Unter einem (wenn auch nur sehr langsam) sinkenden Stern stand das traditionsreiche San-Remo-Festival im Jahre 1971. Gleich drei Plattenfirmen blieben mit ihren Künstler:innen aufgrund der hohen Startgebühren dem Wettbewerb fern, dessen Teilnehmerfeld daraufhin von 26 auf 24 verkleinert werden musste. Sergio Endrigo ging auf eigene Kosten ins Rennen, belegte mit dem selbst geschriebenen ‘Una Storia’ jedoch nur den vorletzten Platz. Wie schon in den Vorjahren zog die vielbeachtete Veranstaltung auch etliche Demonstrant:innen an; eine Studentengruppe, die gegen die Ausweisung einer Immigrantenfamilie protestierte, stürmte das Café des Casinos und warf faule Eier und Tomaten auf die dortigen Gäste. Eine spektakuläre Performance legte der Semifinalist Antoine hin, der sich nach seinem Auftritt an einem Seil in die Höhe ziehen ließ. Enttäuschenderweise sank er jedoch sogleich wieder auf den Bühnenboden hernieder. Folgerichtig verpasste er den Einzug ins Finale, wie übrigens auch die britische Band Mungo Jerry, die im Vorjahr mit ‘In the Summertime’ einen Welthit hatte und hier als eine der wenigen internationalen Gäste auftreten durfte.
Die Playlist mit allen Finalbeiträgen (Erstinterpretation) in Reihenfolge der Platzierung und einer Handvoll Vorrundentitel.
Um bei den Welthits zu bleiben: zu einem solchen geriet der zweitplatzierte, optimistisch-melancholische Landfluchtschlager ‘Che sarà’ aus der Feder des Cantautoren Jimmy Fontano. Der wollte damit eigentlich selbst am San-Remo-Festival teilnehmen, musste ihn auf Druck seiner Plattenfirma, die ihn mit einer angedrohten Auftrittssperre erpresste, jedoch dem bekannteren Quartett Ricchi e Poveri überlassen. Die Zweitversion präsentierte der blinde Puerto-Ricaner José Feliciano, der im Vorjahr mit dem von ihm komponierten ‘Feliz Navidad’ einen neuen Weihnachtsklassiker geschaffen hatte, und hier mit seiner Fassung einen Eurohit landete (u.a. Platz 7 in den deutschen Charts). Die spanische Version ‘Que será’ wurde zum Abräumer in Lateinamerika, wo das Lied noch heute einen Status als Auswandererhymne genießt. Bewegende Textarbeit leistete auch das drittplatzierte und im Anschluss an das Festival im Lande meistverkaufte ‘4 Marzo 1943’ von Lucio Dalla, das die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und ihres von einem gefallenen Soldaten gezeugten Kindes erzählt. Den ursprünglich vorgesehenen Songtitel ‘Gesubambino’ (‘Jesuskind’) zensierte die Rai aus Furcht vor der katholischen Kirche, weswegen Dalla ihn mit seinem eigenen Geburtsdatum ersetzte. Zum heimischen Top-Ten-Hit reichte es auch für den Siegersong ‘Il Cuore è uno Zingara’ (‘Das Herz ist ein Zigeuner’) von Nada Malanima und Nicola di Bari.
Vorentscheid* IT 1971
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 27. Februar 1971, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 28 Teilnehmer:innen. Moderation: Carlo Giuffré und Elsa Martinelli.* Für den ESC ausgewählt wurde stattdessen der Sieger des Festivals Canzonissma, Massimo Ranieri.
Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|
Nada Malanima | Nicola di Bari | Il Cuore è un Zingaro | 357 | 01 | 05 | 02 |
Ricchi e Poveri | José Feliciano | Che sarà | 316 | 02 | 08 | 03 |
Lucio Dalla | Equipe 84 | 4 Marzo 1943 | 297 | 03 | 01 | 17 |
Donatello | Marisa Sannia | Com’è dolce la Sera | 134 | 04 | 11 | – |
Adriano Celentano | Coro Alpino Milanese | Sotto le Lenzuola | 115 | 05 | 04 | – |
Domenico Modugno | Carmen Villani | Come stai? | 095 | 06 | 08 | – |
Don Backy | Gianni Nazzaro | Bianchi Cristalli sereni | 076 | 07 | 13 | – |
Al Bano | Aguaviva | 13, Storia d’Oggi | 069 | 08 | 06 | 23 |
Gigliola Cinquetti | Ray Coniff | Rose nel Buio | 058 | 09 | 09 | – |
Caterina Caselli | Dik Dik | Ninna nanna (Cuore mio) | 056 | 10 | 24 | 20 |
Pino Donaggio | Peppino di Capri | L’ultimo Romantico | 050 | 11 | – | – |
Little Tony | Formula 3 | La folle Corsa | 043 | 12 | 15 | 18 |
Sergio Endrigo | New Trolls | Una Storia | 030 | 13 | – | – |
Sergio Menegale | Wallace Connection | Il Sorriso il Paradiso | 018 | 14 | – | – |
‘Zwanzig Jahre’ zählte Massimo Ranieri bei seinem Canzonissima-Sieg noch nicht (Playlist mit allen acht Finaltiteln in der Reihenfolge der Platzierung).
Falls ihnen bei allen bislang erwähnten Liedern der Grand-Prix-Bezug fehlt, dann deswegen, weil das San-Remo-Festival, wie bereits bei der letzten Ausgabe, aus mir unbekanntem Grunde heuer nicht zur Ermittlung des italienischen Beitrags diente. 1972 sollte das jedoch wieder der Fall sein, weswegen ich die Reihe einfach nicht unterbrechen wollte. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach! Stattdessen griff die Rai bei der Ernennung ihres Eurovisionsrepräsentanten erneut auf ein anderes, von ihr seit 1956 regelmäßig veranstaltetes Liederfestival zurück, nämlich die stets über den Jahreswechsel hinweg stattfindende Reihe Canzonissima. Dort gewann im Januar 1971 der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene und von seiner Familie schon als Kind zur Einkommensaufstockung durch Straßengesang eingesetzte Massimo Ranieri (bürgerlich: Giovanni Calone) mit der Schlagerschnulze ‘Vent’Anni’ und landete damit seinen ersten Nummer-Eins-Hit. Für Dublin stattete man ihn mit der nicht weniger schnulzigen Trennungsschmerzballade ‘L’Amore è un Attimo’ (‘Die Liebe ist ein Augenblick’) aus, in welcher er seiner Angebeteten augenscheinlich aus Eifersuchtsgründen den Laufpass gibt und ihr per Zug entflieht, zugleich jedoch larmoyant seine Melancholie beklagt. Mit angemessener Schmacht in der Stimme intoniert, reichte das für einen gerechten fünften Platz.
Auch der Moderator der französischen TV-Show, in welcher Massimo seinen Eurovisionsbeitrag bewirbt, scheint vom guten Aussehen des Schlagersängers bezaubert. Wer will es ihm verdenken?
Vorentscheid* IT 1971
Canzonissima. Mittwoch, 6. Januar 1971, aus dem Teatro delle Vittorie in Rom. Acht Teilnehmer:innen. Moderation: Corrado, Raffaella Carrà.*Die Rai entsandte den Sieger, Massimo Ranieri, mit einem anderen Song zum ESC 1971.
# | Interpreten | Songtitel | Jury | Postkarten | Platz |
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01 | Orietta Berti | Ah, l’amore che cos’è | 035 | 393.603 | 05 |
02 | Mino Reitano | Una ferita in fondo al cuore | 083 | 530.969 | 03 |
03 | Iva Zanicchi | Una storia di mezzanotte | 025 | 170.013 | 06 |
04 | Massimo Ranieri | Vent’anni | 213 | 1.328.255 | 01 |
05 | Caterina Caselli | Viale Kennedy | 012 | 73.695 | 08 |
06 | Claudio Villa | Non è la pioggia | 042 | 599.453 | 04 |
07 | Marisa Sannia | La primavera | 028 | 101.501 | 07 |
08 | Gianni Morandi | Capriccio | 062 | 917.353 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 10.08.2021
San-Remo-Festival 1972 >