbst wenn sie textlich das beliebte Schlagerthema “Liebe” vom üblichen Kleinklein des Zwischenmenschlichen zum Allgemeinplatz mit globalem Anspruch aufbliesen. So wie beispielsweise ‘Alle Menschen auf der Erde’, die Komposition von Ebsteins damaligem Ehemann und Produzenten Christian Bruhn, welche die Sängerin persönlich selbstredend favorisierte, wie sie später im Interview mit Jan Feddersen zugab. Auch der sonst so progressive Tonsetzer Horst Jankowski (‘Ein Hoch der Liebe’, DE 1968) lieferte diesmal mit ‘Es wird wieder geschehn’ musikalisch arg konventionelle Ware. Um nicht ungerecht zu erscheinen: solche Ausnahmetitel wie ‘Wunder gibt es immer wieder’ und ‘Diese Welt’ schreiben sich halt nicht im Dutzend. In den Charts reichte es für den auch heute noch nichts von seiner Aussagekraft eingebüßt habenden Öko-Song erneut für Rang 16.
Leben von der Liebe: wenn das die Bundesregierung hört, kürzt sie gleich wieder den Hartz-Vier-Regelsatz! (Plus Playlist mit allen sechs Titeln)
Vorentscheid DE 1971
Ein Lied für Dublin. Samstag, 27. Februar 1971, aus dem Sendestudio des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Eine Teilnehmerin, Moderation: Günter Schramm. Zehnköpfige Jury.# | Interpretin | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Katja Ebstein | Der Mensch lebt von der Liebe | 27 | 05 | - |
02 | Katja Ebstein | Alle Menschen auf der Erde | 37 | 02 | 16 |
03 | Katja Ebstein | Es wird wieder geschehn | 28 | 04 | - |
04 | Katja Ebstein | Diese Welt | 43 | 01 | 16 |
05 | Katja Ebstein | Ich bin glücklich mit Dir | 25 | 06 | - |
06 | Katja Ebstein | Ich glaube an die Liebe auf der Welt | 37 | 02 | - |
Letzte Aktualisierung: 25.09.2022
Wie man im obigen youtube-Clip sehen kann scheint bei dir etwas durcheinander geraten zu sein. Von Horst Jankowski ist ‘Es wird wieder geschehen’. ‘Ich glaube an die Liebe auf der Welt’ ist von Hans Blum, wie man hinter Herrn Schramm auf der Wertungstafel lesen kann. 😉
Korrigiert, danke.
Kleine Korrektur: Peret nahm 1974, nicht 1973, am ESC teil.
Danke, korrigiert!