1972: unbestreitbar das beste deutsche Grand-Prix-Jahr aller Zeiten, eingeleitet von einer Vorentscheidung der Superlative! Als Gemeinschaftsproduktion des Hessischen Rundfunks und des Senders Freies (vulgo: West-) Berlin trumpfte die Veranstaltung mit einem großen Orchester unter der kompetenten Leitung von Paul Kuhn, lustigen Balletteinlagen, einem fantastischen, sehr engagierten Chor (den Rosy Singers) und gleich zwei charmanten Moderatorinnen auf: nämlich mit Renate Bauer vom SFB (mit topmodisch-revolutionärer Damenkrawatte) und der adrett-seriösen “Lottofee” Karin Tietze-Ludwig vom hr, die wir 1975 nochmals in dieser Tätigkeit sehen sollten. Sie hatten insgesamt zwölf Titel anzusagen, deren Interpret:innen erstmals direkt von den Plattenfirmen nominiert wurden. Was sich in einem hochkarätigen Angebot sowohl an aktuellen Schlagerstars als auch in der ausgezeichneten Qualität der meisten Wettbewerbsbeiträge niederschlug. Nur eine musste man gen Luxemburg ziehen lassen: Vicky Leandros, die ihren Eurovisionssiegertitel ‘Aprés toi’ (deutsch: ‘Dann kamst Du’) zunächst der ARD anbot, sich aber keiner Konkurrenz stellen wollte. Da man zu diesem Zeitpunkt bereits mitten in den Vorbereitung zum Lied für Edinburgh steckte, lehnte das deutsche Fernsehen dankend ab, wohl auch zur Erleichterung der Interpretin, die ohnehin lieber auf Französisch sang, weil das edler klang.
Vicky Leandros: ob sie mit der deutschen Fassung ihres dann für Luxemburg auf französisch gesungenen Beitrags wohl ebenfalls den ESC gewonnen hätte? Für einen Top-Hit auf dem Heimatmarkt reichte es jedenfalls.
Die vor zwei Jahren noch kurzfristig krankheitsbedingt ausgefallene Edina Pop (bürgerlich: Marika Késmárky) eröffnete den Reigen mit einem von Ralph Siegel getexteten (!) Schlager – die Première von Mr. Grand Prix! Versteckt hinter einer riesengroßen Sonnenbrille, ihrem Markenzeichen, legte Frau Pop viel Leidenschaft in den eher vergessenswürdigen Beitrag ‘Meine Liebe will ich Dir geben’, aus dem sie ebenso wenig einem Hit generieren konnte wie aus ihrer deutschsprachigen Coverversion des Eurovisionsliedes ‘Vivo Cantanto’ (ES 1969, bei ihr ‘Zwischen Wolga und Don’). Mit ‘Komm, komm zu mir’, ihrer Fassung von ‘Knock, knock, who’s there’ (UK 1970), hatte sie hingegen immerhin noch #35 der deutschen Charts klargemacht. Ungleich größere Erfolge feierte sie ab 1979 als Teil von Siegels Retortenformation Dschinghis Khan. Der im Sommer 2021 verstorbene Teddy Parker (bürgerlich: Claus Herwig) ließ mit der Freddy-Quinn-Reminiszenz ‘Ich setze auf Dich’ für drei Minuten die goldenen Fünfziger wieder aufleben und wurde damit Vorletzter. Die von meinem Vater besonders innig verehrte Olivia Molina, eine so stimmstarke wie gutaussehende mexikanischstämmige Sängerin mit unglaublich großem Mund und einem bei Katja Ebstein abgeschauten Fransenpony, setzte auf billige Zirkusromantik, ging in der ‘Größten Manège der Welt’ aber zu Recht unter.
So richtiger Pop ist das aber nicht, Edina! (Plus Playlist mit allen zwölf Vorentscheidungstiteln in Startreihenfolge).
Etwas ratlos ließen Cindy & Bert das anwesende Berliner Studiopublikum zurück. Das in der späteren Hitparadenkarriere meist auf harmlos-süffige Urlaubsschlager abonnierte saarländische Pärchen intonierte mit dem sensationellen, mit gleich zwei (!) Rückungen aufwartenden Gospelknüller ‘Geh die Straße’ das nach dem experimentellen Black-Sabbath-Cover ‘Der Hund von Baskerville’ wohl außergewöhnlichste Lied seines gesamten Repertoires – und seine erste Hitsingle. Für den rundweg fantastischen, mit Verve und Soul vorgetragenen Song, fraglos der beste Beitrag des Abends, ernteten die Beiden nichtsdestotrotz nur einen sehr verhaltenen Applaus. Lag es an den schlimmen, unpassenden Puffärmeln der Sängerin? Hatte das Publikum mit einer solchermaßen herausragenden Darbietung erst gar nicht gerechnet (selbst Cindy schien an einigen Stellen leicht erschrocken zu sein, welche Töne ihrem zarten Leib entfuhren) und war noch damit beschäftigt, die Toupets wieder aufzusammeln, die Frau Berger und die mit vollem Einsatz unterstützenden Rosy Singers den Herren vom Kopf bliesen? War man missgestimmt, weil der dynamische Rhythmus keine Gelegenheit zum stumpfen Mitklatschen bot? Oder hallte hier noch der alte Reflex der späten Fünfziger nach, in denen man “Schwarze” Musik fürchtete wie den Leibhaftigen? Es bleibt ein vollkommenes Rätsel.
Geh die Straße nach New Orleans: C&B in Gospelschlagerekstase.
Es folgte die großartige Marion Maerz, deren größter Hit ‘Er ist wieder da’ nun sieben Jahre zurück lag und die sich für das angestrebte Comeback mit dem ebenfalls merklich angegospelten ‘Hallelujah Man’ von Klaus Doldinger ein ziemlich gutes Stück hatte schreiben lassen, dies aber in einem völlig unpassenden, eher einer Nicole würdigen, folkloristischen Rüschchenkleidchen vortrug. Unglücklicherweise rüstete man die Bühne hinter ihr noch mit einem Spiegelkabinett auf, um das optische Grauen ins Unendliche zu vervielfachen. Keine gute Idee! Nur drei Jahre später schenkten sie und ihr damaliger Partner Frank Elstner ihrer Tochter Masha Litterscheid das Leben, die es 2004 beim Vorentscheid versuchen wollte, dort aber nicht zum Zuge kam. “Viel hilft viel” war schon immer das Motto von Ralph Siegel, und so hatte er auch an diesem Abend noch einen zweiten Pfeil im Köcher. Nämlich in Form von Adrian Wolf, einem ehemaligen Hamburger Knabenchorist. Vermutlich als Siegelsche Antwort auf Jürgen Marcus gedacht, entpuppte er sich in der Realität allerdings eher als Schmalspurausgabe von Bernd Clüver. Siegels unausgegorener Soundmix (hier hatte er komponiert, was man sofort hört) endete als verdientes Schlusslicht. Herr Wolf veröffentlichte später ein paar Schlager auf niederländisch, hinterließ aber keinen bleibenden Eindruck in der europäischen Musikgeschichte.
Die Afro-Deutsche: Su Kramer.
Zum sofortigen Publikumsliebling im Hauptstadtstudio avancierte die fabelhafte Su Kramer, die zuvor gemeinsam mit Jürgen Marcus und Donna Summer im Muscial ‘Hair’ gespielt hatte. Kein Wunder angesichts eines sofort eingängigen, feministisch-discotastischen Selbstermächtigungschlagers mit aufbauendem Alles-wird-gut-Text (“Du musst Dir vertrau’n und es wird gelingen”), ihrer modischen Afrowelle und eines ausgesprochen offenherzigen Hosenkleids, das dreißig Jahre später Kylie Minogue zu einem ähnlich gewagten, ebenfalls nur mit knackigen sekundären Geschlechtsmerkmalen tragbaren Dress im Videoclip zu ‘Can’t get you out of my Head’ inspirieren sollte. ‘Glaub an Dich selbst’: die Kramer tat es offenbar. Und mit Recht! Inga & Wolf bildeten als alternativ kostümiertes Songschreiberpärchen einen akustischen wie optischen Kontrapunkt. Ihr von Reinhard Mey (unter dem Pseudonym Alfons Yondraschek) komponierter Evergreen ‘Gute Nacht, Freunde’ besang, wenig überraschend, das Hohelied der Freundschaft. Unvergessen die von seligen Zeiten des reuelosen Genusses erzählenden Zeilen “Was ich noch zu sagen hätte / dauert eine Zigarette / und ein letztes Fass Glas im Stehn”. Auch sie gehörten zu den Favoriten.
Cindy & Bert in linksalternativ: Inga & der Brillen-Wolf.
Nicht weiter der Rede Wert hingegen der Beitrag der damals wie heute völlig unbekannten Sandra Haas, vorgetragen zudem in einem die Augen beleidigenden Kleid, das noch nicht mal als Nachthemd für Seniorinnen in einem DDR-Altenheim durchgegangen wäre. Auch der in Kiel geborene Sven Jenssen hätte seinen Song ‘Grenzenlos’ besser ‘Chancenlos’ genannt: textlich war das zwar ein sehr grandprixeskes Lied der Güteklasse naïve Weltverbesserungsfantasie (“Grenzenlos wünsch ich sie mir / weil dann für immer Frieden wär”), doch von einem Peter Hofmann für Arme in Knödeltenormanier vorgetragen, entpuppte sich das im Ganzen schlicht als: hoffnungslos. Aber ein bisschen Füllstoff muss es ja immer geben, dann wirkt der Siegertitel auch um so glanzvoller. Die fabelhafte Mary Roos verfügte mit ‘Nur die Liebe lässt uns leben’ über eine von Joachim Heider (‘Er gehört zu mir’) komponierte, wirklich durch und durch superbe Hymne an die Lebenskraft spendende Macht der Liebe, vergurkte das stimmlich anspruchsvolle Chanson jedoch ziemlich. Die Rosy Singers, die ihr vor allem im Refrain die Arbeit abnahmen, und ihre langjährige Bühnenerfahrung, die sie trotz Minderleistung tapfer weiter strahlen ließ, retteten die Chose vor einem Fiasko.
Dann wird wieder Dir vergeben: die Mary, die Roos.
Der ehemalige Wiener Sängerknabe und Eurovisionsvertreter Austrias, Peter Horten Horton, bot schließlich ein heute mehr denn je aktuelles, für den konservativen Jurygeschmack aber eventuell etwas zu kritisch-anklagendes Liedermacherstück (“Wo ist die Freiheit / von der man so viel spricht?”). Mit Porschefahrerbrille und einer leicht blasierten Ausstrahlung wirkte der Österreicher außerdem ein kleines bisschen unsympathisch. Sehr bedauerlich, denn ‘Wann kommt der Morgen’ und sein von den Rosy Singers eindringlich intonierter Forderungskatalog nach Frieden, Freiheit, Morgen und Licht hatte Tiefgang und setzte dem frischen, progressiven Zeitgeist der Siebziger, der diese Vorentscheidung kraftvoll durchströmte, gewissermaßen die Krone auf. Nach einer als “Schlagersängerparodie” angekündigten Balletteinlage, die das damalige Phänomen der kilometerlangen, überall herumliegenden Mikrofonkabel auf die Schippe nahm, kam es schließlich zu der langwierigsten Auszählung in der Geschichte deutscher Vorentscheide. Zehn Juror:innen, davon fünf TV-Gewaltige sowie fünf “musikinteressierte Laien” (darunter das genervt wirkende “Fräulein” Elfriede Hilliges sowie Peter Lau, “Student der maschinellen Formgebung”, der einen schlimmen Mode‑, aber einen guten Musikgeschmack unter Beweis stellte) gaben einzeln ihre Punkte ab, die Miss Lottofee unter ganzem körperlichen Einsatz ebenso einzeln an die Magnettafel heftete.
Die Rosy Singers in Call-and-Response-Ekstase: Peter Horton liefert die Stichworte.
Um eine ermüdend lange Geschichte abzukürzen: Cindy & Bert, Mary Roos sowie punktgleich Su Kramer und Inga & Wolf kamen in die Endrunde. Sie sangen ihre Beiträge nochmals, dann folgte eine erneute Abstimmung. Diesmal durfte jedes Jurymitglied nur noch seinen persönlichen Lieblingstitel benennen. Die gastfreundlichen Inga & Wolf gingen nun überraschend komplett leer aus. Beim vorletzten Juroren lagen Cindy & Bert (die in der ersten Runde noch führten!), Mary Roos und Su Kramer mit jeweils drei Punkten gleichauf. Emil Zalud, Unterhaltungschef des Saarländischen Rundfunks und Zünglein an der Waage, stimmte, wie die meisten anderen “Profi”-Juroren, für Mary Roos – zum Missfallen des anwesenden Studiopublikums, das hörbar buhte. Auch Mary hatte wohl in realistischer Einschätzung ihrer Leistung an diesem Abend nicht an einen Sieg geglaubt und, wie sie in Jan Feddersens Buch selbst schildert, bereits mit dem Abschminken begonnen, als man sie wieder auf die Bühne rief. Sie musste einen langen Studiogang entlang rennen, während die Kamera auf dem Dirigenten Paul Kuhn ruhte, der angesichts der divaesken Verspätung der Gewinnerin auch nur völlig ratlos mit den Schultern zucken konnte.
In der englischsprachigen Fassung ihres Eurovisionsbeitrags offenbarte Mary ihre Vorliebe für frühmorgendlichen Aufwachsex (“Take me early in the Morning”).
So zeigte sich Mary drolligerweise bei der Siegerreprise seh- und hörbar völlig außer Puste, zumal Paulchen ihr gerade zwei Zehntelsekunden lang Zeit zur Erholung ließ, bevor das Orchester einsetzte. So umstritten die knappe Entscheidung an diesem Abend auch war: letztlich erwies sich die Wahl als eine gute, wie die dann zum Niederknien hinreißende Performance Marys in Edinburgh und der dritte Platz für Deutschland bewiesen, die den heutigen, absolut verdienten Ruf der als Rosemarie Schwab in Bingen am Rhein geborenen Sängerin als nationales Musikheiligtum grundierten. Und auch Cindy & Bert, die seinerzeit so schnöde Düpierten, erfuhren kosmische Gerechtigkeit: wie Cindy später in einem hr-Interview erzählte, entschädigten sie die an der Abstimmung beteiligten Fernsehunterhaltungschefs für die Zurückweisung in der zweiten Votingrunde noch im Sommer des gleichen Jahres mit zahllosen TV-Auftritten, wodurch ihre noch am Anfang stehende Schlagerkarriere erst so richtig in Schwung kam. Nun nur leider nicht mehr mit fantastischen Gospelknüllern wie ‘Geh die Straße’, sondern mit Humptataschlagern wie den ‘Spanischen Gitarren’, die der eigentlich aus dem Rock kommende Bert so sehr verabscheute, dass er sich in den Alkohol flüchtete, um sie ertragen zu können. Er starb 2012 an einer Lungenentzündung.
Anderthalb Stunden deutsche TV-Unterhaltung vom Allerfeinsten: der legendäre deutsche Vorentscheid 1972.
Deutsche Vorentscheidung 1972
Ein Lied für Edinburgh. Samstag, 19. Februar 1972, aus dem Studio A des Senders Freies Berlin. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Karin Tietze-Ludwig und Renate Bauer. Zehnköpfige Jury mit Superfinale.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Super | Platz | Charts |
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01 | Edina Pop | Meine Liebe will ich Dir geben | 27 | – | 06 | - |
02 | Teddy Parker | Ich setze auf Dich | 18 | – | 11 | - |
03 | Olivia Molina | Die größte Manège der Welt | 20 | – | 09 | - |
04 | Cindy & Bert | Geh die Straße | 41 | 03 | 02 | 36 |
05 | Marion Maerz | Hallelujah Man | 30 | – | 05 | - |
06 | Adrian Wolf | Mein Geschenk an Dich | 13 | – | 12 | - |
07 | Su Kramer | Glaub an Dich selbst | 38 | 03 | 03 | - |
08 | Inga & Wolf | Gute Nacht, Freunde | 38 | 00 | 04 | 22 |
09 | Sandra Haas | Das Leben beginnt jeden Tag | 27 | – | 06 | - |
10 | Sven Jenssen | Grenzenlos | 19 | – | 10 | - |
11 | Mary Roos | Nur die Liebe lässt uns leben | 40 | 04 | 01 | 17 |
12 | Peter Horton | Wann kommt der Morgen? | 27 | – | 06 | - |
Letzte Aktualisierung: 25.09.2022
Die Teilnahmeliste wurde Anfang Oktober 1971 bekanntgegeben. In den ersten Zeitungsartikeln wird Ilanit als Teilnehmerin aufgeführt, später dann aber durch Adrian Wolf ersetzt. Genaue Gründe für die Absage fanden sich im HR-Archiv leider nicht.