Con­cours Euro­vi­si­on 1973: I’d like to teach the World to sing

Wun­der gibt es immer wie­der’, wuss­te die ver­stän­di­ge Kat­ja Ebstein bereits 1970 zu berich­ten, und beim Schwei­zer Vor­ent­scheid war 1973 tat­säch­lich eines gescheh’n. Zumin­dest für uns Grand-Prix-Archi­va­re. Denn waren Sich­tun­gen von hel­ve­ti­schen Vor­ent­schei­dungs­bei­trä­gen auf Ton­trä­ger oder gar auf You­tube bis dato sel­te­ner zu ver­mel­den als die von Ein­hör­nern, so pro­du­zier­te das eid­ge­nös­si­sche Fern­se­hen für alle zehn (!) Titel des dies­jäh­ri­gen Con­cours Euro­vi­si­on, der – auch dies eine Art Novum – his­to­risch gesi­chert am 16. Febru­ar 1973 in den Stu­di­os des deutsch­spra­chi­gen Sen­ders DRS zu Bern statt­fand und bei dem sowohl eine Pres­se- und eine Sen­der­ju­ry als auch über 40.000 Zuschauer:innen per Tele­vo­ting (!) abstimm­ten, pro­fes­sio­nel­le Video­clips. Und das Teil­neh­men­den­feld wuss­te durch­aus mit etli­chen Knül­lern auf­zu­war­ten, neben dem unver­meid­li­chen Rudel fran­ko­phi­ler Bal­la­den. Die wur­den prä­sen­tiert vom ehe­ma­li­gen Direk­tor der Schu­le für Gitar­re und moder­ne Musik in Genf, Clau­de Pré­lo, dem frü­he­ren Schwei­zer ESC-Ver­tre­ter und spä­te­ren Kin­der­lied­au­to­ren Hen­ri Dès, der sin­gen­den Grund­schul­leh­re­rin Mady Rudaz und ihrem 2022 ver­stor­be­nen Kol­le­gen Michel Büh­ler, der die­sen Job bis 1969 eben­falls aus­ge­übt hat­te, bevor er zum Chan­son­nier umsat­tel­te. Merk­wür­di­ge Häu­fung – fast, als woll­ten uns die Bal­la­dessen und Bal­la­deu­re die­ser Welt geschmack­lich erziehen!

Die Play­list mit allen (!) zehn Bei­trä­gen als Video­clip – nie hät­te ich es geglaubt, das bei einem Schwei­zer Vor­ent­scheid mal schrei­ben zu können!

Neben so viel Bil­dungs­auf­trag kam aber erstaun­li­cher­wei­se auch der Spaß nicht zu kurz. So prä­sen­tier­te der spä­te­re TV-Mode­ra­tor und Schau­spie­ler Yor Mila­no mit ‘Il vec­chio Oro­lo­gio’ (‘Die alte Uhr’) einen von aller­lei lus­ti­gen Geräusch­ef­fek­ten unter­leg­ten Novel­ty Song, den er hef­tig gri­mas­sie­rend sowie stel­len­wei­se eher kräch­zend denn sin­gend vor­trug. Und damit den letz­ten Platz beleg­te. Als abso­lu­ten Kult­knül­ler lässt sich hin­ge­gen der drei­spra­chi­ge Espe­ran­to­schla­ger ‘Bra­ka­ta-Tun­ga’ des Duos Gil & Leo­nia abfei­ern, in dem sich das Pär­chen auf Deutsch, Ita­lie­nisch und Fran­zö­sisch über läs­tern­de und gerüch­te­streu­en­de Mit­men­schen aus­lässt und die­sen eine eige­ne Geheim­spra­che ent­ge­gen­setzt. Näm­lich jenes zun­gen­bre­che­ri­sche Zau­ber­wort, wohl so eine Art jugend­frei­es “fickt euch”. Zu dem fan­tas­tisch ein­gän­gi­gen Song mit sei­nem man­tra­ar­tig immer und immer wie­der­hol­ten Titel gesellt sich hier das ver­mut­lich im eige­nen, tod­schi­cken Wohn­zim­mer abge­dreh­te Video, das beson­ders zum Schluss mit einer nach­ge­ra­de Nico­le & Hugo-wür­di­gen Tanz­ein­la­ge der im Part­ner­look geklei­de­ten Ehe­leu­te auf­zu­trump­fen weiß. Selbst­re­dend sieg­te das zu Recht im Publi­kums­vo­ting, die um den Ruf des Lan­des fürch­ten­den Juror:innen wer­te­ten es aber auf den sechs­ten Platz im Gesamt­klas­se­ment her­un­ter. Bra­ka­ta-Tun­ga, Jurys!

Kult-Alarm: die hel­ve­ti­schen Nina & Mike haben da im Afrik­aur­laub etwas aufgeschnappt…

Mit dem Bron­ze­platz zufrie­den geben muss­te sich das Trio Peter, Sue & Marc bei sei­nem zwei­ten von ins­ge­samt acht Euro­vi­si­ons­an­läu­fen mit dem nach­denk­lich-beschwing­ten ‘Es kommt ein Tag’, das einen etwas unbe­stimmt-eso­te­ri­schen Text über das uns alle nur zu ver­trau­te Gefühl des Unver­stan­den­seins und Über­se­hen­wer­dens mit einem süf­fig-opti­mis­ti­schen Refrain und einem trei­ben­den Beat ver­quick­te. Über­trumpft wur­den sie von einer nur mit die­ser einen ein­zi­gen Sin­gle-Ver­öf­fent­li­chung in Erschei­nung getre­te­nen Sän­ge­rin namens Britt Tobler (erfand sie die legen­dä­re Toble­ro­ne?) und ihrem text­lich dann doch etwas zu gön­ner­haft-alt­vä­ter­li­chen Schla­ger ‘Lass der Jugend ihre Lie­be’. Tra­gik umflor­te die eigent­li­che Sie­ge­rin die­ses Vor­ent­scheids, die im Aar­gau gebo­re­ne Moni­ca Morell (bür­ger­lich: Moni­ca Würz-Römer). Die hat­te im Vor­jahr mit dem unsag­bar tod­trau­ri­gen Trä­nen­zie­her ‘Ich fan­ge nie mehr was an einem Sonn­tag an’, von dem sie 1,5 Mil­lio­nen Sin­gles ver­kauf­ten konn­te, einen Top-Hit sowohl in Deutsch­land wie auch in der Schweiz. Mit dem musi­ka­lisch ähn­lich gestrick­ten ‘Bit­te glaub es nicht’ trat sie dann beim Con­cours Euro­vi­si­on an und konn­te die­sen erwar­tungs­ge­mäß gewin­nen. Doch dann, so geht die Sage, schwärz­te Moni­cas eige­ne Mana­ge­rin sie beim Schwei­zer Fern­se­hen an.

Muss kalt gewe­sen sein da drau­ßen: die Atem­dampf­wol­ken aus­sto­ßen­den Peter, Sue & Marc.

Die­se nei­di­sche Dame hat­te näm­lich selbst ein Lied für sie geschrie­ben, wel­ches Moni­ca aber zuguns­ten des eben­so wie ihr größ­ter Hit aus der Feder des Kom­po­nis­ten Pepe Ede­rer stam­men­den ‘Bit­te glaub es nicht’ zurück­wies. Der war einst Teil des Schla­ger­tri­os Die Nil­son Brot­hers (‘Aber dich gibt’s nur ein­mal für mich’) und – Deut­scher. Was, auch wenn die EBU-Sta­tu­ten zur Natio­na­li­tät des Lied­schrei­bers kei­ne Vor­ga­ben machen, angeb­lich Grund genug für die Dis­qua­li­fi­ka­ti­on des Bei­trags gewe­sen sein soll. Dage­gen spricht frei­lich, dass Ede­rer im Vor­jahr selbst als Teil der Rocky-Till-Sin­gers am Schwei­zer Vor­ent­scheid teil­nahm, heu­er auch Moni­cas Kon­kur­ren­tin Britt Tobler mit einem Lied ver­sorg­te und 1974 eben­falls den Sie­ger­song schrieb, der dann beim ESC an den Start durf­te. Wie dem auch sei: heu­er muss­te Frau Morell zu Hau­se blei­ben. Ihr Song wur­de ein neu­er­li­cher Hit im Nach­bar­land, wo sie bis 1975 noch eini­ge Erfol­ge mit meist trau­ri­gen Titeln fei­er­te. Trau­rig soll­te auch ihr wei­te­res Leben sich gestal­ten: nach dem Ende ihrer Schla­ger­kar­rie­re als Wir­tin und Auk­tio­na­to­rin arbei­tend, ver­lor sie 1982 ihren ein­zi­gen Sohn am plötz­li­chen Kinds­tod, wor­an zudem ihre Ehe zer­brach. Moni­ca starb 2008 nach lan­gem Krebs­lei­den im Alter von nur 54 Jahren.

Text­lich ein biss­chen spar­sam aus­ge­stat­tet: Moni­cas Appell an ihren Liebs­ten, einer Ruf­mord­kam­pa­gne gegen sie kei­nen Glau­ben zu schenken.

Singlecover Patrick Juvet 'Je vais me marier, Marie': der blonde, langhaarige Sänger mit freiem Oberkörper und mit über dem Brustkorb verschränkten Armen.Anstel­le von Frau Morell rück­te der ursprüng­lich Zweit­plat­zier­te Patrick Juvet nach. Der in Mon­treux gebo­re­ne, lang­haa­ri­ge Schön­ling hat­te im Vor­jahr mit dem Schla­ger ‘La Musi­ca’ sei­nen ers­ten gro­ßen Hit im fran­zö­si­schen Sprach­raum gelan­det, wo ihn sei­ne Plat­ten­fir­ma als Mäd­chen­schwarm im Sti­le eines David Cass­idy auf­bau­te. Dazu pass­te auch sein selbst getex­te­ter Euro­vi­si­ons­bei­trag ‘Je vais me mari­er, Marie’, auf des­sen Sin­gle-Cover er ober­kör­per­frei posier­te und in dem er all sei­ne zahl­rei­chen bis­he­ri­gen Gespie­lin­nen nament­lich auf­ruft, um sich von ihnen zu ver­ab­schie­den, da er nun in den Hafen der Ehe ein­lau­fe. Trotz eines ent­täu­schen­den zwölf­ten Plat­zes für die musi­ka­lisch etwas an Rex Gil­do erin­nern­de Num­mer in Luxem­burg lief die Kar­rie­re in Frank­reich wei­ter. Dort sorg­te eine län­ge­re Zusam­men­ar­beit mit dem Elek­tro-Pio­nier Jean-Michel Jar­re, in den der sich spä­ter als bise­xu­ell outen­de Juvet laut eige­ner Bio­gra­fie unglück­lich ver­lieb­te, für einen Stil­wech­sel. 1978 geriet er in die Fän­ge des Vil­la­ge-Peo­p­le-Pro­du­zen­ten Jac­ques Mora­li, der ihm mit ‘I love Ame­ri­ca’ sei­nen größ­ten kom­mer­zi­el­len Erfolg schrieb. An dem der künst­le­risch zuneh­mend aus­ge­brann­te Juvet zugleich so litt, dass er sich in die Dro­gen flüch­te­te. Er starb 2021 im Alter von 70 Jahren.

Den Hete­ro­st­echer will man dem zar­ten Jüng­ling mit der hohen Stim­me – hier noch ohne sei­ne mar­ken­zei­chen­haf­te Gold­blon­die­rung – irgend­wie nicht rich­tig abneh­men: Patrick Juvet.

Vor­ent­scheid CH 1973

Con­cours Euro­vi­si­on. Frei­tag, 16. Febru­ar 1973, aus dem DRS-Stu­dio in Bern. Zehn Teilnehmer:innen. Tele­vo­ting, Pres­se­ju­ry und Sen­der­ju­ry (je 33%).
#Inter­pre­tenSong­ti­telTelePres­seJuryPlatz
01Clau­de PréloSi tu t’en vas08080607
02Hen­ri DèsQuand on reviet d’Ailleurs05030303
03Mady RudazLe Vent qui souf­flait ce Matin09070708
04Britt ToblerLass der Jugend ihre Liebe02040402
05Michel Büh­lerL’A­mour s’en vient, l’A­mour s’en va06020505
06Patrick JuvetJe vais ma mari­er, Marie03010101
07Yor Mila­noIl Vec­chio orologio07090909
08Peter, Sue & MarcEs kommt ein Tag04050203
09Gil & LeoniaBra­ka­ta-Tun­ga01060806
10Moni­ca MorellBit­te glaub es nichtdisq.

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