“Dann fangen wir an mit der am meisten geschmähten Fernsehsendung des Jahres:” mit diesen Worten begrüßte der Moderator des norwegischen Vorentscheids 1971, Jan Voigt, die heimischen TV-Zuschauer:innen. Er nahm damit Bezug auf die Debatte um den Siegertitel des Melodi Grand Prix (MGP) 1969 und das absurde Ergebnis beim Eurovision Song Contest in Madrid, das zu einem Boykott des Wettbewerbs durch die skandinavischen Länder im Jahre 1970 geführt hatte. Das Nachbeben spürte man bis in diese Sendung: gleich zu Beginn stellte Voigt die im Studio anwesenden und offen abstimmenden 14 norwegischen Juror:innen, davon ein Drittel weiblichen Geschlechts, namentlich vor. Für die meisten Regionen des Landes verrichteten jeweils gleich zwei Personen die verantwortungsvolle Aufgabe, davon eine über und eine unter 25 Jahren. Lediglich Elverum, Hamar, Levanger und Trondheim durften jeweils nur eine Person entsenden. Die 14 verrichteten ihren Job mit sehr unterschiedlicher Gemütslage: während der TV-Moderator Andreas Lunann sich stets mit einem gewinnenden Lächeln ins Profil drehte, um der Kamera seine Schokoladenseite zu präsentieren, und seine Wertungstafel im exakt richtigen, bildfüllenden Winkel hielt, blickte der neben ihm sitzende Osloer Juror Sten Fredriksen mit einem so sinisteren Starren vor sich hin, als plane er gerade die Atomisierung des Erdenballes. Beim Hauptwettbewerb in Dublin, wo er ebenfalls öffentlich abstimmen durfte, wirkte er dann aber ganz frohgestimmt.
https://youtu.be/3RmBJ6vU99A
Zwölf Songs, 14 Juror:innen und ein Siegertitel: das etwas über einstündige MGP 1971.
Zwölf Titel traten gegeneinander an, die Hälfte davon ausgesiebt aus knapp 200 offenen Einsendungen. Die restlichen sechs Lieder stammten aus der Feder etablierter und von NRK direkt beauftragter Songschreiber:innen. Zwar hatte der Sender auch zwölf Interpret:innen auftreiben können, die verteilten sich dank eines Duettes und eines Trios jedoch so ungleichmäßig auf die Beiträge, dass ein paar von ihnen gleich mehrfach ran mussten. So beispielsweise der MGP-Veteran Odd Børre Sørensen, der sowohl die unpassend verhaltene Ballade ‘Optimisten’ interpretierte als auch das gemeinsam mit dem ebenfalls einen eigenen Solo-Titel präsentierenden Jan Erik Berntsen vorgestellte ‘Ironside’. Das klang exakt so, als habe sein Komponist Sigurd Jansen es einst als (dann leider abgelehnte) Titelmelodie für die gleichnamige (im deutschen Sprachraum allerdings als ‘Der Chef’ bekannte), ab 1967 ausgestrahlte US-amerikanische Krimiserie mit Raymond Burr in der Hauptrolle des rollstuhlfahrenden Verbrechensbekämpfers verfasst. Børre und Berntsen erkämpften sich damit den mehr als verdienten zweiten Platz, ganz im Gegensatz zu einer weiteren altgedienten Teilnehmerin, nämlich Inger Jacobsen, die für ihre zu gleichen Teilen klischeehaft wie völlig falsch instrumentierte Ballade über den Subkontinent ‘India’ zu Recht die Rote Laterne kassierte.
Man sieht Odd Børre vor dem inneren Auge quasi im Affenzahn die steilen Straßen von San Francisco herunterrollen, böse Buben vom Bürgersteig kegelnd.
Ebenfalls gleich zwei Eisen im Feuer hatte der ehemalige Gitarrist Dag Spantell, der solo mit ‘Gi Verden en Smil’ (‘Gib der Welt ein Lächeln’) antrat und daneben mit Wencke-Britt “Webe” Karlsen und Geir Wenzel den am Vorbild aktueller Hippie-Kapellen wie den Les Humphries Singers orientierten Folk-Schlager ‘Vi vil tro det vi synger’ (‘Wir wollen glauben, was wir singen’) intonierte. Dieses aus zwei völlig unterschiedlich temporierten Einzelteilen zusammengeschweißte Angebot litt jedoch erkennbar an der eklatanten, skandinavientypischen Zurückhaltung der drei Interpret:innen, die den erforderlichen Groove einfach nicht aufzubringen vermochten. Dazu trug mit bei, dass nur die beiden Herren der Schöpfung über eigene Mikrofone verfügten und man die einzige Frau im Trio akustisch kaum wahrnahm. Zu den weiteren Newcomer:innen gehörte die Schlagerette Gro Anita Schønn, die sich für das Outfit ihres MGP-Auftritts mit dem possierlichen Modeschlager ‘Maxi, Midi, Mini’ sehr eindeutig von Katja Ebsteins unerreichbarem Vorbild beim ESC 1970 inspirieren ließ. Ihre wunderbar uptemporäre, von einem engagiert “Ba bab ba bab bab“enden und huhenden Damenchor unterstützte Nummer versaute sie jedoch leider durch eine extrem unnötige, zur Streckung auf volle drei Minuten an das Lied hintendran gepappte und mit einen peinsam anzuschauenden Verlegenheitstanz überbrückte “War alles nur ein schlechter Scherz”-Fanfare vollständig.
Schade drum: hätten Gro Anita und ihre Begleitdamen Mini, Maxi und Midi nach zwei Minuten und 50 Sekunden einfach aufgehört, wäre alles perfekt gewesen.
Die im Jahre 2001 im Alter von nur 51 Jahren an einer Lungenentzündung verstorbene Sängerin trat hier das erste von sechs Malen in Folge beim norwegischen Vorentscheid an, ebenso wie ihre Kolleginnen Anne Lise Gjøstøl und Anne-Karine Strøm. Letztgenannte sollte es, anders als die beiden Annen, gleich dreimal auch auf die internationale Bühne schaffen, davon einmal solo und zweimal als Teil der Bendik Singers. Ihr aktueller Beitrag ‘Hør litt på meg’ (‘Hör mir ein bisschen zu’) fand allerdings wenig Zuhörer:innen und verendete auf dem zehnten Rang. Nicht nur wie für andere Mädchen ihres Alters üblich ein Pferd, sondern überspannterweise gleich ein ‘Zebra!’ wünschte sich die bei diesem Auftritt erst neunjährige (!) Anita Hegerland, bis heute und aufgrund der seit den Neunzigern bestehenden Altersregelungen wohl auch auf ewig die jüngste Vorentscheidungsteilnehmerin aller Zeiten. War dem seinerzeit angesagtesten und auf dem Heimatmarkt bereits seit zwei Jahren aktiven Kinderstar der Erfolg also schon zu Kopf gestiegen? Die norwegische Shirley Temple schaffte es dank der Jury zwar nicht zum Grand Prix, dafür gelang ihr noch im gleichen Jahr zusammen mit dem deutschen Schlageronkel Roy Black ein mehr als zwei Millionen Mal verkaufter Hit mit dem Evergreen ‘Schön ist es auf der Welt zu sein’. In den späten Achtzigern sang sie dann auf einigen Alben von Mike Oldfield, mit dem sie gemeinsam zwei Kinder in die Welt setzte. Sie versuchte es in weiten Abständen noch dreimal beim MGP, zuletzt 2009, stets ohne Erfolg.
Weder die fleißige Biene noch das philosophische Stachelschwein sollten es für Anita sein: nein, ein verkehrsregelndes Zebra wünschte sie sich!
Mit ihren damals 15 Jahren entpuppte sich die Siegerin dieses Melodi Grand Prix, Hanne Krogh, im Vergleich zu Anita Hegerland beinahe schon als alte Frau, auch wenn heute weder am ESC noch an dessen Juniorausgabe hätte teilnehmen dürfen. Ihr von der lurchigen norwegischen Eurovisionslegende Arne Bendiksen, der bei der Siegerehrung sowohl der Blumenstrauß-Überreicherin ein Wangenküsschen abpresste als auch seiner Interpretin ungefragt ein solches aufdrückte, geschriebener Titel ‘Lykken er’ (‘Glück ist’) orientierte sich sehr augenfällig an der Erfolgsformel des Vorjahressiegers ‘All kinds of everything’. Wie die ebenfalls sehr kindlich wirkende Dana listete auch Hanne eine randomisierte Zusammenstellung von Dingen auf, die für das Glück stehen sollen. Oder auch nicht: so garantierten ihr zufolge weder “Geld auf der Bank” noch der durch die Tankstellenkette Esso beworbene “Tiger im Tank” Zufriedenheit, sondern vielmehr “kleine Bagatellen”. In Dublin zeigte sich Hanne das Glück nicht hold: sie belegte den vorletzten Platz. Dessen ungeachtet nahm sie noch zwei Mal am Eurovision Song Contest teil: 1991 als Teil des Quartetts Just 4 Fun und 1985 gemeinsam mit der Schwedin Elisabeth “Bettan” Andreassen als Duo Bobbysocks, mit dem sie ihrem Land den ersten Grand-Prix-Sieg bescherte. Neben der Musik machte Krogh eine Ausbildung zur Schauspielerin: so spielte sie die Hauptrolle in dem norwegischen Weihnachtsklassiker Reisen til Julestjernen von 1976, der noch heute jedes Jahr an Heiligabend im Fernsehen läuft.
Rüde: gleich zweimal wendet Hanne dem Publikum den Rücken zu.
Vorentscheid NO 1971
Melodi Grand Prix. Samstag, 20. Februar 1971, aus den NRK-Fernsehstudios in Oslo. Elf Teilnehmer:innen. Moderation: Jan Voigt.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Odd Børre + Jan-Erik Berntsen | Ironside | 48 | 02 |
02 | Jan Høiland | Fjell-Låt | 38 | 07 |
03 | Anita Hegerland | Gi meg en Sebra! | 44 | 05 |
04 | Anne Lise Gjøstøl | Riv deg løs | 37 | 08 |
05 | Dag Spantell | Gi Verden et Smil | 44 | 04 |
06 | Inger Jacobsen | India | 30 | 12 |
07 | Webe Karlsen, Dag Spantell + Geir Wenzel | Vi vil tro det vi synger | 45 | 03 |
08 | Anne-Karine Strøm | Hør litt på meg | 32 | 10 |
09 | Jan-Erik Berntsen | Enkle Ort | 31 | 11 |
10 | Gro Anita Schønn | Maxi-midi-mini | 37 | 09 |
11 | Odd Børre | Optimisten | 38 | 06 |
12 | Hanne Krogh | Lykken er | 52 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 18.07.2021
Melodi Grand Prix 1972 >