Nicht nur in Deutschland beschädigten die konservativen Jury-Entscheidungen beim Eurovision Song Contest, wo in einem Jahrgang voller kontemporärer Discohits und augenzwinkernd mit landestypischen Klischees spielenden Kultknallern wie dem finnischen ‘Lapponia’, aber eben auch der helvetischen ‘Swiss Lady’ ausgerechnet eine altertümliche französische Baukastenballade gewann, langsam aber sicher das Renommee des internationalen Wettbewerbs. Und so war es kein Wunder, dass sich der schweizerische Ralph Siegel, Peter Reber, in diesem Jahr aus dem heimischen Vorentscheid heraushielt und die Zahl und Qualität der Einsendungen so stark sank, dass der erneut gastgebende deutschsprachige Sender DRS lediglich sieben Beiträge an den Start ließ, vorgetragen hauptsächlich von bereits hinlänglich bekanntem Sangespersonal. So skandierte die ehemalige ESC-Vertreterin Piera Martell beispielsweise ‘Hier, Pierre’, was keinen genervten Hinweis darauf darstellte, wo die müffelnde Mülltüte stand, die sie ihren Ehemann bat, rauszubringen, sondern – auf Französisch – eine genervte Erinnerung daran, wann er das eigentlich schon längst hätte erledigen sollen, nämlich “Gestern, Pierre”.
Eine gute Stunde dauerte der helvetische Vorentscheid 1978 (ganze Show am Stück), von der jeweils ein Drittel für die Vorstellung der Wettbewerbsbeiträge, für die Pausenacts und für die Wertung draufging.
Die beiden einzigen neuen Namen waren die vor wie nach der Show weithin unbekannte Isabelle Alba, die es nur auf diese eine gefloppte Singleveröffentlichung ihres letztplatzierten Concours-Liedes bringen sollte, sowie der 1957 mit seinen Eltern aus Italien eingewanderte, ausgebildete Grundschullehrer (schon wieder!) Salvo Ingrassia, ein fantastisch knuffiges, klischeehaft kleinwüchiges Bärchen mit massiver Gesichts- und Brustbehaarung, an der er uns freundlicherweise durch ein bis zum Sternum aufgeknöpftes Hemd teilhaben ließ. Was zumindest mir den Genuss seines mandolinengeschwängerten Schunkelschlagers ‘Solo tu’ erheblich versüßte. Größere Bekanntheit sollte er freilich erst 1989 durch den Sieg beim Grand Prix der Volksmusik mit dem Titel ‘Losed Sie Frau Küenzi’ erlangen. Das zweite italienischsprachige Canzone steuerte die bereits zum vierten Mal antretende Marisa Frigerio mit ‘Il Chiromante’ (‘Der Wahrsager’) bei, das vor allem mit einem wunderbar dramatischen, von den begleitenden Günther-Kallmann-Singers (die kennen wir noch vom deutschen Lied für Amsterdam) beigesteuerten “Huhuhu”-Chor überzeugte. Also, zumindest die Senderjury, die hierfür leider als einzige ihre Höchstwertung zückte, während Marisa in der Publikumsgunst ganz hinten landete.
Ich kann die Pheromone quasi bis hierher riechen: der unfassbar knuffige Kuschelteddy Salvo.
Letztes Jahr hatte das Schlagerquintett Sweet People den Reigen eröffnet, dieses Jahr beschloss es ihn. In unveränderter Besetzung, allerdings diesmal unter dem Namen ihres Mastermindes als Alain Morisod & Group. Morisod versorgte als Komponist auch gleich noch zwei seiner Konkurrent:innen, und das sollte ihm zum Verhängnis werden. Denn am Ende der erneut fünfteiligen Punkteauszählung mit drei nach Sprachregionen getrennten Publikumsjurys, der Presse und einer als einzige mal wieder massiv vom allgemeinen Konsens abweichenden “Experten”-Jury aus Sendergewaltigen unterlag er gewissermaßen sich selbst: mit nur einem einzigen Pünktchen Vorsprung überholte die ebenfalls von ihm geschriebene, sturzlangweilige frankophile Ballade ‘Vivre’ von Carole Vinci seinen mittelbeschwingten Popschlager ‘Hey, le Musicien’. Das im Refrain ganz schwach an den Musical-Klassiker ‘Don’t cry for me, Argentinia’ erinnernde, in dieser Form gefühlt schon tausend Mal gehörte Grand-Prix-Chanson erreichte anschließend in Paris einen mittleren neunten Platz. Kaufen wollte die Knotte, auch in einer so korrekt wie hilfreich als ‘Vivre, vivre heißt leben’ ins Deutsche übersetzten Version, allerdings niemand. Und so musste sich Frau Vinci bald darauf wieder einen ordentlichen Brotberuf suchen: sie übernahm der Sage nach die Leitung einer Käserei. Bon Fromage!
Die Playlist mit allen Concours-Beiträgen zum Durchskippen. Auch den ersten Titel von Françoise Rime schrieb Alain Morisod. Carole Vinci kommt an fünfter Stelle.
Vorentscheid CH 1978
Concours Eurovision. Mittwoch, 18. Januar 1978, aus dem DRS-Studio in Zürich. Sieben Teilnehmer:innen. Moderation: Christian Heeb. Drei regionale Publikumsjurys, Pressejury, Senderjury (je 20%).# | Interpreten | Songtitel | DRS | TSR | TSI | Presse | Jury | Punkte | Platz |
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01 | Françoise Rime | Quand l’Amour rencontre un Jour une Chanson | 04 | 04 | 04 | 05 | 06 | 23 | 03 |
02 | Piera Martell | Hier, Pierre | 03 | 02 | 02 | 02 | 02 | 11 | 07 |
03 | Isabelle Alba | Colombe chante | 02 | 06 | 01 | 01 | 01 | 11 | 06 |
04 | Marisa Frigero | Il Chiromante | 01 | 01 | 03 | 03 | 08 | 16 | 05 |
05 | Carole Vinci | Vivre | 08 | 05 | 08 | 08 | 03 | 32 | 01 |
06 | Salvo Ingrassia | Solo tu | 05 | 03 | 05 | 04 | 04 | 21 | 04 |
07 | Alain Morisod & Group | Hey, le Musicien | 06 | 08 | 06 | 06 | 05 | 31 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 20.05.2023