Con­cours Euro­vi­si­on 1977: Manch­mal nahm er sie aus sei­nem Schrank

Ein lus­ti­ges Detail ent­hüllt sich dem Auge des auf­merk­sa­men Betrach­ters des Schwei­zer Vor­ent­scheids aus dem Jah­re 1977, von dem ent­zü­cken­der­wei­se sämt­li­che Live­auf­trit­te auf You­tube erhält­lich sind. Gera­de bei ein­zeln auf­tre­ten­den Inter­pre­tin­nen scheint es näm­lich so zu sein, dass ein sexis­ti­scher Ton­tech­ni­ker die bereit­ge­stell­ten Stand­mi­kro­fo­ne auf eine der­art nied­ri­ge Höhe schraub­te, als sän­gen die Damen durch ihre Vagi­nen. Ach­ten Sie mal drauf! Zehn Bei­trä­ge hat­te das Schwei­zer Fern­se­hen ursprüng­lich aus 110 Ein­sen­dun­gen her­aus­ge­sucht. Für gleich zwei davon wünsch­te sich der Kom­po­nist Peter Reber (Peter, Sue & Marc) die popu­lä­re Pao­la als Inter­pre­tin, die der ver­ant­wort­li­che Sen­der DRS jedoch nicht dop­pelt auf­tre­ten las­sen woll­te. So muss­te sie sich für eins davon ent­schei­den und es gin­gen nur neun Lie­der ins Ren­nen. An ers­ter Stel­le star­te­te das gera­de neu gegrün­de­te und bis heu­te (!) im Busi­ness akti­ve Quin­tett Sweet Peo­p­le (unter Mit­wir­kung der frü­he­ren Con­cours-Teil­neh­me­rin Mady Rudaz), das sich mit Hil­fe von Glam­rock vor­täu­schen­den Glit­zer­kla­mot­ten und ‑gitar­ren optisch als eine Art hel­ve­ti­sche Caro-Kaf­fee-Vari­an­te von Abba zu posi­tio­nie­ren such­te, dies jedoch musi­ka­lisch mit einem unfass­bar schlap­pen Chan­son kon­ter­ka­rier­te und damit eine wirk­lich frap­pie­ren­de Ton-Bild-Sche­re kreierte.

Die Play­list mit allen Auf­trit­ten, dem Schnell­durch­lauf und dem Voting. Enjoy!

Dann kamen die Ehe­ma­li­gen. So ver­such­te es die frü­he­re ESC-Ver­tre­te­rin Véro­ni­que Mül­ler erneut. Aller­dings kann ich beim bes­ten Wil­len nicht sagen, in wel­cher Spra­che (Sua­he­li?) sie ihr komi­sches Lied­chen ‘Heyho’ vor­trug, von dem ich schlicht­weg kein ein­zi­ges Wort ver­ste­he. Ihre Grand-Prix-Kol­le­gin Pie­ra Mar­tell hoff­te ver­ge­bens, sich mit einem Zir­kus­schla­ger über den ent­we­der pen­sio­nier­ten oder an Alters­schwä­che ein­ge­gan­ge­nen Clown ‘Aldo Rinal­do’ an den Vor­jah­res­er­folg des the­ma­tisch ver­wand­ten ‘Djam­bo Djam­bo’ anflan­schen zu kön­nen. Dazu war ihre eben­falls alters­schwa­che Num­mer jedoch viel zu ver­staubt. Die ehe­ma­li­ge Kult­schla­ger­duo-Hälf­te Leo­nia hat­te sich zwi­schen­zeit­lich von ihrem Gespons Gil getrennt und gab solo einen flott tem­po­rier­ten, aber campfrei­en Italo­schla­ger zum Bes­ten. Es folg­ten gleich drei ver­zicht­ba­re fran­ko­phi­le Bal­la­den am Stück: Caro­le Vin­cis Stun­de soll­te erst im nächs­ten Jahr schla­gen, die des Wie­der­ho­lungs­tä­ters Gérald Matthey hin­ge­gen nie. Die beim Auf­tritt ein biss­chen ver­krampft wir­ken­de Sän­ge­rin Fré­dé­ri­que Sand ern­te­te für ihr wir­res, über­wie­gend im Sprech­ge­sang vor­ge­tra­ge­nes und von einem quiet­schend schie­fen Trom­pe­ten­ton ver­ab­schie­de­tes ‘Fai­tes la Vie’ schließ­lich völ­lig zur Recht die rote Laterne.

Wär sie ein Buch im Leben, wür­dest du ihr Leser sein? Die Schwei­zer Schla­ger­kö­ni­gin Paola.

Die mal wie­der beson­ders adrett fri­sier­te Pao­la del Med­ico prä­sen­tier­te sich in ihrem Bei­trag als ‘Liv­re blanc’, also als Buch mit lee­ren Sei­ten, was ange­sichts ihrer bereits zehn Jah­re zuvor eben­falls beim Schwei­zer Vor­ent­scheid begon­ne­nen Schla­ger­kar­rie­re natür­lich Quatsch war. Den­noch reich­te es für die mit viel Hin­ga­be und zar­ten, bei Vicky Lean­dros’ legen­dä­rem ESC-Auf­tritt von 1972 abge­schau­ten Ges­ten dar­ge­bo­te­ne Qua­li­täts­bal­la­de für einen gerech­ten zwei­ten Rang. Über den sich übri­gens, wie bei den meis­ten Lie­dern, vier von fünf abstim­mungs­be­rech­tig­te Jurys voll­kom­men einig waren. Nur die sen­der­ei­ge­ne “Experten”-Jury setz­te die spä­te­re Ver­ste­hen Sie Spaß?-Komo­de­ra­tri­ce auf Rang 1. Nerdi­ges Detail am Ran­de: bei der rela­ti­ven Gleich­för­mig­keit des fünf­tei­li­gen Votings fiel eine Anoma­lie beson­ders auf. So hat­te die an zwei­ter Stel­le in der Punk­te­aus­wer­tung auf­ge­ru­fe­ne Spre­che­rin des fran­zö­sisch­spra­chi­gen Fern­se­hens das Ergeb­nis noch nicht parat, weil es nach ihren Wor­ten “Ex Æquo”-Voten gab, also eini­ge Lie­der von den 500 im Sen­de­ge­biet per Cold Call (!) befrag­ten Zuschauer:innen gleich bewer­tet wur­den. Das woll­te man durch Ergän­zungs­an­ru­fe glatt zie­hen. Nicht so die von der etwas sprö­den Mode­ra­to­rin Rita Ander­mann ersatz­wei­se vor­ge­zo­ge­ne Jury des Tes­sin: der ita­lie­nisch­spra­chi­ge Lan­des­sen­der ver­gab fröh­lich gleich drei Mal vier Punk­te. Und erhöh­te damit ganz non­cha­lant sei­nen Ein­fluss aufs Gesamtergebnis.

Immer span­nen­der” war die Punk­te­aus­zäh­lung ent­ge­gen der mehr­fa­chen Behaup­tung von Frau Ander­mann nicht. Aber doch inter­es­sant im Hin­blick dar­auf, wie die Schweiz so funktioniert.

Änder­te aber nichts: bis auf die Sen­der­ju­ry sahen alle ande­ren uni­so­no die Pepe Lien­hard Band vor­ne. Die hat­te mit der eben­falls von Peter Reber kom­po­nier­ten ‘Swiss Lady’ den ohne jede Fra­ge bes­ten und stil­prä­gends­ten schwei­ze­ri­schen Euro­vi­si­ons­bei­trag aller Zei­ten im Ange­bot. Ja, ich wür­de sogar soweit gehen, das Lied über ein – in einer wun­der­bar grand­pri­x­es­ken Demons­tra­ti­on hel­ve­ti­scher Welt­of­fen­heit vom gebür­ti­gen Ira­ner Mos­ta­fa Kafa’i Azi­mi getu­te­tes – Alp­horn als heim­li­che Natio­nal­hym­ne der Eid­ge­nos­sen­schaft zu bezeich­nen. Dabei spiel­te das besun­ge­ne, im augen­zwin­kernd zwei­deu­ti­gen Text ger­ne mal “zärt­lich” umfass­te und “lie­be­voll” aus­ein­an­der­ge­nom­me­ne Alpen-Did­ge­ri­doo trotz sei­ner lyri­schen Pro­mi­nenz musi­ka­lisch sogar nur die zwei­te Gei­ge. Als viel domi­nan­ter erwies sich näm­lich die vom schnauz­bär­ti­gen Band­lea­der per­sön­lich gebla­se­ne Quer­flö­te, beim Grand Prix eigent­lich ein ris­kan­tes Instru­ment. Das Sah­ne­häub­chen setz­te jedoch ein klei­ner Jod­ler dem Gan­zen auf. Genau so und nicht anders will ich es aus der Schweiz hören! Und nicht nur ich: ein guter sechs­ter Rang in Lon­don, eine Num­mer Eins zu Hau­se, Top Ten in Schwe­den und Nor­we­gen (!) und ein Top-20-Hit in den deutsch­spra­chi­gen Län­dern leg­ten Zeug­nis ab von der grenz­über­schrei­ten­den Popu­la­ri­tät des iro­nisch Schrulligen.

Alp­horn, Quer­flö­te, Jod­ler und ein wit­zi­ger Text: bes­ser soll­te es nie wie­der werden.

Vor­ent­scheid CH 1977

Con­cours Euro­vi­si­on. Mitt­woch, 19. Janu­ar 1977, aus dem DRS-Stu­dio in Zürich. Neun Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Rita Ander­mann. Drei regio­na­le Publi­kums­ju­rys, Pres­se­ju­ry, Sen­der­ju­ry (je 20%).
#Inter­pre­tenSong­ti­telDRSTRSTSIPres­seJuryPunk­tePlatz
01Sweet Peo­p­leViens avec nous07070607073403
02Véro­ni­que MüllerHeyho04030405021806
03Pie­ra MartellAldo Rinal­do06060504052604
04Leo­niaPas­so, vedo02020702041707
05Pepe Lien­hard BandSwiss Lady09090909084401
06Caro­le VinciDites-moi ce qu’est l’Amour05050406062604
07Gérald MattheyLe Cœur dans les nuages01040403031508
08Fré­dé­ri­que SandFai­tes la Vie03010101010709
09Pao­laLe Liv­re blanc08080808094102

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 19.05.2023

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