In diesem Jahr erbte der Bayerische Rundfunk den bei der ARD seinerzeit eher unbeliebten Grand Prix. Wie es dazu kam? Nun, im Vorjahr hatte Israel den Wettbewerb gewonnen, und für die Berichterstattung über das Nahostland liegt die Zuständigkeit innerhalb der Arbeitsgemeinschaft deutscher Rundfunkanstalten in München. Also bekam der BR auch den Contest zugeschoben. Logisch, oder? Die Bayern, das muss man ihnen zugute halten, stellten sich der Aufgabe mit Bravour: sie produzierten eine glamouröse TV-Vorentscheidung mit zwölf Teilnehmer:innen, größtenteils die A‑Liste des deutschen Schlagers. Außerdem erkannten sie schon fast zwanzig Jahre vor der EBU, dass die Zeit der organisierten Bevormundung durch Jurys abgelaufen war, und beauftragten das Meinungsforschungsinstitut Infratest, in einer telefonischen Umfrage unter 540 vorher ausgewählten Haushalten den Publikumsliebling zu ermitteln. Wobei diese keinen repräsentativen Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung bildeten: man habe betrachtet, wer überhaupt solche Sendungen schaue und dann Menschen mit entsprechenden geschmacklichen Präferenzen ausgesucht.
Prince hat angerufen und will seine Rüschenbluse zurück: Roberto Blanco verweigert die Arbeit.
Punks dürften sich also nicht unter den Befragten befunden haben. Um so erstaunlicher für das als fleißig geltende Deutschland, dass gleich zwei das süße Nichtstun verherrlichende Beiträge gut abschnitten. Nämlich zum einen, auf Platz 4, Roberto Blancos Blaumacherschlager ‘Samba si! Arbeit no!’, im welchem der Sprössling kubanischer Eltern eine Horde Feldarbeiter bestärkte, lieber jede Nacht zu feiern, als ihre Arbeitskraft für ihren Ausbeuter zu schonen. So ändern sich die Zeiten: wagte es in unserer heutigen Hartz-IV-Gesellschaft jemand, einen solcherart leistungsverweigernden Aufruf zu singen, er würde ohne viel Federlesens von einem wütenden, von der Bild aufgewiegelten Lynchmob am Blitzableiter des örtlichen Jobcenters aufgeknüpft! Und tatsächlich musste sich der im Saal in erster Reihe sitzende bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß nach Blancos Partykracher erst einmal den Wutschweiß von der Stirne tupfen. Gar auf den zweiten Rang schaffte es die entspannte Langschläferhymne ‘Take it easy, altes Haus’ der Countryformation Truck Stop. Die Cowboys von der Waterkant lieferten hier mit Textzeilen wie “Fang Deinen Tag doch später an, dann bleibst Du länger dran” mein Lebensmotto ab. Das Lob des Liegenbleibens reichte noch für untere Chartränge: Platz 38 in der Verkaufshitparade.
Es gibt nichts Schlimmeres, als morgens aufzustehn: Jungs, ihr versteht mich! (Und übrigens, der Vollbärtige am Hackbrett: woof!)
Die beiden Schlager-Heroinnen Ingrid Peters und Paola del Medico berichteten dazwischen, unterlegt von sensationellen Disco-Soundeffekten, von ihren aktuellen Affären mit einem verheirateten Mann (gar dem selben?). Dabei nahm man der schönen, wenn auch bereits beängstigend schlanken Saarländerin die laszive Verführerin eher ab als der stets etwas frigide wirkenden Schweizerin, was Ingrid jedoch zum Nachteil geriet. Denn das anscheinend überwiegend aus eifersüchtigen Ehefrauen bestehende Infratest-Publikum fand nur bedingt Gefallen an den Oden auf die Untreue: Rang 3 für die es bei einem einmaligen One-Night-Stand belassende Paola (‘Vögler der Nacht’; ihr guter hausfraulicher Rat: “Denn mit Gefühlen / sollte man niemals spülen”). Während Frau Peters, die sich als Nebenbuhlerin ihren Stecher mit seiner Gemahlin bis auf Weiteres zu teilen beabsichtigte, für ihren mit topaktuellen Syndrums aufgepeppten Countryschlager ‘Du bist nicht frei’ mit dem sechsten Platz abgestraft wurde. Beide Seitensprung-Dramen stammten übrigens aus der Feder des diesbezüglich notorischen Komponisten Jean Frankfurter, der bereits im Vorjahr Ireen Sheer mit dem ‘Feuer’ hatte spielen lassen.
Jesus, um diese Hüfte kann ich ja mit einer Hand fassen! Ingrid Peters ist nicht frei, frei, frei.
Ralph Siegel überflügelte jedoch alle mit seiner Retortenformation Dschinghis Khan, die er eigens für diesen Wettbewerb und passend zu seinem gleichnamigen, von Boney M.s ‘Rasputin’ inspirierten Imperatorenstampfer zusammengestellt hatte. Waren es die bunten Glitzerkostüme vom Ausverkauf im Theaterfundus (Vorbild hier: die Village People); der schimmernde Lipgloss der beiden “ausgeuferten Sekretärinnen” Edina Pop und Henriette Heichel; die glücklich machende, weil simple Choreografie oder der noch im Vollsuff mitsingbare, klischeehafte Echte-Kerle-Phantasien befördernde Text mit vielen “Hu-Ha“s und der rundweg genialen, lautmalerischen Eröffnungszeile “Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind”, der für den ersten echten Siegel-Sieg sorgte? Egal: diesmal ging es voll und ganz in Ordnung. Ich liebte diese Nummer damals heiß und innig (und mag sie noch heute), tanzte vor dem Fernseher entfesselt mit und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass wir damit den Grand Prix gewönnen. ‘Dschinghis Khan’ war meine Einstiegsdroge in den Eurovision Song Contest. Das sahen wohl auch andere so: die Single schoss an die Spitze der deutschen Charts und konnte sich unter anderem auch in Österreich (#8), der Schweiz (#3) und Norwegen (#3) positionieren.
Sie zeugten sieben Blinde in einer Nacht: die grellen Kostüme von Dschinghis Khan.
Dass die fünf Sänger:innen von Dschinghis Khan (neben den beiden Damen noch der 2006 an Lungenkrebs verstorbene Raucher Steve Bender, der gebürtige Sachse Wolfgang Heichel, der nach der Scheidung von Henriette 1986 zu Siegels nächstem Einwegprojekt That’s Life überlief, sowie der stolze Schnauzbartträger Leslie Mandoki, der zahlreiche Wahlwerbesongs für die CDU schrieb) trotz enthusiastisch getanzter Choreografie nicht hörbar außer Atem kamen, wie später bei ihrem Auftritt in Jerusalem, hatte einen simplen Grund: das vom BR engagierte Tanzorchester Heinz Kiessling tat sich bei den Proben dermaßen schwer damit, die mit modernen Soundeffekten vollgestopften Arrangements auch nur einigermaßen annehmbar zu reproduzieren, dass man für die Sendung kurzfristig und notgedrungen aufs Vollplayback zurückgriff. Das konnte man beispielsweise bei der von Rainer Pietsch, dem Stampfer von Stockholm, gegründeten Discoformation Orlando Riva Sound verfolgen, die sich teils gar keine Mühe gab, beim Lipsynchen das Mikro vor den Mund zu halten. Besonders ohrenfällig wurde es jedoch beim hier erstmals praktizierten und tatsächlich live von der Kapelle begleiteten Schnelldurchlauf: richtig amateurhaft klingen die Trompetenarrangements da! Schade nur, dass der BR dieses Fiasko nicht zum Anlass nahm, bei der EBU auf die Abschaffung des Orchesters zu drängen: wie viele verhunzte, entstellte Lieder wären uns beim Grand Prix erspart geblieben!
Die schönste Fönwelle der Schweiz: Paola.
Neben dem Siegertitel zeichnete Ralph Siegel auch für den letztplatzierten Song verantwortlich, dargeboten von den Gebrüdern Blattschuß. Das Berliner Comedy-Quintett, zu dessen Gründungsmitgliedern der heute vor allem für seinen aus der Zeit gefallenen Altherrenhumor berüchtigte Jürgen von der Lippe und der seinen Nachnamen zu Recht tragende Hans-Werner Olm gehörten, hatte im Herbst 1978 mit dem Faschingsschlager ‘Kreuzberger Nächte’ einen langlebigen Hit, der sich ein halbes Jahr in den Single-Charts halten sollte. Mittlerweile waren sie zum Trio zusammengeschrumpft. An den hohen Kastratengesängen, Wortspielereien und schrägen Grimassen konnte man ‘Ein Blick sagt mehr als jedes Wort’ aber auch ohne dieses Vorwissen leicht als Spaßbeitrag ausmachen, und mit Spaß haben es die Deutschen ja in der Regel nicht so. Erstaunlicherweise erhielten die Gebrüder trotzdem immer noch ein Drittel so viel Stimmen wie ‘Dschinghis Khan’. Die hinteren Plätzen teilten sie sich mit zwei Holländer:innen: Jeanne De Roy (wer?) sang einen Sinnlos-Schlager aus der Feder von Hans Blum; Geertjan Lacunes alias Jerry Rix und seine (bayerische) Duettpartnerin Linda G. Thompson (geborene Übelherr) waren vorher beide teils gemeinsam, teils zu unterschiedlichen Zeitpunkten, Mitglieder in den Formationen Silver Convention, Love Generation und den Les Humphries Singers. Linda sang später bei den Hornettes. Sie wiesen uns freundlicherweise darauf hin, dass wir ‘Wochenende’ hatten.
Ob Farin Urlaub von den Ärzten sich von seinem Künstlernamen inspirieren ließ? Rolf Peter Knigge alias Tony Holiday (plus Playlist mit allen 12 Titeln in Startreihenfolge).
Bleibt noch die makabre Frage, ob sich Louis Henrik Potgieter (†1994), der tanzende Dschinghis Khan in Dschinghis Khan, und das schrankschwule One-Hit-Wonder Tony Holiday (‘Tanze Samba mit mir’, †1990), der in einer mit Straß besetzten knallroten Cowboyfransenjacke, hautengen Kunstlederhosen und weißen Stiefeletten wenig glaubwürdig – und entsprechend erfolglos – ‘Zuviel Tequila, zu viel schöne Mädchen’ besang, bei dieser Vorentscheidung näher kennen lernten und sich gegenseitig infizierten? Denn beide, traurige Chronistenpflicht, es zu vermelden, starben an den Folgen von Aids. Auch die gute Hanne Haller weilt nicht mehr unter uns: die 2005 dem Brustkrebs zum Opfer gefallene Singer-Songwriterin saß, wie bei fast allen ihren Gigs, festbetoniert hinter dem Klavier und hämmerte fröhlich in die Tasten, obwohl in dem Stück überhaupt kein Piano vorkam. Mit dem von Harold Faltermeyer (‘Axel F’) komponierten ‘Goodbye, Chérie’ gab sie bei ihrem ersten großen TV-Auftritt ein unbeabsichtigtes und verfrühtes Abschiedslied, obschon sie als Komponistin noch ein paar Mal mitmachen sollte. 2008 erfuhr Hanne ihr posthumes Outing in der Bild durch ihre angebliche zeitweilige Lebensgefährtin, die 2012 auf dem Promifriedhof Dschungelcamp gestrandete TV-Moderatorin Ramona Leiß.
“Das Zauberwort heißt Demoskopie,” so die in einem besonders dezenten Abendkleid aus der Ado®-Kollektion moderierende Caroline Reiber: der Bayerische Rundfunk ebnete 1979 dem Volkswillen den Weg beim Vorentscheid. Und läutete damit eine fünfjährige deutsche Grand-Prix-Hochphase ein.
Deutsche Vorentscheidung 1979
Ein Lied für Jerusalem. Samstag, 17. März 1979, aus der Rudi-Sedlmayer-Halle in München. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Caroline Reiber und Thomas Gottschalk. Demoskopische Umfrage.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|
01 | Tony Holiday | Zuviel Tequila, zuviel schöne Mädchen | 2.807 | 09 | - |
02 | Hanne Haller | Goodbye, Chérie | 3.009 | 07 | - |
03 | Gebrüder Blattschuss | Ein Blick sagt mehr als jedes Wort | 1.673 | 12 | - |
04 | Ingrid Peters | Du bist nicht frei | 2.894 | 08 | - |
05 | Jerry Rix + Linda Thompson | Wochenende | 1.920 | 11 | - |
06 | Truck Stop | Take it easy, altes Haus | 4.394 | 02 | 38 |
07 | Jeanne de Roy | Was wir aus Liebe tun | 2.117 | 10 | - |
08 | Bernhard Brink | Madeleine | 3.326 | 06 | - |
09 | Dschinghis Khan | Dschinghis Khan | 4.807 | 01 | 01 |
10 | Paola | Vogel der Nacht | 4.127 | 03 | - |
11 | Roberto Blanco | Samba si! Arbeit no! | 3.461 | 04 | - |
12 | Orlando Riva Sound | Lady Lady Lady | 3.336 | 05 | - |
Letzte Aktualisierung: 18.10.2021
Fehler im Text Der Vorjahresbeitrag von Ireen Sheer wurde von Jean Frankfurter geschrieben. In diesem Jahr sang nicht Ingrid Peters einen Titel des Komponisten, sondern die (immer etwas frigide wirkende) Paola! Sie landete auf dem dritten Platz und die laszive Verführerin, also die Peters, hatt keinen irgend gearteten Nachteil! 😀
Korrektur sorry !!!! beide Damen sangen einen Titel von Jean Frankfurter … Asche auf mein Haupt
“‘Dschinghis Khan’ war meine Einstiegsdroge in den Eurovision Song Contest.”
Jawoll, das ging mir damals im zarten Alter von acht Jahren genauso 😉