Zum zweiten Mal nach 1963 versuchte es der noch immer für den Grand Prix verantwortliche Hessische Rundfunk (hr) beim heimischen Vorentscheid mit Demokratie: genervt vom niemals verstummenden (und meist gerechtfertigten) Publikumsgemecker über die Jury-Entscheidungen und dem unverdient katastrophalen Abschneiden Joy Flemings beim Hauptwettbewerb in Stockholm beschloss man in Frankfurt am Main, die Verantwortung für das als sicher antizipierte deutsche Scheitern vom Sender auf die Allgemeinheit abzuschieben. Abstimmen durften die Zuschauer:innen erneut per Postkarte, die seinerzeit noch niedliche 40 Pfennige (21 Cent) Porto kostete. Wie bitte? Was eine Postkarte ist? Quasi der Vorläufer der SMS in der Zeit vor der Erfindung des Handys: eine auf einem DIN A 6 großen Stück Pappe gegen Gebühr und vollkommen offen verschickte, handschriftliche Nachricht. Warum man so etwas Absurdes tun sollte? Nun, als Anreiz zum Mitmachen griff der hr ganz, ganz tief in die Gewinnspielkasse und verloste unter allen Einsender:innen sage und schreibe zwölf Farbfernsehgeräte (mit atemberaubender 36-cm-Bildröhre!) und 120 Langspielplatten. Und das von unseren TV-Gebühren, ein Skandal! Doch bei diesen Gaben handelte es sich um Danaergeschenke, denn aus welchen Liedern sollte man hier ernsthaft auswählen?
Die Dürre macht den Anfang: alle zwölf Vorentscheidungstitel am Stück als Playlist.
Die zwölf im Vollplaybackverfahren (!) im TV-Studio aufgezeichneten Vorentscheidungsbeiträge erwiesen sich als größtenteils erbärmlich: dank des noch immer bestehenden institutionellen Einflusses der sich kommerziell mittlerweile im rasenden Abwärtsstrudel befindlichen, altgedienten Garde der organisierten Schlagerschaffenden auf die Vorauswahl begann in diesem Jahr die unaufhaltsame Invasion der Schrottschlager, die im richtigen Leben niemand mehr kaufen wollte. Selbst nicht, wenn sie so etablierte Schlagergrößen wie Ireen Sheer oder Lena Valaitis stimmlich veredelten. Der Unterhaltungschef des hr, Hans-Otto Grünefeldt, hielt jedoch hartnäckig an dem Irrglauben vom Komponistenwettbewerb fest, und so vermochte sich der Vorentscheid nicht aus dem tödlichen Würgegriff der Standesverbände befreien, in denen weiterhin die Serienschlagerschreiber der Sechzigerjahre den Ton angaben. In der echten Popwelt feierten zur gleichen Zeit deutsche Discoproduzenten wie Frank Farian (der mit dem grandiosen Tränenzieher ‘Rocky’ selbst die umsatzstärkste deutschsprachige Single des Jahres hinlegte) oder Sylvester Levay weltweite (!) Erfolge. Das aber auf Englisch, und Grünefeldt bestand, gemeinsam mit der Komponistenlobby, auf dem Heimatsprachenzwang. Noch.
Das hat der Mann nicht verdient: die erleuchtungsfreie Hommage der Love Generation an den Erfinder der Glühbirne.
Als bemerkenswert innerhalb der von Max Schautzer für seine Verhältnisse erstaunlich ölfrei und beinahe schon subtil humorvoll moderierten Vorentscheidung erwies sich die Liedermacherin Ina Deter, die für ihren Beitrag ‘Wenn Du so bist wie Dein Lachen’ besonders fleißig weibliche Kontaktanzeigen in linksalternativen Stadtmagazinen studiert hatte. Diesen zufolge sei für Frauen bei der Partnersuche vor allem eine Sache ganz besonders wichtig. Was schätzen Sie: die Körpergröße? Ja, aber so etwas Konventionelles würden die Mädels dort natürlich nie offen zugeben. Stattdessen behaupteten sie unisono: der Humor! Haben sie dann so einen Grinsekater gefunden, wollen sie laut Deter sofort “Erdbeerbowle aus [ihm] machen” (wie brutal!) und ihn “kitzeln an den Zeh’n”. Und da wundern sie sich, wenn die Macker lieber mit Discomiezen in die Kiste steigen? Die trachten ihnen wenigstens nicht nach dem Leben! Beziehungsweise: sie wissen, was beim Vorspiel funktioniert und was nicht. Inas Buhlgesang kam zwar musikalisch wie stimmlich ziemlich eindimensional daher, stellte in seiner beinahe schon wieder possierlichen poetischen Ernsthaftigkeit jedoch eine willkommene Alternative zu dem restlichen, thematisch eher rückwärtsgewandten Stumpfsinn über alte Häuser, den Jahrmarkt der Eitelkeiten oder den Erfinder der Glühbirne dar.
Ina will “mit dir reiten auf ’nem Drachen”. Also kiffen. Joah, gerne.
Mit vielleicht zwei weiteren Ausnahmen: die zum zweiten Mal in Folge antretende, nach wie vor hyperaktive Maggie Mae hampelte zwar selbst im menschenleeren Studio albern vor sich hin wie eh und je. Und ihr ‘Applaus für ein total verrücktes Haus’ erwies sich als ziemlich karnevalesk und spätestens nach dem zweiten Hören absolut nervtötend, illustrierte aber auf das Schönste die unter Linken bereits damals vorherrschende, niedlich-naïve Verklärung des heutigen Reizthemas des multikulturellen Zusammenlebens. Sang die Mae doch von einem vermutlich großstädtischen Sozialbaublock, in dem neben ihr auch etliche Türken, Griechen, Spanier und andere südländische Völker wohnen (für meinereinen eine erotisch ziemlich reizvolle Vorstellung) und dort den ganzen Tag auf allerlei aus der Heimat mitgebrachten Instrumenten Musik machen (eine nicht mehr ganz so reizvolle Vorstellung). Dass die Deutschen diesen Song – wohlgemerkt per Postkartenabstimmung! – seinerzeit auf den dritten Platz wählten, mutet in Kenntnis der heutzutage in unserer Gesellschaft vorherrschenden Xenophobie geradezu unglaublich an. Und unglaublich sympathisch, auch wenn das Lied Scheiße war.
Gut, damals gab’s noch kein Ritalin: Maggie Mae. Und was zur Hölle ist bitte ein Marimbaphon?
Völlig aus dem Rahmen der Veranstaltung fiel indes der Beitrag von Tony Marshall. Schon allein bei der Nennung des Künstlernamens des als Herbert Hilger geborenen Bierzelt-Buffos sollten eigentlich alle Warnlampen angehen. Aber dieses Chanson stellt tatsächlich eine angenehme Ausnahme in seinem ansonsten überwiegend unerträglichen Œuvre dar. Zwar konnte es Marshall nicht lassen, bei der Vorentscheidung in einem opulenten Rüschenhemd und einem teflonbeschichteten Glanzfrack anzutreten (Jan Feddersen kommentierte in seinem Eurovisionsbuch herrlich spitz: “Ein Outfit, als bereite er eine Conference in einer Kurmuschel vor”). Dennoch: ‘Der Star’ ist mein Guilty Pleasure. Ich gebe es nur sehr widerstrebend zu, aber: ich finde ihn gut. Doch, wirklich: gut! Marshall besang hier mit wunderbarer Melodramatik in der Stimme, aber auf reflektierte Weise das Leben im Rampenlicht. Ein nachdenklicher Text mit – man wagt es kaum auszusprechen – Tiefgang. Schade, dass der Anfang 2023 im Alter von 85 Jahren verstorbene Hilger daraus keine Hitsingle machen konnte; das hätte ihm und uns vielleicht die ein oder andere ‘Schöne Maid’ erspart. Immerhin: zwei Jahre nach seiner Vorentscheidungsteilnahme wandelte er ‘Auf der Straße nach Süden’ nochmal in die Single-Charts. Ein beatbetonter Urlaubsschlager, den eine gute Dekade später ein gewisser David Hasselhoff als ‘Looking for Freedom’ zum Lied des Mauerfalls machen sollte. 2017 bekundete Marshall nochmal Interesse an einer Grand-Prix-Teilnahme, der NDR winkte aber dankend ab.
Trug Zeit seines Lebens das gleiche Haupthaar: Tony Marshall, hier in der ZDF-Hitparade mit dem Patschehändchen auf der Schulter von Ivan Rebroff.
Das Ergebnis von Ein Lied für Den Haag konnte der Hessische Rundfunk natürlich nicht mehr in der laufenden, am nächsten Tag sicherheitshalber wiederholten Sendung präsentieren, weil man die Postkarten ja erst einsammeln und sorgfältig auszählen musste. Erst eine Woche später erfuhr das mit vor Spannung angehaltenem Atem wartende Publikum, wer uns in den Niederlanden vertreten sollte. Der Knüller: es gewann tatsächlich Tony Marshall mit rund 120.000 Zuschriften. Was vermutlich weniger einem plötzlichen Anfall von gutem Publikumsgeschmack zuzuschreiben war als der Bekannt- und Beliebtheit des Interpreten. Um so größer der nachfolgende Schock: wegen einer angeblichen Vorveröffentlichung seines Titels musste der hr ihn nachträglich disqualifizieren. Wer die völlig unbekannte und erfolglose Tingeltangelsängerin fand, die das Lied nach eigener Aussage schon drei Jahre eher vor einer Handvoll von Bierzeltbesucher:innen in der bayerischen Provinz gesungen haben will, und warum Ralph Siegel der oder die unbekannte Spürnase das bei der ARD petzte, darüber möchte ich uns tiefergehende Spekulationen an dieser Stelle ebenso ersparen wie letztlich nur selbstgeißelnde Mutmaßungen darüber, ob die internationalen Jurys den ‘Star’ im Gegensatz zum stattdessen entsandten deutschen Beitrag wohl mit vielen Punkten überschüttet hätten.
Profiteure: die Les Humphries Singers mit dem ersten deutschen Grand-Prix-Schlager aus der Feder von Ralph Siegel.
Fakt ist: als Zweitplatzierte rückten die Les Humphries Singers nach, eine bis zum Zeitpunkt ihrer Eurovisionsteilnahme kommerziell ausgesprochen erfolgreiche Multikultiband (bekannte Hits: ‘Mama Loo’, ‘Kansas City’ u.v.a.m.) mit ständig wechselnder Besetzung. Gegen ihre bisherigen, gospelgeschwängerten Stücke fiel das von Ralph Siegel komponierte Kauderwelsch ‘Sing Sang Song’, sein erster in einer noch folgen sollenden, schier endlosen Reihe deutscher Grand-Prix-Beiträge, jedoch deutlich ab. Nach ihrer Bauchlandung mit einer desaströsen Performance in Den Haag, die ein Stück weit auch der Sechs-Personen-Regel und der hierdurch gegenüber ihren üblichen Auftritten deutlich dezimierten Chorstärke geschuldet war, gelang der Gruppe kein weiterer Hit mehr (der ‘Sing Sang Song’ verendete auf Rang 45 der Charts). Zumal das bei der Vorentscheidung bis zum Bauchnabel aufgeknöpfte Bandmitglied Jürgen Drews ausstieg und mit ‘Ein Korn im Feldbett’ solo eine erfolgreiche Schlagerkarriere startete. Die Kapelle löste sich kurze Zeit später auf, und der namensgebende Brite Les Humphries setzte sich wegen hierzulande bestehender Steuerschulden nach Hause ab, wo er 2007 verstarb.
Wirkt ein bisschen steril: die als Vollplaybackshow aufgezeichnete deutsche Vorentscheidung 1976.
Deutsche Vorentscheidung 1976
Ein Lied für Den Haag. Samstag, 31. Januar 1976, aus dem Sendestudio des Hessischen Rundfunks (Aufzeichnung). Zwölf Teilnehmer:innen, Moderation: Max Schautzer. Publikumsentscheid per Postkarte.# | Interpreten | Songtitel | Postkarten | Platz | Charts |
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01 | Tina York | Das alte Haus | 17.562 | 11 | - |
02 | Love Generation | Thomas Alva Edison | 58.846 | 04 | - |
03 | Lena Valaitis | Du machst Karriere | 47.714 | 06 | - |
04 | Bruce Low | Der Jahrmarkt unserer Eitelkeit | 43.352 | 08 | - |
05 | Ina Deter | Wenn Du so bist wie Dein Lachen | 27.903 | 09 | - |
06 | Nina & Mike | Komm geh mit mir | 61.944 | 03 | - |
07 | Maggie Mae | Applaus für ein total verrücktes Haus | 71.882 | 02 | - |
08 | Les Humphries Singers | Sing Sang Song | 96.705 | 01 | 45 |
09 | Ireen Sheer | Einmal Wasser, einmal Wein | 45.032 | 07 | - |
10 | Meeting Point | Es ist ein Mensch | 53.586 | 05 | - |
11 | Tony Marshall | Der Star | 118.250 | dq. | - |
12 | Piera Martell | Ein neuer Tag | 24.252 | 10 | - |
Letzte Aktualisierung: 09.04.2023
Echt eine Schande. Der Star ist im Vergleich zu Sing Sang Song wirklich millionenfach besser. 👿
Und du hörst sie nimmer wieder Hihihi, ich find das ‘Applaus für ein total verrücktes Haus’ doch ein ganz schön unverschämter Ohrwurm ist, obwohl ich normalerweise aus diesem Holz geschnitzte Bierzelt-Schlager wie die Pest hasse. Hätt nix dagegen gehabt, dass beim ESC zu sehen.
Ähm, naja, lassen wir das. ‘Der Star’ ist wirklich schön, da schwingt irgendwie so ne tieftraurige Note mit, total Schade, damit hätten wir garantiert auf dem ESC-Parkett eine gute Figur gemacht. ‘Sing Sang Song’ nervt. Überhaupt: kennt man einen Song von den Les Humphries Singers, kennt man irgendwie alle, weil die immer nach dem selben Schmema aufgebaut sind (‘Ma-Ma-Ma-MaMaMe-Lou’, ‘Kansas City-who-who-who-who-Kansas City’, ‘Sing-Sang-Song-Sing-A-Sang-Song’) – tja und live und mit der Eurovisions-6-Personen-Regel kann man nen Chor eben nicht so monströs aufpimpen wie im Aufnahmestudio.
Der Titel “Jahrmarkt unserer Eitelkeit” war ursprünglich für Bill Ramsey gedacht, der jedoch kurz vor der Vorentscheidung – wohl nachdem er die fertige Produktion erstmals hörte – noch schnell einen Rückzieher machte.
Anfangs waren für 1976 drei Shows geplant: Zwei Halbfinals mit je 6 Titeln am 31.01. und 14.02. (mit “sofortiem Juryentscheid”) sowie einem Finale mit der Top‑6 und Postkartenabstimmung am 18.02. Der Sieger wäre demnach am 28.02. im Programm “Auftakt zur ARD-Fernsehlotterie” bekannt gegeben worden.
“Der Star” war der einzige Titel, der international Chancen gehabt hätte, Schande über den oder diejenige, die, meinetwegen formal zu recht, das sabotierte.
“Sing, Sang, Song” war eine einzige Katastrophe, und ist ein Lehrbeispiel für den Spruch “gewollt, aber nicht gekonnt”. Für die Les Humphries Singers war die Vergangenheitsform “sang” dann auch Programm, nach dem ESC lösten sie sich auf, und ersparten sich und den Protagonisten weitere Peinlichkeiten.
Der Vorentscheid selber war unglaublich spießig, der Moderationsroboter Max Schauzer brachte erwartungsgemäß alles fehlerfrei über die Lippen, hätte aber genauso gut das Telefonbuch vorlesen können – Einschlafgarantie hätte es bei beidem gegeben. Und die musikalischen Vorträge, Vollplayback ohne Publikum, drücken die Verachtung aus, die in den Chefetagen damals dieser Pflichtveranstaltung entgegengebracht wurde. Billiger ging es nun wirklich nicht mehr!