
Im Jahr Eins nach Grünefeldt herrschte bei der ARD in Sachen Grand Prix heillose Konfusion. Nachdem selbst der kommerziell erfolgreichste Act, den Deutschland jemals zum Wettbewerb schickte, nämlich das Disco-Trio Silver Convention, noch nicht mal eine Silbermedaille nach Hause bringen konnte, gab der Hessische Rundfunk die Zuständigkeit für den Eurovision Song Contest ab. Und niemand anderes im öffentlich-rechtlichen Senderverbund wollte sie haben! Gegen seinen erklärten Willen erhielt daraufhin der Südwestfunk in Baden-Baden die Verantwortung zwangsweise zugeschoben. Der verlegte die nationale Vorentscheidung ins Radio, nachdem man die auf einen extrem kurzfristigen Aufruf an die heimischen Schlagerproduzenten hin eingereichten Songs als zu niveaulos für ein TV-Finale empfand. Und tatsächlich lassen solch klingende Künstler:innennamen wie die international renommierten Interpret:innen Brunhilde Lamberty (wer?), Albatros (mit dem Beischlafschlager ‘Bleib die Nacht bei mir und komm’) oder das deutsch-österreichische Schlagerpärchen Freya & Bernd Wippich (‘Ich trage [schwer an] Deinem Namen’) hinsichtlich der Beiträge nichts Gutes erahnen.
Die Playlist mit den auffindbaren Vorentscheidungstiteln, natürlich fast ausschließlich in Audioversion.
Der Komponist Hans-Georg Moslener (‘So schön kann doch kein Mann sein’) reichte gleich drei Songs ein, von denen sich zwei direkt aufeinander bezogen: während der als Manfred Oberdörffer geborene Schlagersänger Tony ‘Mädchen wie Helena’ vollsülzte, erwiderte die solcherart angebaggerte Tschechin Helena Vondráčková: ‘Männer wie Du’. Und meinte vermutlich: …sind ein Grund, lesbisch zu werden. 2007 wollte sie im zarten Alter von 60 Lenzen am ersten Vorentscheid ihres Heimatlandes teilnehmen, ihre campe Perle ‘Samba’ wurde jedoch disqualifiziert. Einen dritten Titel konnte Moslener dem gebürtigen Grazer Ferenc Gillmic alias Johnny Hill andrehen, der jedoch erst im Jahr darauf mit dem absolut härtesten Tränenzieher der deutschsprachigen Schlagergeschichte, ‘Ruf Teddybär Eins-Vier’, seinen Durchbruch schaffen sollte. Die vierfachen schweizerischen Grand-Prix-Vertreter:innen Peter, Sue & Marc, versuchten es vergebens mit einem Song zu Ehren von ‘Charlie Chaplin’. Der hatte im Dezember 1977 den Löffel abgegeben und konnte sich nun nicht mehr gegen eine derartige Hommage wehren. Was auch die Griechen nutzen, um in Paris das Angedenken an den legendären Stummfilmstar mit einem gleichnamigen, furchtbaren Liedchen zu beschmutzen.
Wenn du schon glaubst, jetzt geht nichts mehr, kommt noch ein Kitschklischee daher: Johnny Hill lässt absolut nichts unversucht, uns zum Flennen zu bringen (Repertoirebeispiel).
Zu den etablierten Namen zählte Marianne Rosenberg, deren Wettbewerbsbeitrag ‘Nein, weinen werd’ ich nicht’ zwar vom selben Songschreiberteam stammte wie ihr Signatursong ‘Er gehört zu mir’, dennoch musikalisch nicht weiter vom upliftenden Phillysound jener Produktion hätte entfernt sein können. Langfristige Knebelverträge zwangen die Schlagerqueen, Album auf Album abzuliefern, und so sang sie halt auch diesen bräsig-mageren Balladenquark weg. Gleich zwei Eisen hatte das Vorzeige-Ehepaar des deutschen Schlagers, Cindy & Bert, im Feuer. Doch weder mit dem durch pumpende Discobeats aufgewerteten ‘Wer die Sterne lenkt’ noch mit dem von Bert selbst geschriebenen Walzer ‘Chanson d’Été’ konnten sie reüssieren. Vermutlich fehlte dem Publikum bei beiden Titeln die stumpfe Mitklatschmöglichkeit. Drafi Deutscher, Mitte der Sechzigerjahre der erfolgreichste deutsche Popstar (‘Marmor, Stein und Eisen bricht’), steuerte unter dem Projektnamen Royal Brewery ein (fremdgesungenes) ‘Lied für Europa’ bei, mit dem er sehr grandprixesk sämtliche politischen Spannungen des Vielvölkerkontinents durch die Kraft der Musik aufzulösen trachtete. Ob “all die Diplomaten” tatsächlich “gut beraten” gewesen wären, auf ihn zu hören, erfahren wir wohl nie: der Song schaffte es nicht nach Paris.
Da bleibt kein Auge trocken: erst Benedetto Arico alias Bino gab dem Tränenzieher, an dem sich zuvor schon Ruth Händel und Mike Mareen (‘Love Spy’) versucht hatten, das gewünschte authentische Flair (Repertoirebeispiel).
Ein Smashhit gelang Drafi im gleichen Jahr dennoch: in der Einspielung des gebürtigen Sizilianers Bino stürmte seine Monsterschmonzette ‘Mama Leone’ sowohl in der deutschen als auch in einer vom Interpreten selbst übersetzten italienischen Fassung die Charts und setzte weltweit 20 Millionen Einheiten ab. Ein Mütterverabschiedungssong (‘Goodbye Mama’) hatte auch der Schlagersängerin Ireen Sheer im Jahre 1973 ihren ersten (und größten) Hit beschert. Das Markenzeichen der gebürtigen Britin ist bis heute ihre unverwechselbare, von einer leicht metallischen Schärfe geprägte Stimme. Damit ragte sie im Funk aus dem auf Harmonie geeichten Angebot der ARD-Schlagerwellen wahrnehmbar heraus, auf welchen die fünfzehn Titel dieses Wettbewerbs liefen. Kein Wunder daher, dass die Radiohörer:innen ihren zündenden Discoschlager ‘Feuer’ zum Sieger kürten. Und zwar völlig zu Recht: die fabelhafte Nummer gehört schlechthin zu den besten deutschen Eurovisionsbeiträgen! Eine gänzlich andere Ansicht vertraten jedoch die so genannten “Experten”. Der SWR hatte es nicht lassen können, parallel zum Publikum auch eine achtköpfige, aus Musikjournalist:innen und GEMA-Mitgliedern zusammengesetzte Jury mit so prominenten und popkompetenten Mitgliedern wie dem Jazzer Knut Kiesewetter zu befragen, deren Wertung ursprünglich zu zwei Dritteln zählen sollte.
Ein schöner Rücken kann auch entzücken: Ireen setzt im Eurovisionsdress das Studio in Flammen.
Und die empfand alle 15 Titel, einschließlich Ireens hell loderndem ‘Feuer’, als ästhetische Zumutung. So lautete die einhellige Empfehlung des Gremiums, auf die Grand-Prix-Teilnahme gänzlich zu verzichten. Typisch deutsch drohte es gar mit Klage, sollte die mit einer Repräsentanz Luxemburgs im Jahre 1974 mit einem absolut grauenhaften Siegel-Schlager bereits contesterfahrene Interpretin dennoch fahren. Was für eine groteske Anmaßung! Selbstverständlich ließ sich unsere zu allem entschlossene Kult-Uschi, die das deutsche Schlagerwesen im Laufe ihrer mittlerweile über fünfzigjährigen Karriere um solche Trashperlen wie ‘Heut’ Abend hab ich Kopfweh’ oder ‘Heut’ verkauf ich meinen Mann’ bereicherte, von den abseitigen “Experten” nicht abhalten, nach Paris zu reisen und dort eine der unvergesslichsten deutschen Performances abzuliefern: bravo, Ireen! Und auch, wenn es beim Contest dank der gezielten Sabotage des französischen Orchesters lediglich für Platz 6 und in den Charts nur für Rang 39 reichte, ist es doch ein neuerlicher Beweis für die ohnehin glasklare These, dass in Sachen Popmusik das Publikum stets das bessere, auf jeden Fall aber das maßgeblichere Urteil fällt als irgendwelche angeblichen Fachleute.
“Ich hab Migräne / weil ich mich sehne” gehört zweifelsfrei zu den schmerzbringendsten Reimen des deutschen Schlagerwesen (Repertoirebeispiel).
Deutsche Vorentscheidung 1978
Auf los geht’s los. Samstag, 15. April 1978. Eine Teilnehmerin. Moderation: Joachim Fuchsberger (Songvorstellung im Rahmen der TV-Show nach vorausgegangenem Radio-Finale mit 15 Teilnehmer:innen). Demoskopische Umfrage unter den Radiohörer:innen.# | Interpreten | Songtitel | Punkte | Platz | Charts |
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01 | Cindy & Bert | Was die Sterne lenkt | 5,15 | 05 | - |
02 | Jochen Brauer Group | Lieder, die aus dem Radio klingen | 4,07 | 11 | - |
03 | Marianne Rosenberg | Nein, weinen werd ich nicht | 5,03 | 07 | - |
04 | Tony | Mädchen wie Helena | 4,51 | 09 | - |
05 | Andy Norden | Susann | 3,81 | 14 | - |
06 | Albatros | Komm und bleib die Nacht bei mir | 4,16 | 10 | - |
07 | Helena Vondráčková | Männer wie Du | 3,98 | 12 | - |
08 | Peter, Sue & Marc | Charlie Chaplin | 5,31 | 03 | - |
09 | Brunhilde Lamberty | Kennst Du die Zeit? | 3,70 | 15 | - |
10 | Freya & Bernd Wippich | Ich trag Deinen Namen | 3,91 | 13 | - |
11 | Sunrise | Liverpool | 5,34 | 02 | - |
12 | Johnny Hill | Lousiana | 4,90 | 08 | - |
13 | Ireen Sheer | Feuer | 5,56 | 01 | 39 |
14 | Cindy & Bert | Chanson d’Été | 5,30 | 04 | - |
15 | Royal Brewery | Ein Lied für Europa | 5,04 | 06 | - |
Letzte Aktualisierung: 06.11.2022
1–2‑3–4- Fire! Keine Frage, einer der besten deutschen Beiträge überhaupt. Eingängig, flott und erstaunlich unspießig (verglichen mit dem, was später noch an deutschen Beiträgen folgen sollte). Leider verhunzte am Finalabend das schlichtweg desaströse Pariser Orchester diese Top-Nummer mit einem völlig inakzeptablen Arrangement zu einem einzigen Ententanz. Schade – denn Ireen sang hingebungsvoll und der Kapuzenwurf hat ja mittlerweile Geschichte geschrieben. Kleine Anekdote am Schluss: lange, lange Zeit habe ich zu Beginn der ersten Strophe immer verstanden: ‘Ich lass’ mir nie meine Mähne dressiern / hab ich geschworen’. Oweh!
Hat jemand das Lied von ‘Royal Brewery’? Hallo, bitte melden, wenn jemand das Lied ‘Ein Lied für Europa’ von Royal Brwery hat. Danke, Gruß, whonose
Ich habe damals den Fernsehton der deutschen Vorentscheidung in Stereo auf Tonband aufgenommen, auch die Royal Brewery. Inzwischen habe ich’s in mp3 umgewandelt.
Gruß Klaus.Kuckuck@gmx.de