
Anno 1977 feierte die ohne jede Frage wichtigste Musikrichtung aller Zeiten, nämlich die weltweite, aus dem queeren Untergrund hervorgegangene Discowelle, ihren kommerziellen wie künstlerischen Höhepunkt. Filme wie Saturday Night Fever mit John Travolta pushten die Fistelstimmen-Hits der Bee Gees, Donna Summer stöhnte sich mit ihrem Orgasmus-Epos ‘I feel Love’ durch alle Hitparaden und deutsche Komponisten wie Frank Farian (Boney M), der veganalternative Rolf Soja (Baccara) oder der gebürtige Ungar Sylvester Levay, die zu den Pionieren der fröhlichen Pop-Revolution zählten, erzielten Welthits. Letzterer belieferte unter anderem das von Michael Kunze produzierte Damentrio Silver Convention, dessen minimalistisch genialer, lediglich auf einem süchtig machenden, in Endlosschleife wiederholten Basslauf, hart gestrichenen Discogeigen und ganzen sechs Worten Text (“Fly Robin fly, up up to the Sky”) basierender Kokainverherrlichungssong bereits 1975 Clubgänger:innen auf dem ganzen Globus in ekstatische Verzückung getrieben hatte. Und sogar den ersten Platz der US-Charts erreichte!
Lieferte ‘Fly Robin fly’ die Vorlage für die Choreografie zu ‘Dschinghis Khan’ (DE 1979, Repertoirebeispiel)?
Und nachdem im Vorjahr beim Grand Prix französische Discoschlager wie ‘Un, deux, trois’ abräumten, während Deutschland mit Siegels saftlosem ‘Sing Sang Song’ mal wieder ganz weit hinten landete, buchte der ARD-Eurovisionsbeauftragte Hans-Otto Grünefeldt die heimischen Discoheldinnen exklusiv, ganz ohne Vorentscheidung. Dumm für ihn: nur wenige Wochen vor dem Contest (und weit nach Vertragsabschluss) führte die European Broadcasting Union die seit vier Jahren außer Kraft gesetzte Regel wieder ein, wonach jedes Land in seiner Muttersprache antreten musste. Wenn mir der Einwurf an dieser Stelle gestattet sei: danken wir Thor, dass die Skandinavier:innen damals durchsetzten, dass wenigstens zwischen 1973 und 1976 auch in der Lingua franca des Pop, auf Englisch, gesungen werden durfte. Denn sonst hätte die Weltkarriere der schwedischen Eurovisionssieger:innen Abba wohl nicht stattgefunden. Gerüchten zufolge habe gerade das stets zur Rückständigkeit neigende Deutschland zu den massivsten Befürwortern dieser völlig antiquierten Nationaltümelei gehört. Silver Convention (bzw. ihr Produzent) bestanden jedoch darauf, ihren Titel ‘Telegram’ ausschließlich auf Englisch zu präsentieren – oder eben gar nicht.
Die legendäre Saloontürchoreografie: ‘Telegram’.
Gegen seine innerste Überzeugung musste der hr-Mann daher in Genf um eine Ausnahmeregelung ersuchen, die man ihm – wie übrigens auch dem belgischen Fernsehen, das von dem konservativen Rollback ebenso unvorbereitet überrascht wurde – gnädig gewährte. Weniger gnädig zeigten sich dann die europäischen Juror:innen: offenbar vergrätzt über die germanische Extrawurst, straften sie den deutschen Vorzeigeact (wie auch den belgischen Dream Express) bei der Punktevergabe vorsätzlich ab und setzten damit den Wendepunkt für die Popularität des Grand Prix beim entscheidenden jüngeren Publikum. Das einzig Positive an der Chose: direkt im Anschluss gab Grünefeldt die Verantwortung für den Eurovision Song Contest innerhalb der ARD endlich ab. Kommerziell konnten Silver Convention mit ‘Telegram’ nicht mehr ganz an ihren größten Erfolg anknüpfen, aber für einen letzten Hit reichte es: immerhin Rang 27 in der deutschen und (man lese und staune) #4 in der schwedischen Verkaufshitparade. Die heutzutage tonangebende Grand-Prix-Nation hatte eben schon immer ein Spürnäschen für herausragenden Hedonismuspop.
Im Jahre 1977 ein europaweiter Nummer-Eins-Hit mit drei Millionen verkaufter Singles: ‘Yes Sir, I can boogie’ von Baccara, 1978 für Luxemburg beim ESC am Start (Repertoirebeispiel).
Wie ich unlängst beim Hören der mittlerweile leider eingestellten, großartigen Radiosendung Mein rosarotes Liebeslied auf der nichtkommerziellen Frankfurter Stadtwelle Radio X erfuhr, reichte Sylvester Levay, den Anforderungen der ARD entsprechend, seinerzeit neben ‘Telegram’ noch weitere Songvorschläge beim Hessischen Rundfunk ein. Darunter befand sich auch ein (für den Grand Prix abgelehnter) Titel, der noch im gleichen Jahr seinen Weg als Füllstoff auf einen Longplayer der gerade am Anfang der Karriere stehenden US-Girlgroup Sister Sledge (‘Lost in Music’) fand: ‘My favourite Song’, ein in seiner textlichen wie musikalischen Reduziertheit deutlich stärker an das Frühwerk von Silver Convention angelehntes Stück. Hier muss ich Hans-Otto Grünefeldt bzw. der hr-Jury ausnahmsweise einmal beipflichten: im Vergleich hierzu erwies sich ‘Telegram’ als der grandprixeskere Beitrag.
Ihr liebstes Lied wurde dieser Titel vermutlich nicht: die Sledge-Schwestern mit dem vom hr zurückgewiesenen Beitrag.
Doch zurück zu Silver Convention und ihren Sängerinnen: Rhonda Heath, die mittlere der drei Hupfdohlen, kam 1985 beim österreichischen und 1994 beim deutschen Beitrag nochmals als Chorsängerin zum Einsatz. Die gebürtige Klagenfurterin Gertrude Wirschinger, besser bekannt unter ihrem Künstlerinnennamen Penny McLean (‘Lady Bump’), unter dem sie solo mehrere Disco-Hits landete, versuchte es 1979 mit dem von Ralph Siegel produzierten Kultschatz ‘Tut-Ench-Amun’ bei der luxemburgischen Vorentscheidung, zu meinem größten Bedauern leider vergebens. In Thomas Hermanns sehr lesenswertem Buch ‘Für immer Disco’ erzählte die extrem sympathisch und lebensklug herüberkommende Penny, dass sie über keinerlei Rhythmusgefühl verfüge und das Synchrontanzen für sie immer die Hölle gewesen sei. Dafür hat sie das aber sehr überzeugend gemacht!
Wie gerne hätte ich das beim Contest gesehen! Penny McLean mit dem luxemburgischen Vorentscheidungstitel ‘Tut-Ench-Amun’ (1979).
Deutsche Vorentscheidung 1977
Wie hätten Sie’s denn gern? Samstag, 9. März 1977, aus dem hr-Sendestudio in Frankfurt. Ein Teilnehmer, Moderation: Hans-Joachim Kulenkampff (Songpräsentation im Rahmen der Show).
Zuletzt aktualisiert: 25.09.2022