Seit dem Vorjahr zeichnete für den Grand Prix innerhalb der ARD nun der Bayerische Rundfunk (BR) verantwortlich, und das sollte für ein Dutzend Vorentscheide so bleiben: eine für Deutschland bei diesem Wettbewerb durchaus prägende Zeit. Aus der Rudi-Sedlmeyr-Halle im Münchener Olympiazentrum, die in nicht all zu ferner Zukunft noch mal eine Rolle spielen sollte, war man ins Fernsehstudio nach Unterföhrung umgezogen. Dort ließ der die Show vor allem als Wirtschaftsförderungsmaßnahme für die ortsansässige Schlagerindustrie begreifende süddeutsche Sender bei der Leuchtdekoration keine Gelegenheit zur Eigenreklame aus. Die Senderegie lag in den Händen eines einstigen Vorentscheidungsteilnehmers, nämlich von Rainer Bertram, der sich ab Ende der Fünfziger als Schlagersänger versuchte, jedoch nur 1963 mit ‘Gib mein Herz mir wieder’ einen kleineren Hit landen konnte. Womöglich lag es an diesem Background, dass sich die Siegerin dieses Vorentscheids in ihrer Ansprache namentlich bei ihm für die “gute Organisation” bedankte. Wie schon bei der Première im Vorjahr fuhr der BR die selben Gastgeber:innen auf: für die Jüngeren den schlagfertigen Thomas Gottschalk; für die Kukident-Generation Caroline Reiber, die in einem ebenso teuer wie spießig ausschauenden Glockenkleid-Alptraum auftrat. Sie moderierte so bemüht spritzig wie emotional unglaubwürdig.
Ein Alptraum in Apricot: Caroline Reiber moderierte den deutschen Vorentscheid 1980.
Den unterirdischen Auftakt machte der knautschgesichtige Eberhard Jupe, der unter dem unterirdischen, kunstfaserinspirierten Künstlernamen Mel Jersey (Peter Dralon™ war wohl schon belegt?) gerade mit einer deutschen Coverversion des Nummer-Eins-Hits ‘It’s a real good Feeling’ von Peter Kent (als Teil der Love Generation ebenfalls ein ehemaliger Vorentscheidungsteilnehmer) auf sich aufmerksam gemacht hatte. Nennenswerte Erfolge sollte er jedoch erst ab den Neunzigern zusammen mit seiner Ehefrau als “Heimatduo” Judith & Mel erzielen. Dann betrat mit dem als gebürtigen Hellenen “für alles Griechische zuständig” (C. Reiber) zu sein habenden Costa Cordalis der erste Top-Favorit die Bühne. Folgerichtig wurde kein einziges Klischee ausgelassen: man stellte ihm sowohl einen (äußerst anmutigen) Panflötenspieler als auch einen Bouzoukizupfer zur Seite. Dazu musste Costa noch ein paar Tanzschrittchen machen, die wohl an Sirtaki erinnern sollten. Fehlte eigentlich nur noch jemand, der Fetawürfel ins Publikum wirft! Sein von Ralph Siegel komponierter, mit dramatischen Tempiwechseln arbeitender Schlager über den Regengott ‘Pan’ erwies sich aber als ausgesprochen flott und packend. Auch wenn das Befolgen anregender Textzeilen wie “Ich bin nur ein Hirte und hab gegen Durst den Wein” bei Retsina-Ungeübten leicht für höllische Kopfschmerzen sorgen könnte.
Dass Costa beim Tanzen nicht übers Kabel stolperte: Respekt! (Plus Playlist mit sieben der 12 Vorentscheidungsbeiträge in Startreihenfolge.)
Vier weitere altbekannte Schlagerstars (und ein neuer) folgten: zunächst eine unfassbar schlecht frisierte und gelaunte Marianne Rosenberg, die ihre unfassbar dröge Ballade ‘Ich werd da sein, wenn es Sturm gibt’ komplett in den Sand setzte und insgesamt überhaupt keine Lust zu haben schien – der Sturm folgte garantiert anschließend hinter der Bühne! Sodann ein erstaunlich hellblonder Roland Kaiser, dessen das typische Stammtischgebaren der Deutschen augenzwinkernd auf die Schippe nehmender Titel ‘Hier kriegt jeder sein Fett’ für seine Verhältnisse beinahe schon sozialkritisch klang und sich so gar nicht in sein sonstiges Œuvre mit den Themenschwerpunkten Fremdgehen, Komasaufen und Sex mit Minderjährigen einfügte. Weswegen die Nummer auch gnadenlos floppte. Dafür sollte der Schlager-Kaiser mit seiner nächsten Veröffentlichung ‘Santa Maria’, die sich wieder der Defloration einer unschuldiger Teenagerin widmete (“Nachts an deinen schneeweißen Stränden / Hielt ich ihre Jugend in den Händen”), seinen größten Hit landen. ‘Das erste Mal tat’s noch weh’ sekundierte Stefan Waggershausen kenntnisreich zu diesem Thema, allerdings erst 1990. Hier buhlte der gerade erst am Anfang seiner Liedermacherkarriere stehende, aufgestrubbelte Singe-Softie ergebenst um die Zuschauerinnenstimme: ‘Verzeihn Sie, Madame’, erflehte er Vergebung für sein selbst komponiertes Liedchen. Umsonst: für solch ein Gesäusel ist keine Gnade zu erwarten.
Aber bitte mit Mett: lyrisch fast schon Udo-Jürgens-kompatibel, erinnert der Sound doch eher an Gottlieb Wendehals. Von der stets präsenten, latenten Lurchigkeit des Kaisers mal ganz abgesehen.
Die eurovisionserfahrene Katja Ebstein, einstmals vom Nimbus der linksalternativen Chansonette umflort, sorgte seinerzeit für ein ziemliches Medienecho, weil sie sich als erste Prominente öffentlich zu einem Facelifting bekannte. Das stellte damals noch keine kosmetische Selbstverständlichkeit dar, sondern ein gesellschaftlich stark umstrittenes Novum. Nach einer mehrjährigen kommerziellen Durststrecke war sie gerade erst bei Ralph Siegel untergeschlüpft, der ihr mit dem Album ‘Glashaus’ und den beiden Emanzipationshits ‘Was hat sie, das ich nicht habe’ und ‘Dann heirat’ doch dein Büro’ ein grandioses Comeback bescherte. Nach seinem Vorjahreserfolg mit grell kostümierten Pseudo-Mongolen konnte Katjas Puppet-Master auch hier vom Show-Overkill nicht lassen und stellte ihr ein paar als Pantomimen (die Pest der Fußgängerzonen) geschminkte Backgroundsänger hintendran, die eine musicalhaft übertriebene Schmierenkomödie abzogen. Der Komponist selbst begleitete seine Contesthoffnung dazu am Klavier. Der BR warf die Lightshow an (was er verdächtigerweise für keinen anderen Beitrag des Abends tat) und das melodisch sehr deutlich von Bill Ramseys ‘Pigalle’ abgekupferte Lied fräste sich augenblicklich durch alle Gehörgänge. Zwar beschwor die gute Katja hier textlich eher eine verklärende Zirkusromantik (“Und der Clown, der muss lachen”), als tatsächlich das Hohelied auf das aufklärerische, bildungsbürgerliche ‘Theater’ anzustimmen. Doch vermutlich siegte sie genau deswegen.
Zur Tingeltangelhaftigkeit von ‘Theater’ trugen auch die beiden entsetzlich kitschigen Harlekinpüppchen bei, die Siegel sich auf die Handschuhe applizieren ließ und zum Liedauftakt in die Kameras hielt.
Schließlich folgte der absolute Trash-Höhepunkte der deutschen Grand-Prix-Vorentscheidungsgeschichte. Das blonde Kultduo Adam & Eve (‘Wenn die Sonne erwacht in den Bergen’), dessen letzter, anzüglich-alberner Hit ‘Lena (steig in den Sattel)’, der die Vermutung nahelegte, dass ihrem damaligen Texter Eckhard Hachfeld tatsächlich ein paar Gäule durchgegangen waren, nun auch schon fünf Jahre zurück lag, gab hier nun mit dem selbstreferentiellen ‘Hallo Adam, hallo Eva’ einen vollkommen absurden Rumms-Bumms-Schlager über die Vertreibung ihrer Namensvettern aus dem Garten Eden zum Besten. Und das in hautengen, senffarbenen Eislaufkostümen, stilecht mit fenjalablauen Glitzerapplikationen bestickt! Adam steckte zudem, dem Trend der Zeit entsprechend, in hellbraunen, ebenfalls straßbesetzten Cowboystiefeln, die er – natürlich! – über der Hose trug. Die 1989 dem Krebs zum Opfer gefallene, gebürtige Tschechin Eve Bartova, die blondeste Sängerin seit der Erfindung des Wasserstoffperoxids, überreichte ihrem Gemahl gegen Ende des Vortrags gar noch einen echten Apfel (ich vermute: Golden Delicious), in den er auch herzhaft hineinbiss. Man muss sie mit eigenen Augen gesehen haben, diese einzigartige Kreuzung aus Xanadu, Krippenspiel und Laientheater: zum In-die-Hose-machen!
Paradiesisch: Adam & Eve mit dem besten deutschen Comedybeitrag aller Zeiten!
Die Teilnahme des Trashduos bietet mir die passende Gelegenheit zu einem kleinen, grand-prix-abseitigen Steckenpferd-Schlager-Exkurs. Nämlich über das erschütternde Schicksal eines engelsstimmigen Knabens namens ‘Manuel’. Der aus bitterarmen Verhältnissen stammende “Junge aus Kastilien” wurde nämlich, wie die große Caterina Valente uns in ihrem aus dem Jahre 1978 stammenden gleichnamigen Hit berichtete, dank dieser Begabung in der Heimat schon als Kind “über Nacht zum Star”. Woraufhin ihn die geldgierige Verwandtschaft meistbietend nach Deutschland verkaufte. Hier musste sich der unter bitterem Heimweh leidende Jungspanier in der Schule gar von Anke Engelke und ihrer Clique mobben lassen, wie der in beiden Titeln vom deutschen Kurzzeit-Kinderstar Achim Rodewald dargestellte Mime im 1979er Nachfolgetitel ‘Das Lied von Manuel’ jaulend beklagte. Erst, als er mit seiner glockenhellen Stimme Geld für die lebensrettende Operation einer herzkranken Klassenkameradin sammelte, erfuhr er Akzeptanz. Nach dem Stimmbruch in die Bedeutungslosigkeit entlassen, wanderte er als Volljähriger nach Mexiko aus und betrieb dort die von nämlichen Adam & Eve in einem Paralleluniversums-Zeitsprung allerdings bereits 1974 besuchte ‘Manuels Taverne’. Eine sehr wundersame Kaschemme übrigens, in der einem der großartigsten Reime des deutschen Schlagerwesens zufolge “statt Wasser Wein aus der Zisterne” laufen soll!
Gleich drei absolut erlesene Trashschlagerperlen (Repertoirebeispiele, Playlist) verdanken wir nur einem einzigen Knaben namens ‘Manuel’. Muchos gracias!
Zurück nach München: Wie die notariell ausgeloste Startreihenfolge es so wollte, hatte der BR an dieser Stelle sein Pulver komplett verschossen und es folgten nur noch No-Names mit Schlagerlein von der Resterampe. Ein paar als Indianer faschingsverkleidete Lastwagenfahrer (seid ihr dafür nicht zu alt, Jungs?) mit stilechten Schnauzbärten nebst einer sich in einer stetigen Schamspirale tänzerisch drehenden Squaw, das waren Montezuma. An einen schäbigeren Versuch, das Erfolgsmodell des Vorjahres mit billigsten Mitteln zu kopieren, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Dann ein bis zum Nabel aufgeknöpfter, bierbäuchiger ‘Minnesänger, Mädchenfänger’ (im Traum, Tony!) – natürlich ebenso mit Polizisten-Rotzbremse über der Oberlippe wie die nachfolgende Verlierervisage Stefan Hallberg, bei dem wohl jeder verstand, warum seine Ehefrau seinem Flehen ‘Gib uns Zeit’ keine Folge leisten mochte. Hallberg hatte sich im Vorjahr erdreistet, den queeren Disco-Klassiker ‘I was made for Dancing’ von Leif Garrett als ‘Wer wird deutscher Meister?’ zu covern und damit in die alkoholdunstverschwitzten Niederungen der dampfheterosexuellen Stadiongesänge herabzustoßen. Ein für alle Mal, hässliches Hetenpack: könnt ihr bitte eure gierigen Griffel von unserer Musik lassen? Abschließend wollte uns das Münchener Vokalensemble Vielharmoniker, eine billige Kopie der Comedian Harmonists, ‘In die Oper’ führen, verirrte sich aber doch in ein viertklassiges Musical.
Du suchst nach Mrs. Listen? Sie steht genau vor Dir: Suzanne Klee.
Um das Leid etwas zu lindern, streute der BR freundlicherweise die Schweizer Sängerin und Katzenbild-Malerin Suzanne Klee dazwischen. Sie trug mit ‘Wenn Du nicht weißt, wohin’ einen anrührend melancholischen Countryschlager über das Leben als gutmütige Exfrau vor, die sich aus alter Verbundenheit von ihrem Exmann noch immer als seelischer Mülleimer missbrauchen lässt. Dass sie in ihrer roten, mit Goldapplikationen verzierten Bluse aussah wie vom weihnachtlichen Gabentisch übriggeblieben, machte ihre Rolle als die Frau, die man eher zum Quatschen aufsucht, um so glaubwürdiger. Wiewohl die damals 35jährige in ihrer Jugend mal eine Wilde gewesen sein will und 1967 einen One-Night-Stand mit einem der Rolling Stones hatte, wie sie 2013 dem Blick verriet. Hübsch der Schnelldurchlauf in umgekehrter Reihenfolge: wie schon im Vorjahr spielte das Orchester (diesmal kompetent unter der Leitung von Paul Kuhn) Instrumentalauszüge aus den zwölf Beiträgen, zu denen die Interpret:innen noch mal über die Bühne wanderten. Dabei kam es schnell zu Staus, und einen originellen Moment gab es, als sich Schlagerdiva Marianne Rosenberg standesgemäß Zeit für ihren großen kleinen Auftritt ließ, dann aber so schnell wieder verschwand, dass Costa Cordalis zu früh kam (also, auf die Bühne).
Ilja Richter nahm den Vorentscheid 1980 und das Wertungsdrama in seiner ‘Disco’ treffsicher aufs Korn.
Thomas Gottschalk musste im Anschluss mit stundenlangem, enervierenden Dauergequassel die Zeit bis zur Auszählung der von Infratest repräsentativ befragten fünfhundert Zuschauer:innen überbrücken. Um es ein klein wenig spannender zu gestalten, blendete die ARD Zwischenstände ein, und schnell kristallisierte sich ein Duell der besonderen Art heraus: Siegel gegen Siegel! ‘Pan’ und ‘Theater’ fochten es gegeneinander aus, und zwar Kopf an Kopf, sämtliche Konkurrent:innen abgeschlagen hinter sich lassend. Jeweils mit nur wenigen Punkten Vorsprung zueinander führten nacheinander Katja, Costa, Costa (den Caroline Reiber versehentlich bereits zum Sieger ausrief und der dann zu seiner Verbitterung wieder zurück in die Reihe musste) und schließlich, nach gestressten “Moment noch!”-Rufen der Infratest-Leiterin Frau Dr. Köhler: endgültig Katja Ebstein! Da half es Costa wenig, dass er bereits alle holländischen Flachlegervokabeln (“Ik hou van jou” etc.) gelernt hatte. Statt seiner sackte die gute Katja ihre dritte Grand-Prix-Teilnahme für Deutschland ein; einen Rekord, den sie nur mit der Gruppe Wind teilt. Siegel konnte es gleich sein, er bekam auf jeden Fall das Ticket nach Den Haag. Und zwei veritable Hits dazu: ‘Theater’ chartete lustigerweise auf der #11, ‘Pan’ auf der #22.
Von ihrer Plattenfirma als B‑Seite ihrer Hitsingle ‘Abschied ist ein bisschen wie sterben’ weggeworfen, entwickelte sich Katjas scharfzüngiger Nebenbuhlerinnen-Diss aus dem gleichen Jahr zum emanzipatorischen Evergreen für die betrogene Ehefrau (Repertoirebeispiel).
Deutsche Vorentscheidung 1980
Ein Lied für Den Haag. Samstag, 20. März 1980, aus dem Studio 4 des Bayerischen Rundfunks in München-Unterföhring. 12 Teilnehmer:innen, Moderation: Caroline Reiber und Thomas Gottschalk. Demoskopische Umfrage.# | Interpret | Titel | Punkte | Platz | Charts |
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01 | Mel Jersey | Du bist nicht mehr frei | 3310 | 06 | - |
02 | Costa Cordalis | Pan | 4644 | 02 | 22 |
03 | Marianne Rosenberg | Ich werd da sein, wenn es Sturm gibt | 2169 | 12 | - |
04 | Roland Kaiser | Hier kriegt jeder sein Fett | 2823 | 08 | - |
05 | Stefan Waggershausen | Verzeihn Sie, Madame | 3625 | 04 | - |
06 | Katja Ebstein | Theater | 4828 | 01 | 11 |
07 | Adam & Eve | Hallo Adam, hallo Eva | 2847 | 07 | - |
08 | Montezuma | Montezuma Castle | 3586 | 05 | - |
09 | Tony & David | Minnesänger, Mädchenfänger | 2784 | 09 | - |
10 | Stefan Hallberg | Gib uns Zeit | 2266 | 11 | - |
11 | Suzanne Klee | Wenn Du nicht weißt, wohin | 3968 | 03 | - |
12 | Viel-Harmoniker | In der Oper | 2462 | 10 | - |
Letzte Aktualisierung: 21.04.2023
Bitte noch fix einfügen:
https://www.youtube.com/watch?v=VhI0Hg86At0
😉
Danke für den Hinweis, Frederik – ist eingefügt. Da hätte ich mir den ganzen Artikel ja sparen können – Ilja erklärt’s in zwei Minuten! 🙂