Ein zweites und letztes Mal versuchte es Luxemburg im Jahre 1978 mit einem Vorentscheid. Jedenfalls mit einem im engeren Sinne: zum Ende seiner Teilnahmephase hin folgten 1989 und 1992 noch zwei Songauswahlen, bei denen die Interpreten jeweils feststanden und das Publikum nur unter drei bzw. zwei Liedvorschlägen entscheiden durfte. Anno 1978 jedoch gingen, wie schon zwei Jahre zuvor, fünf verschiedene Interpret:innen mit jeweils einem eigenen Song in die Konkurrenz. Ebenfalls wie bereits zuvor ist nichts Genaueres zu solchen Lappalien wie Datum, Austragungsort, Moderation etc. bekannt. Nur, dass eine wie auch immer zusammengesetzte Jury nach welchem Verfahren auch immer Punkte vergab, wissen wir. Und dass sich das Line-up sehen lassen konnte, zumindest was den Bekanntheitsgrad und die Internationalität der teilnehmenden Künstler:innen anging. Nicht im selben Umfang galt das für die Lieder, die – bis auf den Siegersong – größtenteils in die Kategorie “hat sich bemüht” fielen. Dennoch (oder möglicherweise genau deswegen) verteilten sich die Punktegaben relativ gleichmäßig auf fast alle Songs.
Die Playlist mit allen fünf Vorentscheidungsbeiträgen in Startreihenfolge (Audio).
Am schmalsten fiel die Ernte für den gebürtigen Argentinier Mario Rubén González aus. Der war nach musikalischen Erfolgen in seinem Heimatland Anfang der Siebziger nach der dortigen Machtergreifung durch eine Militärjunta zunächst nach Spanien geflohen, wo er unter dem Künstlernamen Jairo Karriere machte. 1977 zog er nach Frankreich weiter, wo er zum Zeitpunkt seiner Vorentscheidungsteilnahme in Luxemburg bereits drei Alben aufgenommen hatte. Sein Lied ‘Dans les Yeux d’un Enfant’ (‘In den Augen eines Kindes’) warb auf dem Plattencover mit der Kategorisierung “poetisches Chanson”, und genau so (schnarch) klang es auch. Die Belgierin Liliane St. Pierre (bürgerlich: Liliane Keuninckx), bereits seit ihrem 13. Lebensjahr im Geschäft und nach einigen Erfolgen in der Heimat und in Frankreich zwischenzeitlich in einem Karriereloch steckend, steuerte eine klavierklimpernd balladeske ‘Melódie’ bei, die trotz einer recht eindringlichen Dramatik im Gesangsvortrag nicht so richtig zünden wollte. 1981 und 1987 versuchte sie es dann im heimischen Vorentscheid, und im dritten Anlauf klappte es dank der pazifistischen (sowie subtextuell schwulen Fetisch-) Hymne ‘Soldiers of Love’ mit der Eurovisionsteilnahme.
Markiert den Beginn vom Ende ihrer ersten Schlagerphase, bevor Gitte sich mit erwachseneren Chansons neu erfand: die deutsche Fassung ihres luxemburgischen Vorentscheidungsbeitrags.
Erfahrungen als Kinderstar konnte auch die Dänin Gitte Hænning vorweisen, die in ihrer Heimat schon als Achtjährige auf der Bühne stand. Nach zwei erfolglosen Bewerbungen beim Dansk Melodi Grand Prix hatte sie beim Eurovision Song Contest 1973 in Luxemburg (!) gesungen, und zwar für Deutschland, und mit ‘Junger Tag’ ein achtbares Ergebnis geholt. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie bei uns bereits auf eine zehnjährige Schlagerkarriere mit Millionensellern wie ‘Ich will ’nen Cowboy als Mann’ und zahlreichen verkaufsstarken Duetten mit Rex Gildo zurückblicken. Auch nach dem ESC ging es für sie mit Erfolgstiteln wie ‘So schön kann doch kein Mann sein’ weiter. Allerdings erwies sich die deutsche Einspielung ihres luxemburgischen Vorentscheidungsbeitrags ‘Rien qu’une Femme’ (‘Nichts als eine Frau’) unter dem Titel ‘Mach mich nicht schwach’ als Flop. Wenig überraschend, denn auch bei diesem unentschlossen vor sich hin plinkernden Song konnte sie nicht von ihrem Markenzeichen, dem gedehnten Gesang, lassen, der aber hier den Fluss ziemlich ausbremste. Ab 1980 startete sie mit neuer künstlerischer Ausrichtung durch und eroberte sich mit grandiosen Emanzipationsschlagern wie ‘Ich bin stark’, ‘Liebe – nein danke’ oder ‘Ich will alles’ eine neue Zuhörer:innenschaft. Nicht zu vergessen ihr absolut bester Titel ‘Lampenfieber’, dessen Auftaktzeilendilemma “In kaum zwei Stunden treff ich ihn / Kein Glanz im Haar, nichts anzuziehn” wohl auch jeder ihrer schwulen Fans aus tiefstem Herzen mitfühlen kann. Mitte der 2000er tourte sie dann gemeinsam mit ihren skandinavischen Grand-Prix-Kolleginnen Siw Malmkvist und Wencke Myhre durch ausverkaufte Hallen.
https://youtu.be/GCcCI-rSpDk
Bisschen creepy, der Vogel: Jean-Paul Cara (Mitte) beim ESC 1980.
Der in Montpellier geborene Jean-Paul Cara, seinem französischen Wikipedia-Eintrag zufolge als junger Mann eine Zeitlang als mittel- wie obdachloser Straßenmusikant unterwegs, hatte in den vergangenen zwei Jahren als Komponist gleich zwei sehr erfolgreiche Lieder zum Eurovision Song Contest beigesteuert: 1976 schrieb er das zweitplatzierte ‘Un, deux, trois’ für Catherine Ferry, 1977 gar das siegreiche ‘L’Oiseau et L’Enfant’ für Marie Myriam, weswegen der Wettbewerb heuer in Paris stattfand. Um so erstaunlicher, dass Cara in diesem Jahr nach Luxemburg auswich, wo er diesmal selbst als Sänger startete und immerhin Platz zwei erreichte. Wobei man sich fragt, warum, denn sein Chanson ‘Un Arbre dans la Ville’ (‘Ein Baum im Ort’) konnte sich weder musikalisch noch stilistisch entscheiden, wo es hinwollte, und probierte von leicht psychedelisch wabernden Synthieklängen bis zu saftlosem Gitarrengenudel alles Mögliche nacheinander aus, ohne je eine Idee zu Ende zu führen. Caras leicht heiserer Jammergesang nervte zusätzlich. Zwei Jahre später schaffte er es dann doch noch für Luxemburg zum ESC: da schrieb er mit am französischen Text für das von Ralph Siegel erdachte Camp-Kunstwerk ‘Papa Pingouin’ – und durfte als der Typ im Pinguinkostüm lustig über die Bühne watschelnd den Chorsänger der bonbonbunten Pariser Zwillinge Sophie & Magaly geben. So geht Fame!
Eine Umweltkatastrophe: wie viel Alufolie ging wohl für diese Bühnendeko drauf?
Die Krone aber holten diesmal die spanischen Discoköniginnen Baccara. Als Flamenco tanzendes Showduo in iberischen Hotelclubs gestartet und dort von einem Talentscout entdeckt, hatten Mayte Mateos und María Mendiola im Vorjahr einen echten Welthit mit der vom deutschen Produzententeam Rolf Soja und Frank Dostal geschriebenen Nummer ‘Yes Sir, I can boogie’, einer Nummer Eins in praktisch allen europäischen Charts einschließlich Großbritannien sowie einer Top-Ten-Platzierung in Australien. Mit insgesamt 18 Millionen (!) abgesetzter Einheiten gilt das von den beiden Disco-Diven sinnlich dahingehauchte Suggestiv-Epos als die verkaufsstärkste Girlgroup-Single aller Zeiten. An der mich persönlich vor allem die herrlich eigenironische zweite Strophe “Already told you in the first Verse and in the Chorus, but I can give you one more Chance” begeistert, mit welcher die Autoren augenzwinkernd auf die extrem repetitiven Lyrics hinweisen, einem der Erfolgsgeheimnisse von Baccara. In ‘Parlez-vous français?’ erzählt Mayte zum ressourcenschonend recycelten Musikbett ihres größten Hits von einem heißen Urlaubsflirt mit einem Franzosen, bei dem ihre mangelnden Sprachkenntnisse einer aufregenden Kurzzeit-Romanze nicht im Weg standen. Denn Knispeln geht bekanntlich zur Not auch ohne Reden.
https://youtu.be/iWR3tv5sq7E
Lustigster Car-Crash-Moment: gleich zum Auftakt, als Mayte und María rückwärts aufeinander zulaufen und mit voller Wucht aufeinanderprallen. Man spürt die blauen Flecke quasi am eigenen Leib.
Für den internationalen Markt nahmen Baccara den Song in einer – bis auf die Titelzeile – englischen Fassung auf, die zusätzlichen Witz aus der Tatsache bezieht, dass die beiden Spanierinnen diese Sprache sehr hörbar genau so wenig draufhaben. Für den Grand Prix mussten sie ihr Lied jedoch aufgrund des im Vorjahr wieder eingeführten Landessprachenzwangs in Französisch vortragen, und eigentlich macht die Story so überhaupt keinen Sinn. Die vergreisten, discohassenden Juror:innen straften sie denn auch mit einem skandalösen siebten Platz ab und beförderten den Grand Prix damit für nächsten zwei Jahrzehnte ins kulturelle Aus. Baccara trennten sich nach der Veröffentlichung weiterer unsterblich camper Disco-Knaller wie ‘The Devil send you to Lorado’ 1982 und verfolgten zunächst Solokarrieren. Nachdem das nicht klappte, machten beide unter altem Namen, aber mit wechselnden neuen Partnerinnen, darunter Jane Comerford (Texas Lightning) und Blanca Paloma, weiter. So dass man bei einem Discothekenauftritt nie genau wusste, welche Inkarnation des Duos da nun gerade vor einem steht. 2004 versuchte Mayte Mateos mit ihrer Baccara-Version beim Melodifestivalen nochmal ein ESC-Ticket zu erwerben, ohne Erfolg. María Mendiola starb 2021 im Alter von 69 Jahren.
“You shake my Life like a Tomato”? Das gibt doch Flecken auf dem schönen weißen Kleid! Baccara mit ihrem geilsten Kultknaller aus dem gleichen Jahr (Repertoirebeispiel).
Luxemburg konnte 1983 in München seinen letzten Eurovisionssieg klar machen. Nachdem sich die Relevanz des Wettbewerbs immer weiter vaporisierte und RTL keine etablierten Künstlerinnen aus aller Welt mehr einkaufen konnte, sank der Stern des Fürstentums, das ab 1989 mit heimischen No-Name-Acts die hinteren Plätze aufrollte. Nach der ersten Nichtqualifikation im Jahre 1994 aufgrund des zu niedrigen Punktescores stieg das Land aus und konnte trotz jährlicher Bettelbriefe von Grand-Prix-Fans bis heute nicht wieder zu einer Teilnahme bewegt werden.
Vorentscheid LU 1978
Fünf Teilnehmer:innen. Jury.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Jean Paul Cara | Un Arbre dans la Ville | 62 | 02 |
02 | Gitte Hænning | Rien qu’une Femme | 56 | 03 |
03 | Jairo | Dans les Yeux d’un Enfant | 51 | 05 |
04 | Baccara | Parlez-vous Français? | 80 | 01 |
05 | Liliane Saint-Pierre | Mélodie | 52 | 04 |
Letzte Aktualisierung: 19.03.2023