Ständig das Gemecker von Presse und Öffentlichkeit über die umstrittenen Abstimmungsergebnisse bei den deutschen Grand-Prix-Vorentscheidungen: der damalige Eurovisionsverantwortliche Hans-Otto Grünefeldt hatte 1974 die Schnauze endgültig gestrichen voll! Er verzichtete auf eine öffentliche Auswahl und nominierte stattdessen seine persönlichen Protegés Cindy & Bert direkt für die hausinterne Entscheidung. Die waren beim Vorentscheid anno 1972 mit dem besten Titel ihres umfangreichen Schlagerrepertoires, dem soulstarken ‘Geh die Straße’, arschknapp in der zweiten Abstimmungsrunde an der Jury gescheitert, nach dem sie im ersten Durchgang noch mit einem Punkt führten. 1973 und 1978 versuchten sie es erneut mit jeweils gleich zwei (schrecklichen) Schlagern, bleiben aber erfolglos. Und auch nach der Trennung von Bert sollte Cindy Berger bei ihren Solo-Anläufen 1988 und 1991 kein Glück beschieden sein. Doch zurück ins aktuelle Jahr 1974: der Legende nach soll das mittlerweile fest etablierte, umsatzstarke saarländische Schlagerpärchen für diese Vorauswahl unter anderem einen Titel namens ‘Spaniens Gitarren’ vorgeschlagen haben.
Das kommt mir spanisch vor: Bertie & Sind vor einem beängstigend aggressiv – und natürlich stur auf die 2 und die 4 – mitklatschenden Hitparadenpublikum (Repertoirebeispiel).
Grünefeldt aber – beziehungsweise die unter seinem Vorsitz stehende hr-Auswahljury – zog die deutlich weniger kommerzielle ‘Sommermelodie’ vor. Einen Song also, der klang, als hätte er schon 1964 das Publikum in spontanen Tiefschlaf versetzen können, und den das Duo nach der vorprogrammierten Blamage von Brighton zunächst nie wieder spielen wollte. Cindy selbst klassifizierte den Beitrag später in einem hr-Eurovisionsspecial sehr treffend als “latschig” und sprach mir aus der Seele, als sie meinte: “Man dachte immer: jetzt muss es doch langsam mal losgehen. Aber immer wieder nur: die Sommermelodieeee”. Und, in der Tat: der Song klingt so sommerlich frisch wie vier Wochen in der Sonne abgestandener Latschenkiefernsud aus dem dritten Aufguss. Zum Vergleich: die deutschsprachige Spitzenreiterin der Verkaufshitparade 1974 war Vicky Leandros mit ‘Theo, wir fahr’n nach Lodz’ - ein Comedy-Schlager und unwiderstehlicher Ohrwurm, den Grünefeldt sicherlich niemals auch nur mit der Kneifzange angefasst hätte. Die verschmähten spanischen Gitarren landeten übrigens auf Platz 22 im Jahresranking.
Ein Traum in popelgrün: Cindy & Bert in Brighton.
Pro forma nahmen, glaubt man Jan Feddersens hervorragend recherchiertem Eurovisionsbuch ‘Ein Lied kann eine Brücke sein’, noch zwei weitere Interpret:innen an der hausinternen Wahl teil. Der damals noch schrankschwule Jürgen Marcus hatte sogar eigens einen thematisch passenden Schlager vorbereitet: ‘Der Grand Prix d’Amour’. Im Gegensatz zu Cindy & Bert, die ihrer Plattenfirma BASF (der Ludwigshafener Chemiekonzern stellte das für die Tonträgerproduktion benötigte, hochgradig umweltproblematische PVC her) untersagten, die ungeliebte ‘Sommermelodie’ als Single zu veröffentlichen, konnte Marcus aus seinem Song einen Hit machen und erreichte Platz 22 der Singlecharts (sowie Rang 78 der Jahreshitparade). Er versuchte es im Folgejahr mit dem noch pompöseren ‘Ein Lied zieht hinaus in die Welt’ ein weiteres Mal, zog aber gegen Joy Fleming den Kürzeren, woraufhin er mit dem sehr, sehr ähnlich klingenden ‘Chanson pour ceux qui s’aiment’ (deutsche Version: ‘Der Tingler singt für euch alle’) nach Luxemburg “auswanderte”. Auffällig bleibt, dass Marcus’ potentielle und tatsächliche Eurovisionsbeiträge stets die universelle Liebe unter den Menschen behandelten: er wusste wohl sehr genau um den Grand Prix als Fix- und Treffpunkt von Europas Homoletten und wollte nur zu gerne ein bisschen mitspielen!
Blumen sagen mehr als Worte: Jürgen Marcus beim Heck’schen Hindernissingen.
Ebenfalls in der Auswahl befunden haben soll sich eine gewisse Anne-Karin Meyer, die 1984 einen weiteren vergeblichen Anlauf unternahm. ‘Damals im Frühling’ erlebte den April jedoch nicht. Anne-Karin, offiziell verheiratet mit, jedoch getrennt lebend vom tagesschau-Sprecher und deutschen ESC-Kommentatoren von 1992 bis 1994, Jan Hofer (wer von Ihnen hat da gerade “Sandprinzessin” gerufen?), stammte wie die Eurovisionskolleginnen Cindy & Bert, Nicole und Ingrid Peters aus dem Saarland, das im Verhältnis zu seiner Größe und Einwohner:innenzahl überdurchschnittlich viele Grand-Prix-Vertreter:innen hervorgebracht hat. Wie Frau Peters war Anne-Karin gelernte Sportlehrerin, und wie Frau Berger wechselte sie im Anschluss als Moderatorin von Schlagershows ins Radio. 1973 hatte sie mit ‘Dreh Dich weiter, Ballerina’ ihren einzigen Chart-Hit landen können (#39), wiewohl sie 1980 mit dem sehr hübschen Fremdgehschlager ‘Er war da, als ich dich brauchte’ nochmal einen Auftritt in der ZDF-Hitparade hatte. Kleiner Trost für sie: da es mit Eurovision Song Contest nicht klappte, vertrat sie die Bundesrepublik 1974 stattdessen bei den sozialistischen Songfestivals in Sopot und Ljubljana.
Das geschätzt viertausendste Eurovisionslied zum Thema “Frühling”: Anne-Karin.
Letzte Aktualisierung: 05.11.2022
Deutsche Vorentscheidung 1974
Die Montagsmaler. Montag, 11. März 1974, aus dem Sendestudio des Hessischen Rundfunks. Ein Teilnehmer, Moderation: Frank Elstner (Songvorstellung im Rahmen der Show nach senderinterner Auswahl aus drei Titeln).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Anne-Karin Meyer | Damals im Frühling | n.b. | n.b. | - |
02 | Cindy & Bert | Die Sommermelodie | n.b. | 01 | - |
03 | Jürgen Marcus | Der Grand Prix d’Amour | n.b. | n.b. | 22 |
Diese Anne Karin ist die gleiche wie in der Vorentscheidung 1984?
Danke für den Tipp, Ansgar – ist sie, ich hab’s nachrecherchiert und im Text entsprechend ergänzt.