Heftige Auseinandersetzungen tobten Anfang der Siebzigerjahre hinter den Kulissen des Song Contests, unter anderem um das schon mehrfach geänderte Wertungssystem und über die Besetzung der Jurys. Noch immer gärte der Eklat des Vierfachsieges von 1969 nach, der im Vorjahr für einen Teilboykott durch fünf Länder gesorgt hatte. Selbst Deutschland, seit jeher die unerschütterlichste Eurovisionsnation, drohte mit dem Ausstieg aus der Gemeinschaftsveranstaltung, sollte sie sich nicht endlich dem Zeitgeist annähern. Doch der Grand Prix ist bekanntlich unkaputtbar, und so einigte man sich, ganz europäisch, auf einen Kompromiss. Dessen augenfälligstes Ergebnis war, dass die Jurys jetzt vor der Kamera und damit für alle sichtbar ihre Punkte verteilten, statt wie bislang im Hinterzimmer. Zumindest in diesem Jahr sorgte das tatsächlich für annehmbare Abstimmungsergebnisse, vermutlich aus Angst der Beteiligten vor einem wütenden Lynchmob. Allerdings machte es die Ergebnisauszählung, eigentlich der für die Zuschauer:innen attraktivste Teil des Abends, vor allem durch die Zusammenfassung der Jurys zu Dreiergruppen ziemlich unübersichtlich und zäh.
Orchester, TV-Kameras, Moderatorin, Punktetafel: neben all den technischen Erforderlichkeiten passten noch ungefähr 20 Zuschauer:innen ins Gaiety Theater zu Dublin.
Das neue Verfahren sorgte zumindest für eine Rückkehr zu alter Besetzungsstärke: nach nur zwölf Ländern in Amsterdam gingen in Dublin nun 18 Staaten ins Rennen um die europäische Chansonkrone. Zu den Rückkehrern zählte neben den Skandinavier:innen (minus Dänemark, das bereits seit 1967 aussetzte) und Portugal auch Österreich, das sich eigentlich viel zu spät angemeldet hatte und nur deswegen noch eine Gnadenzulassung bekam, weil es geschickt darauf hinwies, dass sich 18 besser durch drei teilen lässt als 17. Zur Strafe musste es von Startplatz 1 aus ins Rennen. Der galt bis 1975, als eine weitere Österreicherin, nämlich die für Holland singende Getty Kaspers, von dieser Position aus siegte, als verflucht. Der ORF schickte die wie stets intern ausgewählte, großartige Marianne Mendt, die kurz zuvor auch bei uns mit ihrer Debüt-Single, dem grandiosen Gospelschlager ‘Wie a Glockn (die 24 Stunden läut)’, für Aufsehen gesorgt hatte. Ihren kommerzkritischen, mundartlich gesungenen Grand-Prix-Beitrag ‘Musik’, der als eine Art Geburtsstunde des Austropop gilt, trug sie mit beeindruckender Stimmkraft und Verve vor, auch wenn ihr kurz vor Schluss ein einzelner falscher Ton herausschlüpfte, was sie für Sekundenbruchteile sichtlich irritierte. Ganz der Profi, sammelte sich Frau Mendt aber sofort und beendete ihren Auftritt mit Bravour. Letztlich scheiterte sie wohl an der Sprachgrenze.
“Der überambitionierte österreichische Jazz- und Chanson-Versuch” (Thomas Hermanns): Marianne Mendt (AT) gibt alles, erinnert aber optisch ein wenig an Betty Boop.
So wie auch die ihren Eurovisionseinstand feiernde Mittelmeerinsel Malta. Die versuchte es zunächst mit landessprachlicher Folklore. Und das Mutter-Idiom der Insulaner:innen (zweite Amtssprache ist, der zeitweiligen Besetzung durch die Briten sei Dank, Englisch) besteht aus einer sehr eigenartigen Kreuzung von melodisch-weichem Italienisch und dem für europäische Ohren eher aggressiv klingenden Arabisch. Folgerichtig erhielt Joe Grechs mit einem patriotisch-religiösen Subtext aufgeladener Tavernenschlager ‘Marija L’Maltija’, von dem kotelettentragenden Künstler mit extremem Overacting dargeboten, als Begrüßungsgeschenk die Rote Laterne. Was auch an der fiesen Klatschfalle gelegen haben mag, in die uns der tückische Joe arglos lockte. Zu den überfälligen Ergebnissen des Ringens um Modernisierung beim Grand Prix zählte die amtliche Zulassung von Gruppen (mit maximal sechs Personen) ab diesem Jahr. Die Schweizer:innen, sonst eigentlich nie vorneweg, nutzten als Erste die neue Regel und schickten ganz offiziell ein ebenfalls intern bestimmtes Gesangstrio. Peter, Sue & Marc traten im Laufe der nächsten Jahrzehnte insgesamt viermal für die Eidgenossenschaft an, jedes mal in einer anderen Sprache. Mit dem Belgier Fud Leclerc und der Sanmarinesse Valentina Monetta teilen sie sich den Rekord für die meisten Eurovisionsteilnahmen. Bei ihrer Grand-Prix-Première mit dem nachdenklichen Liedermacherstück ‘Les Illusions de nos vingt Ans’ reichte es für eine Position im Mittelfeld.
Illusionen hast Du Dir gemacht: Peter Reber, Sue Schell und Marc Dietrich (CH).
Wie gut sich hingegen ein Medaillenplatz anfühlt, selbst ein bronzener, hatten die Deutschen im Vorjahr erstmalig erfahren dürfen. Die bis dato ungewohnte Droge des Erfolges berauschte sie so stark, dass sie sofort den nächsten Schuss wollten und die hierfür verantwortliche Katja Ebstein gleich noch mal nominierten. Kommt einem irgendwie bekannt vor, gelle? Eine ausgezeichnete Wahl übrigens: Katja brachte den in einer reinen Song-Auswahl bestimmten, sensationellen Ökoschlager ‘Diese Welt’ zu Gehör, mit dem die den Sozialdemokraten nahestehende Künstlerin all die seinerzeit beispielsweise im Ruhrgebiet oder der Gegend um Bitterfeld täglich erlebbaren Missstände (“Rauch aus tausend Schloten senkt sich über Stadt und Land”) thematisierte, die eine Dekade später zur Gründung der Grünen führten. Mit dieser durch das appellative “Was werden soll, liegt an Dir” fraglos als politisch zu verstehenden Contest-Perle, in ihrem spannungsreich-düsteren Unterton auch musikalisch von exzellenter Qualität, zeigte sich die Ebstein hinsichtlich der uns mit Sicherheit noch in diesem Jahrhundert in die Apokalypse führenden Klimakatastrophe seherisch und ihrer Zeit weit voraus. Vielleicht zu weit: obschon es sich bei ‘Diese Welt’ um den eindeutig besten Beitrag beim Hauptwettbewerb in Dublin handelte, kam erneut nur der dritte Platz heraus.
https://www.youtube.com/watch?v=u0lg1LcfHBQ
Dieses Lied, dieses Lied, hat die Katja uns geschenkt (DE).
Vor Katja landete die direkt nach ihr gestartete Spanierin Karina, angetan in einem Maxikleid mit einem kreisrunden Loch auf Höhe der zarten Fesseln: ob hier die Idee für Goldie Hawns “Ich kann Dich durchschauen!”-Kleid in ‘Der Tod steht ihr gut’ herstammt? ‘En un Mundo nuevo’ muss man als ein in der beginnenden Endphase des Franco-Regimes beinahe schon mutiges Lied bezeichnen, das – wenn auch schlagertypisch unbestimmt – die in der Luft liegende Hoffnung auf ein besseres Morgen in einer neuen Welt besang. Ärgerlich: während Karinas erster Textzeile war ihr Mikrofon noch nicht auf. Schön: der sanfte musikalische Auftakt und die gleich zwei Rückungen. Nur der infernalische, komplett unnötige Marschkapellen-Nachklapp trübte erheblich den Genuss. Interessantes Detail: Karina (bürgerlich: María Isabel Bárbara Llaudes) nahm ihren Titel auch in einer fast wörtlich übersetzten deutschen Version auf (‘Wir glauben an morgen’, akzentfrei nachgesungen dann von Mary Roos), während die Ebstein von ihrem die Dinge beim Namen nennenden, auf Veränderung setzenden Ökoschlager auch eine sehr eindringliche spanische Fassung (‘Este Mundo siempre asì’) einspielte. Beide Songs trafen perfekt die überall zu spürende Aufbruchstimmung der beginnenden siebziger Jahre, in der die Menschen tatsächlich noch an ein neues, besseres Morgen glaubten. Blöd nur, dass wir es seither so gründlich und irreversibel vergeigten.
https://www.youtube.com/watch?v=Eu542570ej4
Dann mach ich mir ein Loch ins Kleid und find es wunderbar: Karina (ES).
Nach diesen Höhenflügen wieder zurück in die Niederungen des Contestgeschäftes. Bei den nächsten beiden musikalisch völlig uninteressanten Nummern aus Frankreich und Luxemburg bildeten die Songtitel eine erzählerische Brücke: während der sich offenbar selbst die Haare schneidende gallische Chansonnier Serge Lama noch ziellos im ‘Jardin sur la Terre’ (‘Garten auf Erden’) umherspazierte, sammelte seine ausnahmsweise tatsächlich aus dem Großherzogtum entstammende und bizarrerweise eine aus Bluejeans-Stoff gefertigte Latzhosen-Hotpants tragende Kollegin Monique Melsen hinter ihm bereits die biblischen Früchte der Sünde (‘Pomme, Pomme, Pomme’) auf. Großbritannien entsandte einen etwas verhärmt wirkenden Abklatsch der Vorjahresvertreterin Mary Hopkin: Clodagh Rodgers verfügte über eine deutlich schwächere Stimme, zeigte dafür aber deutlich mehr Bein. In ihrem flotten, mehr geklopften als gesungenen Beitrag ‘Jack in the Box’ (Charts: UK #4, DE #36, BE #3) degradierte sich die Sängerin textlich zum allzeit auf Knopfdruck bereiten Spielzeug: ihre Autoren hatten am Beispiel des letzten britischen Siegersongs ‘Puppet on a String’ “bewusst studiert”, wie ein Grand-Prix-Lied beschaffen sein müsste, und ließen sich so zur (sexistischen) Spielzeugthematik inspirieren.
https://www.youtube.com/watch?v=GS7maxnnnYM
Für Deine Liebe tut sie alles und springt sogar auf und ab an Deiner Schnur: Clodagh “Hotpants” Rodgers (UK).
Musikalisch glich der Kirmesschlager ziemlich dem Vorjahresbeitrag ‘Knock knock, who’s there?’ und folgte mit seinen prominenten Trommelmotiven konsequent der von Cliff Richard bereits drei Jahre zuvor gelegten Tonspur. “Poch, Poch, wer da?” – wenn es in dieser Ära irgendwo klopfte, konnte man sicher sein: die Briten stehen vor der Tür. Die zeigten sich wegen des eskalierenden Konfliktes mit der IRA besorgt über die Frage, wen sie nach Dublin schicken sollten, und hatten die gebürtige Nordirin Clodagh, die den Londoner Vorentscheid alleine bestritt, als Wogenglätterin gewählt. Auch die 2016 verstorbene Kommentatorenlegende Terry Wogan kam so zu seinem Job: der Ire war erst wenige Wochen vor dem Contest von RTÉ zur BBC gewechselt. Er sollte für die nächsten Jahrzehnte die Wahrnehmung des Wettbewerbs auf der Insel mit seinen sarkastischen Spitzen entscheidend prägen, zunächst im Radio, später im TV und 1998 gar als Moderator des Meilenstein-Wettbewerbs von Birmingham. Den flockigen flämischen Easy-Listening-Beitrag ‘Goeiemorgen, morgen’, ein Song wie ein lauwarmer Milchkaffee, hatte beim ausgeuferten belgischen Vorentscheid noch das Kultschlagerduo Nicole & Hugo präsentiert. Aufgrund einer Gelbsucht Nicoles mussten in Dublin jedoch kurzfristig der ehemalige flämische Vertreter Jacques Raymond und die als Alice van Acker geborene Lily Castel einspringen. Die bemühten sich zwar, sich die raumgreifend-exaltierte Choreografie der ursprünglichen Vertreter:innen in der Kürze der Zeit noch drauf zu schaffen, vermittelten aber doch eher den Eindruck eines Ehepaars in den besten Jahren, das sich versehentlich in eine Disco verirrt hat.
Der Link zwischen The Mamas & the Papas und Abba: Family Four (SE).
Für Italien trat diesmal nicht der Sieger des San-Remo-Festivals an, sondern der von der Rai intern zum Grand-Prix-Repräsentanten bestimmte Gewinner des Konkurrenzwettbewerbs Canzonissimo. Massimo Ranieri intonierte seine gefühlssturmkitschige, mandolinengeschwängerte Trennungsschmerzballade ‘L’Amore é un Attimo’ (‘Die Liebe ist ein Augenblick’) mit derartig expressionistischer Hingabe und Dramatik, dass man stellenweise befürchtete, es könne das hübsche Kerlchen jeden Moment vor laufenden Kameras zerreißen. Gott sei Dank blieb er heil: so konnte er zwei Jahre später zum Contest zurückkehren. Der Neapolitaner nahm seine Nummer in mehreren Sprachen auf, darunter in einer sehr possierlichen deutschen Fassung als ‘Die Liebe ist ein Traum’. Sein etwas weniger expressionistisch agierender belgischer Eurovisionskollege Luis Neefs coverte den Schlager als ‘Omdat ik van je hou’. Neben der Schweiz nutzte auch das wieder in den Schoß der Grand-Prix-Familie zurückgekehrte Schweden die neue Gruppenfreiheit mit der tatsächlich als Geschwisterquartett gestarteten, aufgrund eines tragischen Unfalltodes aber mittlerweile fremdaufgestockten Family Four: zwei bärtige Herren, zwei Damen, die eine blond, die andere brünett, eine davon mit Namen Agneta, und im Gepäck eine optimistisch swingende Durmelodie (‘Vita vidder’). Wieso kommt einem das Konzept nur so bekannt vor?
Gibt wirklich alles: Massimo (IT).
Die pfiffigen Finnen arbeiten weiter hart an ihrer Marktführerschaft im Sektor der Grand-Prix-Skurrilitäten: ihr langhaarbehelmter Vertreter Markku Aro fand sich in Begleitung der beiden pünktlich zum ersten Refrain wie aus dem Nichts auftauchenden blonden Schwestern Anja und Anneli Koivisto, die mit einem beinahe schon übertrieben strahlenden Lächeln und einer beherzt abgearbeiteten, hochgradig unterhaltsamen Synchrontanz-Choreografie sehr erfolgreich von der schlagerhaften Mittelmäßigkeit des Beitrags ‘Tie uuteen Päivään’ (‘Weg in einen neuen Tag’, ein weiteres Glanzstück der aktuellen Aufbruchsstimmungs-Kollektion) abzulenken vermochten. So erfolgreich, dass gar ein Platz auf der linken Seite des Scoreboards heraussprang. Anders als für Norwegen: für das Wikingervolk listete die erst fünfzehnjährige, gut beschirmte Hanne Krogh auf, was ihrer Meinung nach Glück sei: ‘Lykken er…’: “eine Steuerrückzahlung”, “eine Stunde in der Badewanne” oder “Hering in Dillsoße”. Für den Hering sicher nicht, außer man lässt ihn am Leben und füllt die Dillsoße in die Badewanne! Doch auch Hanne brachte die süßliche, ein wenig zu sehr am letztjährigen Siegertitel ‘All kinds of everything’ angelehnte Nummer wenig Fortune: Platz 17.
Auf der Straße nach Norden: Markko und die Koivistolaiset (FI).
Das Gastgeberland schickte eine singende Schwarzwälder Kirschtorte namens Angela Farrell. Das arme Ding litt unter einer akuten Halsentzündung, was sich nach der ersten, tapfer durchgestandenen Minute dann doch bemerkbar machte. Es tat körperlich weh, zuzuhören und mitzuleiden. Wichtiger als ihr entsprechend schlechtes Ergebnis war dem Sender RTÉ aber, erstmals überhaupt einen Event dieser Größenordnung gestemmt zu haben. Nach Recherchen von Gordon Roxburgh gab man 44.000 € alleine für die notwendige technische Umstellung von Schwarzweiß auf Farbe aus, was im Vorfeld zu erbitterter interner Opposition wegen der hohen Kosten führte. Hinterher bilanzierte man heilfroh, dass “die Reputation” der TV-Station noch “intakt” sei, wie der spätere Unterhaltungschef David Blake Knox in seinem Buch ‘Ireland and the Eurovision’ so schön formuliert. Das von den Niederlanden entsandte Liedermacherpärchen Saskia & Serge, das keine all zu gute ‘Tijd’ auf der Bühne hatte, könnte da womöglich widersprechen: aus Misstrauen gegenüber dem RTÉ-Orchester ließen sie die ihren mediäval anmutenden Beitrag musikalisch prägenden Blockflöten von eigens mitgebrachten Flötist:innen spielen. Zudem produzierte Saskias Mikrofon ständig entweder Tonausfälle oder fiese Rückkoppelungen. Und der fusselbärtige Serge musste sein Saiteninstrument direkt unter dem Kinn tragend zupfen, weil man scheinbar vergaß, ihm ein zusätzliches Gitarrenmikro zu installieren.
https://www.youtube.com/watch?v=qf3V2LiKavw
Ein frühes Hipsterpärchen: Saskia & Serge (NL).
Ungewohnten Optimismus verbreiteten die Portugiesen: obwohl das irische Orchester ihren fröhlichen Folkschlager ‘Menina’ (‘Mädchen’) nur mit ungefähr der Hälfte des Tempos der fast schon speedmetalartig schnellen Studiofassung zelebrierte, gehört der Titel zu den wenigen lusitanischen Grand-Prix-Beiträgen, die nicht in die unmittelbare Depression führen. Ein kurzer Kameraschwenk ins Publikum direkt nach Tonichas Performance (in einem wirklich farbenfrohen Maxikleid) sorgte für den Kultmoment des Abends, zeigte er doch eine für wenige Sekunden enthusiastisch applaudierende Zuschauerin, die plötzlich mitten in der Bewegung einfror, so als habe ihr jemand den Stecker gezogen. Oder wurden wir hier Zeugen eines Fehlers in der Matrix? Modegeschichte schrieb auch der jugoslawische Vertreter Krunoslav Slabniac: der Kroate hatte sich in eine Art Torero-Kostüm geworfen, das aussah wie aus einem Wandteppich genäht. Da der Kragen großräumig fehlte, reflektierte sein persilweißes Hemd das Bühnenlicht so stark, dass er zeitweilig wie ein freischwebender Torso ohne Unterleib anmutete. Seine hochgradig melodramatische Trennungsschmerzballade ‘Tvoj Dječak je tužan’ (‘Dein Junge ist traurig’), vom Eurovisionskollegen Ivica Krajač komponiert und späteren Balkan-Schmachtfetzen wie ‘Lane Moje’ durchaus ebenbürtig, stieß allerdings auf taube westeuropäische Jurorenohren.
Eine Farbexplosion: Antónia de Jesus Montes Tonicha Viegas (PT).
Wie zuletzt 1959 durften nach der Stimmauszählung neben der Siegerin auch die Silber- und Bronzemedaillistinnen Karina und Katja nochmals kurz auf die Bühne, allerdings nur, um einen Blumenstrauß und eine Urkunde in Empfang zu nehmen. Es gewann eine kleine, verhältnismäßig korpulente Pariser Sängerin mit Sturzhelmfrisur, die nach einer erfolglosen Listung bei der hausinternen französischen Auswahl mit dem netten Beatschlager ‘Viens’ nun allerdings für das finanziell gut situierte Monaco an den Start ging. Séverine zählt unbestreitbar zu denen, die den Contest durch schiere Willenskraft bezwangen. Was sich vor allem im letzten Refrain ihrer unwiderstehlichen, kraftvollen Mein-Park-soll-schöner-werden-Hymne ‘Un Banc, un Arbre, une Rue’ (‘Eine Bank, ein Baum, eine Straße’) manifestierte, als sie nach der Rückung die kurzen Ärmchen völlig entfesselt in die Luft warf und derartig enthusiastisch und voller glühender Verve sang, dass die Juror:innen gar nicht anders konnten, als sie zur Belohnung mit Punkten zu überhäufen. Auch ihr männlicher Begleitchor ließ sich von Séverines Begeisterung anstecken und gab alles, nachdem er sich zuvor schon mit dem mantraartigen Durchsummen des Refrains während der wenigen Strophen in Stimmung gebracht hatte.
Teilte sich mit Severine eine Frisur: Krunoslav (YU).
Und auch wenn sich das winzig kleine Fürstentum, welches die ursprünglich angedachte Austragung des Contests im Folgejahr vor unüberwindbare logistische Hindernisse stellte, über Séverines Sieg (und ihre in einem Interview getätigte Aussage, den Stadtstaat, für den sie sang, noch nie besucht zu haben) nicht amüsiert zeigte, bleibt ihr das Wissen um einen unsterblichen Auftritt und einen vielfach, unter anderem von den Song-Contest-Kolleginnen Kirsti Sparboe, Siw Malmkvist, Marianne Rosenberg und Tereza Kesovija gecoverten, europaweiten Millionenseller (Charts: #13 NL, #9 UK, #5 CH, #3 BE, #2 NO). Als beschämend muss man aber bezeichnen, was die Deutschen ihr antaten. Nicht nur musste Josiane Grizeau (so ihr bürgerlicher Name) für den germanischen Schlagermarkt eine unsägliche, phonetisch eingesungene Fassung ihres Grand-Prix-Titels aufnehmen: ‘Mach die Augen zu (und wünsch Dir einen Traum)’ verkaufte sich hierzulande sogar einen Tick besser (Singlecharts: #20, während das Original auf #23 verendete). Was zur Folge hatte, dass sie anschließend mit grausligen Bierzeltschlagern durch deutsche TV-Shows tingelte. Und sich 1975 und 1982 gar beim deutschen Vorentscheid bewarb, natürlich umsonst.
https://www.youtube.com/watch?v=T6ERpWOsXYs
Glaub an Dich selbst und es wird gelingen: Séverine (MC).
Eurovision Song Contest 1971
Eurovision Song Contest. Samstag, 3. April 1971, aus dem Gaiety Theatre in Dublin, Irland. 18 Teilnehmerländer, Moderation: Bernadette Ní Challchoir.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | AT | Marianne Mendt | Musik | 066 | 16 |
02 | MT | Joe Grech | Marija L‑Maltija | 052 | 18 |
03 | MC | Séverine | Un Banc, un Arbre, une Rue | 128 | 01 |
04 | CH | Peter, Sue & Marc | Les Illusions de nos vingt Ans | 078 | 12 |
05 | DE | Katja Ebstein | Diese Welt | 100 | 03 |
06 | ES | Karina | En un Mundo nuevo | 116 | 02 |
07 | FR | Serge Lama | Un Jardin sur la Terre | 082 | 10 |
08 | LU | Monique Melsen | Pomme, Pomme, Pomme | 070 | 13 |
09 | UK | Clodagh Rodgers | Jack in the Box | 098 | 04 |
10 | BE | Jacques Raymond + Lily Castel | Goeie Morgen, Morgen | 068 | 14 |
11 | IT | Massimo Ranieri | L’Amore è un Attimo | 091 | 05 |
12 | SE | Family Four | Vita vidder | 085 | 07 |
13 | IE | Angela Farrell | One Day Love | 079 | 11 |
14 | NL | Serge & Saskia | Tjid | 085 | 06 |
15 | PT | Tonicha | Menina | 083 | 09 |
16 | YU | Krunoslav Slabinac | Tvoj dječak je tužan | 068 | 15 |
17 | FI | Markku Aro + Koivisitolaiset | Tie uuteen Päivään | 084 | 08 |
18 | NO | Hanne Krogh | Lykken er | 065 | 17 |
Letzte Aktualisierung: 20.07.2021
Sorry, bei Monique’s Apfel hat sich ein Wurm eingeschlichen – sie belegte zum Glück nicht den 3.Platz 🙂
Ist korrigiert. Herzlichen Dank!
Das mit der Korpulenz bei Séverine ist so eine Sache: Einmal hat sie wirklich viel auf den Rippen: https://www.youtube.com/watch?v=hSsOOL8HRD4, https://www.youtube.com/watch?v=buCawFFWikA (obwohl sie hier fast so aussieht, als würde sie eine Art Fatsuit unter der Kleidung tragen)
Dann ist sie wieder ziemlich schlank: https://www.youtube.com/watch?v=Xxxfd92nt94
Die Frau litt/leidet wohl an ziemlichen Gewichtsschwankungen :/
Terry Wogan ist doch nicht 1996 gestorben, sondern 20 Jahre später!
Was sind schon 20 Jahre unter Freunden? 🙂 Danke für den Hinweis, ist korrigiert!
Es ist das Gaiety Theatre, nicht das Point Theatre (wie unter dem Video steht) 1971 ^^
Danke für den Hinweis, ist korrigiert.
Nanu, da wurde ja am Text ein bisschen was geändert!
Ich hab mich immer gefragt, wann ich zum ersten Mal Textänderungen, bzw. ‑anpassungen aufgrund neuer Informationen (war das hier der Grund?) selbst feststellen würde, und siehe da, hier sind sie!
@Hendi: schön, wenn es auffällt. Ich überarbeitete die Texte bei Gelegenheit, entweder aufgrund neuer Informationen oder weil ich mit einzelnen Formulierungen nicht mehr glücklich war. Oder weil ich den Jahrgang mir mal wieder angeschaut habe und mir neue Dinge aufgefallen sind. Das Datum der letzten Änderung steht jeweils unterhalb der Punktetabelle.