Vor ihrer Grand-Prix-Teilnahme kannte man die Les Humphries Singers europaweit als erfolgreiche, multikulturelle Hippiegruppe, die mit ‘Mamaloo’ oder ‘Mexiko’ und ähnlichen Titeln eine Latte respektabler Hits vorweisen konnte. Hinterher verschwanden sie in der Versenkung. In Den Haag durfte die üblicherweise bis zu 16 Mann starke Kapelle allerdings auch nur in deutlich dezimierter Zahl auf die Bühne. Zu sechst nämlich, darunter Jürgen Drews (DVE 1990), während ihr Bandleader am Dirigentenpult stand, was ihrer Bühnenpräsenz gar nicht gut tat. Dazu kam der lendenlahme Siegel-‘Sing Sang Song’, sein erster Grand-Prix-Beitrag fürs Heimatland und ein wahrlich missratener Auftakt. So reichte es wieder nur für einen, diesmal berechtigten, hinteren Platz.
Frisch aufpoliert: die komplette 1976er Show im digital überarbeiteten Format.
Es gewann eine andere Formation, die ein extrem gemäßigtes Mode-Hippietum allenfalls durch lange Haare, große Stoffrosen und aufgeknöpfte Hemden andeutete, die konservativen Juroren jedoch mit dem Tragen von Anzügen versöhnte: die auf Startplatz 1 antretenden britischen Brotherhood of Man forderten ‘Save your Kisses for me’ und landeten mit weltweit über sechs Millionen verkaufter Singles (u.a. #2 DE, #1 UK) den aus kommerzieller Sicht ungeschlagen größten Eurovisionshit aller Zeiten. Sie tanzten zu ihrem belanglosen Liedchen mit der sofort wiedererkennbaren Alle-meine-Entchen-Melodie eine der simpelsten und synchronsten Choreografien, die man jemals auf einer Grand-Prix-Bühne bestaunen durfte. Dazu stellte sich im Schlussvers des Songs heraus, dass sich die Aufforderung zum Küsschenaufsparen an die dreijährige Tochter richtete. Soviel harmlos-familiäre Niedlichkeit kam an.
Und hoch das Bein! (UK)
Interessantes Detail: die Retortenformation schaffte es beim britischen Vorentscheid A Song for Europe mit schmalen zwei Pünktchen Vorsprung nur knapp vor dem Quintett Co-Co (UK 1978). Und auch, wenn es sich bei dem peppigen ‘Wake up’ um den besseren Song handelt, war es gut, das er nicht gewann: denn wie sich später herausstellte, wurde der Titel bereits im Jahre 1974 von der Band Arrows – bekannt durch die Originalversion des von Joan Jett, Guildo Horn (DE 1998) und Britney Spears jeweils erneut erfolgreich gecoverten ‘I love Rock’n’Roll’ – aufgenommen, jedoch aufgrund einer Auseinandersetzung mit deren Manager Mickie Most nicht veröffentlicht. Der gab den Titel mit einem leicht veränderten Text an seinen Bruder David Most weiter, und der vertraute ihn seinen Schützlingen Co-Co an, die von all dem keine Ahnung hatten. Lediglich zwei Juroren verdankt es le Royaume-Uni also, dass es statt einer möglichen peinlichen Disqualifikation seinen größten Grand-Prix-Hit bekam.
Those were the good old Days: Co-Co beim Song for Europe 1976
Jürgen Marcus (DVE 1974, 1975, 1982), vor der heimischen eurovisionären Missachtung ins Luxemburger Schlagerasyl geflüchtet, ruderte wie üblich wild mit den Armen und trug dazu eine Wallehaarfönfrisur, die nur durch die seinerzeitige Haarmode zu entschuldigen ist, und das gerade so eben. Für sein Fremdgehen strafte ihn die offenbar von nationalistischen Revanchisten bevölkerte heimische Jury mit null Punkten ab. Das Publikum zeigte sich milder: die deutschsprachige Einspielung seines marschartigen Beitrags mit dem autobiografischen Titel ‘Der Tingler singt für Euch alle’ verkaufte sich mittelgut (#46). Der enttäuschte Schlagerstar beklagte sich später, ein holländischer Tontechniker habe ihn unmittelbar vor seinem Auftritt hinter der Bühne als “Nazi” beschimpft und ihm die Lautstärke abgedrosselt. Bittere Ironie der Geschichte, dass so ein offen schwuler Schlagersänger und leidenschaftlicher Grand-Prix-Fan zum zweifachen Opfer der Ultrarechten wurde. Für seinen verkrächzten Schlusston trägt er dennoch alleine die Verantwortung.
Unerreicht in der Kategorie “ausladende Gesten”: Jürgen Marcus (LU)
Den Vogel schoss die Norwegerin Anne-Karine Strøm (NO 1973, 1974) ab: in einem hautengen Goldpailetten-Body steckend und mit einem schmalen Stirnband aus dem gleichen Material aufgebrezelt, toppte nur noch die überdimensionale, reich mit Strass besetzte Sonnenbrille dieses Outfit. Ihr musikalisch bereits die harten Prüfungen der Achtzigerjahre-Instantsongs vorwegnehmendes Lied ‘Mata Hari’ (wie gut die Hälfte aller Wettbewerbstitel in englisch gesungen) landete völlig zu Recht auf dem letzten Platz. Die gastgebenden Niederlande schickten gleich mehrere alte Bekannte: Sandra Reemer (NL 1972, 1979), optisch ein Alptraum in Malve, verpackte das melancholische, melodisch ein wenig an ‘Those were the Days’ erinnernde ‘The Party’s over now’ zwar in flotte und gefällige Rhythmen, lieferte damit aber dennoch irgendwie den offiziellen Abgesang auf die von Katja Ebstein (DE 1970, 1971, 1980, DVE 1975) und Karina (ES 1971) eingeläutete Phase des Aufbruchs und der Zukunftshoffnung. Eine noch allumfassendere Contesterfahrung konnte die Moderatorin Corry Brokken (†2016) vorweisen: als Premierenteilnehmerin von 1956, Grand-Prix-Gewinnerin von 1957 und Letztplatzierte von 1958 – sie nahm echt alles mit, was geht!
Die Chiffon-Fledermaus: Sandra Reemer (NL)
Um dem Klischee als Tulpenland zu entsprechen, bekam jede/r Interpret/in direkt nach dem Schlusston auf der Bühne einen Strauß original holländischer Treibhausware überreicht. Die Niederländer, die erstmalig die Disziplin des Green-Room-Interviews einführten, hatten sich übrigens nur deswegen zur Austragung entschieden, weil die EBU sich endlich zu einer Aufsplittung eines Teils der Kosten auf alle Sendeanstalten durchrang. Wie Gordon Roxburgh in A Song for Europe zitiert, entfielen 50% der budgetierten Kosten auf die Big Five, die jeweils 23.000 € zu berappen hatten, ein weiteres Drittel auf die sogenannten Gruppe-Zwei-Länder – das waren 1976 Belgien, Finnland, Jugoslawien, Norwegen, Österreich und die Schweiz – sowie der Rest auf die kleineren Anstalten. Auch die sogenannten passiven Anstalten, die nicht am Wettbewerb teilnahmen, ihn aber ausstrahlten, wurden mit jeweils 3.350 € zur Kasse gebeten. An diesem Verfahren hat sich, bis auf die zur Rede stehenden Beträge, im Prinzip bis heute nichts verändert.
‘Ich kann meinen Schmerz nicht verstecken’ – könnte es einen passenderen Songtitel für einen bosnischen (die meisten Ambasadori stammten aus Sarajewo) Beitrag geben? (YU)
Aufgrund einer akuten Sinnkrise blieben heuer Schweden und Malta fern (ersteres für nur ein Jahr, letzteres für die nächsten 15), dafür kehrte das bereits erwähnte Österreich wieder zurück. Dessen briefmarkengroße Nachbarrepublik, die Steueroase Liechtenstein, soll Gerüchten zufolge den Song ‘Little Cowboy’ von Biggi Bachmann zum Contest eingereicht haben, durfte aber nicht mitmachen, weil es über keinen eigenen TV-Sender verfügte und somit kein EBU-Mitglied war. Ist Liechtenstein übrigens immer noch nicht: zwar existiert seit 1992 ein staatlicher und seit 2008 auch ein privater TV-Kanal, der seither auch mehrfach Aufnahmeanträge stellte, um am Song Contest teilnehmen zu können. Jedoch machte er diese stets von staatlichen “Medienbeihilfen” abhängig, die niemals flossen. Das EBU-Mitglied Italien schickte das singende Ehepaar Al Bano & Romina Power (IT 1985): wie der Name schon vermuten lässt, ist Frau Power gebürtige US-Amerikanerin und sang ihren Part des Beitrags ‘We’ll live it all again’ in ihrer Muttersprache. Ebenso wie Al Bano, bei dem es sich aber, anders als sein Name vermuten lässt, um keinen gebürtigen Skipetaren handelt. Anfang der Achtziger konnte man in Deutschland ihren Popschlagern wie ‘Sharazan’ oder ‘Felicita’ nirgends entkommen.
In the Disco: Mary Cristy hängt anfangs etwas mit dem Text (MC)
Der diesjährige Song Contest erwies sich als Fest der Gaukler. Das für die Schweiz anscheinend auf Lebenszeit gebuchte Trio Peter, Sue & Marc (CH 1971, 1979, 1981) besang in ‘Djambo, Djambo’ einen Clown und trat mit entsprechend bunter Bemalung auf; die Zirkusdirektoren gaben die benachbarten Österreicher Waterloo & Robinson, die ihren inhaltlich in keiner Volksmusiksendung fehlplatzierten Heile-Welt-Schlager ebenso wie die Helvetier auf englisch vortrugen. Den schwergewichtigen Finnen Fredi (1967) begleiteten beim kultigen ‘Pump-pump’ (nein, kein Lied über kreditfinanzierte Erdölförderung) zwei zierliche Frauen in lachsrosa Kostümen. Zum suggestiven Titel des Refrains bumsten sie tatsächlich mit den Hüften aneinander: man wartete mit atemloser Spannung darauf, dass es eines der zarten Geschöpfe von der Bühne trüge. Was jedoch die Blonde nicht davon abhielt, derart enthusiastisch zu tanzen, als habe sie eine Ecstasy eingeworfen. Als Backgroundsänger fungierten, in ihren Bühnenklamotten kaum wiederzuerkennen, die countrygeigenbegeisterten Pihasoittajat vom Vorjahr.
Der Walfisch & die Flundern: Fredi & Freunde (FI)
Vom Zirkus in den Club, den Club, oh-oh: als moderate Vertreterinnen der (mit Platz 2 und 3 auch bei den Jurys erstaunlich erfolgreichen) Discowelle gaben sich die etwas spröde, lustigerweise aus Luxemburg stammende “Monegassin” Mary Cristy mit dem so schönen wie schnellen, discogeigengeschwängerten Chanson ‘Toi, la Musique et moi’ und die Französin Cathérine Ferry, die singend bewies, dass auch eine Blondine durchaus bis drei zählen (und damit einen kontinentaleuropäischen Top-Ten-Hit kreieren) kann: ‘Un, deux, trois’. Über nicht weniger Schwung als der jedweder kafkaesken Gedankenschwere eine schroffe Absage erteilende und grundlose Fröhlichkeit zum Lebensstil erhebende französische Mitklatschschlager verfügte auch der hübsch choreografierte israelische Beitrag ‘Emor shalom’ des Mädchentrios Chocolate Menta Mastik. Optisch nicht ganz die Ansammlung von Süßigkeiten (Schokolade, Minze, Kaugummi), die der Bandname versprach, aber dennoch eine nette Kibbuzdisconummer. Yardena Arazi, die Schokolade, moderierte die Show 1979 in Jerusalem und nahm 1988 solo nochmals als Sängerin teil.
Wer braucht schon Kafka, wenn er die Discogeige hat? (FR)
Zwischen all das zirzensische Heile-Welt-Eiapeia und den drogeninduzierten Disco-Frohsinn mischte sich überraschend dann doch noch ein wenig politischer Anspruch. Nämlich in Gestalt des von zwei Mitgliedern der sozialistischen Partei Portugals geschriebenen Beitrags ‘Uma Flor de verde Pinho’, einer Liebeserklärung an das frisch aus den Fängen der Diktatur gerettete Land. Eine solche stellte auch das griechische ‘Panaya mou, Panaya mou’ dar. Diese musikalisch sehr gewöhnungsbedürftige Ode über die Schönheit Zyperns, gesungen von der optisch ein wenig an Juliane Werding erinnernden Interpretin Mariza Koch, die sich im tiefschwarzen Wallegewand gebärdete wie eine sterbende Schwänin, setzte sich mit der Teilannektierung der umstrittenen Urlaubsinsel durch die Türkei auseinander. Mariza soll deswegen Todesdrohungen erhalten haben. Kein Wunder, dass sie auf der Bühne ein bisschen unentspannt dreinblickte.
Bei allem Verständnis für den Wunsch der Griechen nach Protest: muss man das restliche Europa denn gleich mit strafen?
Die Rede war unter anderem von “Flüchtlingslagern” und “Napalm”. Woraufhin die Türken, welche wegen der Teilnahme Griechenlands selbst zu Hause blieben, den Contest aber live übertrugen, die EBU einen Tag vor dem Wettbewerb (und damit vielleicht ein bisschen knapp für eine Reaktion) auf die “starke Provokation” hinwiesen und auf Aussortierung des griechischen Beitrags drangen. Nachdem sie damit keinen Erfolg hatten, unterbrachen sie die Ausstrahlung des Wettbewerbs an dieser Stelle, um stattdessen ihren Invasionsschlager ‘Mein Land’ zu zeigen. Zum Zensuropfer geriet auch die isrealische Kibbuzdisconummer, nämlich in den Mahgrebstaaten, die den Contest allesamt live übertrugen – und allesamt ‘Emor Shalom’ ausblendeten. Die Konsequenzen vonseiten der EBU gegen all diese Regelverstöße? Sie ahnen es bereits: keine.
Eurovision Song Contest 1976
Eurovisie Songfestival. Samstag, 3. April 1976, aus dem Kongressgebäude in Den Haag, Niederlande. 18 Teilnehmerländer. Moderation: Corry Brokken.# | Land | Interpret | Titel | Punkte | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | UK | Brotherhood of Men | Save your Kisses for me | 164 | 01 |
02 | CH | Peter, Sue & Marc | Djambo, Djambo | 091 | 04 |
03 | DE | Les Humphries Singers | Sing Sang Song | 012 | 15 |
04 | IL | Chocolate Menta Mastik | Emor Shalom | 077 | 06 |
05 | LU | Jürgen Marcus | Chansons pour ceux qui s’aiment | 017 | 14 |
06 | BE | Pierre Rapsat | Judy et cie | 068 | 08 |
07 | IE | Red Hurley | When | 054 | 10 |
08 | NL | Sandra Reemer | The Party’s over now | 056 | 09 |
09 | NO | Anne-Karine Strøm | Mata Hari | 007 | 18 |
10 | GR | Mariza Koch | Panaghia mou, Panaghia mou | 020 | 13 |
11 | FI | Fredi & Friends | Pump pump | 044 | 11 |
12 | ES | Braulio García Bautista | Sobran la Palabras | 011 | 16 |
13 | IT | Al Bano & Romina Power | We’ll live it all again (Rivivrei) | 069 | 07 |
14 | AT | Waterloo & Robinson | My little World | 080 | 05 |
15 | PT | Carlos do Carmo | Um Flor de verde Pinho | 024 | 12 |
16 | MC | Mary Cristy | Toi, la Musique et moi | 093 | 03 |
17 | FR | Cathérine Ferry | Un, deux, troi | 147 | 02 |
18 | YU | Ambasadori | Ne mogu skriti Svoju bol | 010 | 17 |
Also das beste waren ja wohl die Greenroom-Interviews in der Landessprache WÄHREND des langweiligen Intervalacts.
Tja, so schnell kann’s gehen. Da ist die frisch aufpolierte, digital überarbeitete Version vom Uploader wieder auf privat gestellt worden. Um es in einem Wort auszudrücken: Sauerei!!!
Habe den Wettbewerb im Zuge von “Eurovision Again” erstmals gesehen und finde den Wettbewerb vom Ausgang her ziemlich langweilig und auch mit dem Großteil der Beiträge kann ich nicht viel anfangen. Beim Voting hat mir dann echt die Spannung gefehlt. “Save your Kisses for me” ist ein nettes Lied, aber für mich kein Sieger. Die Angebote unserer südlichen Nachbarn waren da meiner Ansicht nach besser. Ansonsten blieb mir nach dem Ansehen nur noch Finnland und die Niederlande im Kopf.