
Bereits ins vierte Jahr ging nun die Regentschaft des Bayerischen Rundfunks beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid, und so langsam machte sich eine immergleiche, fade Routine breit. Ob es den Auswahl- und Abstimmungsmodus betraf, die Teilnehmerzahl, das Bühnenbild: alles exakt wie schon in den Jahren zuvor. Erneut führte die damenhafte Carolin Reiber mit aufgesetztem Pathos durch den Abend, und auch wenn sie mit stolzgeschwellter Brust erzählte, dass die Auwahljury diesmal über 800 Titel zu sichten hatte, befand sich das vom BR letztlich präsentierte Musikprogramm doch fest im Würgegriff weniger altgedienter Schlagerschaffender. Denn die Handvoll zur Vorauswahl eingereichten Neue-Deutsche-Welle-Songs flogen in den Radiovorrunden auf den ARD-Schlagerwellen aufgrund konsequent raus. Und, auch das mittlerweile schon Gewohnheit: erneut belegte der Münchener Grand-Prix-Großkomponist Ralph Siegel die beiden ersten Plätze.
Auch 1982 rüschte sich Caroline Reiber für den festlichen Abend auf.
Einzige Abweichung zu den Vorjahren: vom Team Siegel & Meinunger stammten diesmal gar drei der zwölf in die TV-Endrunde durchgekommenen Vorschläge, sprich: ein Viertel. Einer davon: die unsagbar depressiv stimmenden ‘Blue-Jeans-Kinder’, die Hymne zur Midlifecrisis einer desillusionierten Generation von Durchschnittsspießern, die in ihrer Jugend gedanklich zwar mal kurz mit den Ideen der Achtundsechziger sympathisierten, dann aber doch den anstrengenden Kampf gegen das Establishment scheuten und sich stattdessen für Karriere, Bausparvertrag und das Reihenhaus in der Vorstadt entschieden, wie halt alle anderen auch. Und die nun entsprechend hart an ihrer Lebenslüge zu kauen hatten. Die vom Schlagergeschäft schon lange desillusionierte Marianne Rosenberg, die hier erkennbar ohne innere Beteiligung nur noch langfristige Knebelverträge abarbeitete, krähte die tranige, musikalisch auf der schottischen Nationalhymne ‘Auld Lang Syne’ basierende Nummer auf den achten Platz. Künstlerisch war sie damals schon längst zu neuen Ufern unterwegs: noch im gleichen Jahr nahm die Gay-Ikone gemeinsam mit den NDW-Helden Extrabreit das für mein Empfinden beste Lied ihrer Karriere auf, nämlich den fantastischen Wave-SM-Kracher ‘Duo Infernal’. Der floppte aufgrund des mehrheitlich wohl als abrupt empfundenen Stilwechsels zwar betrüblicherweise, doch schon Ende der Achtziger feierte sie ein fulminantes Comeback als gereifte Schlagerdiva, die auch heute noch im Geschäft mitmischt.
“Natürlich kannst Du mich schlagen, wenn Du Lust dazu hast”: Kai & Marianne.
Ihrem einstigen Hitparaden‑Kollegen und mehrfachen ESC-Mitbewerber Jürgen Marcus blieb der Ausweg aus der Mitklatschschlagerhölle hingegen trotz verzweifelter Versuche tragischerweise versperrt. Nach der für ihn kostspieligen Trennung von seinem Stammkomponisten Jack White versuchte sich der ehemalige Musicaldarsteller seit geraumer Zeit am Spagat zwischen Schlager und Chanson, wurde dafür aber von seinem früheren Stammpublikum mit eiskaltem Liebes- und Umsatz-Entzug bestraft. Das galt auch für den im Deutschen Theater vorgetragenen, hoffnungslosen Valiumschlager aus dem Hause Fuchsberger. Jack White wiederum versorgte bei dieser Veranstaltung die einstige Eurovisionssiegerin von 1971, Séverine, mit einem schwunglosen Durchhalteschlager. Titel: ‘Ich glaub an meine Träume’. Da blieb sie allerdings die Einzige. Ob es an regionaler Missgunst lag, dass der Bayerische Rundfunk dem in Hamburg beheimateten früheren Renterband-Comedyrocker Werner Böhm, mittlerweile dank seines massiven Nummer-Eins-Hits ‘Polonäse Blankenese’ bundesweit einschlägig bekannt als Stimmungssänger Gottlieb Wendehals, den unglücklichen Eröffnungsstartplatz zuwies? Seine nicht minder karnevaleske Nummer ‘Der Ohrwurm’ jedenfalls strafte den Titel Lügen und war als Opener derartig unangebracht, dass die verzweifelten Versuche Böhms, das augenscheinlich eher auf festliche Schlagerballaden denn auf Niveau-Limbo eingestimmte Münchener Studiopublikum durch direkte Ansprache zum fröhlichen Mitmachen zu animieren, zwangsläufig auf frostige Ablehnung stoßen mussten.
Perlen vor die Säue: Mary und das Shetlandschaf.
Auch vor den Bildschirmen waren die TV-Zuschauer:innen um diese Uhrzeit wohl noch nicht besoffen genug zum Mitschunkeln: die Single schaffte es im Anschluss gerade mal auf Rang 70 der heimischen Verkaufscharts. Dass der 2020 verstorbene, Zeit seines Lebens dem exzessiven Alkoholgenuss zuneigende Böhm indes auch ganz anders konnte, stellte er mit einem von ihm geschriebenen Beitrag für seine damalige Ehefrau Mary Roos unter Beweis: dem gemeinsam mit dem gefühlt drei Oktaven höher als sie singenden Gesichtspullover David Hanselmann im Duett vorgetragenen, erstaunlich unflachen Beziehungsschlager ‘Lady’. Das musikalische wie textliche (“Liebe heißt doch nicht, sich aufzugeben / Jeder braucht die Freiheit auch für sich”) Kleinod deutschen Musikschaffens wurde sträflich unterbewertet und erreichte leider nur mittlere Ränge, sowohl in den Charts (#31) als auch beim Vorentscheid (Rang 6). Deutlich flotter und ein wenig besser platziert hingegen der erfrischend unsentimentale Trennungs-Discoschlager ‘Nun sag schon Adieu’ des Frisurenverbrechers Hannes Schöner, der es trotz eines brutalstmöglich abgewürgten Songfinales (die Drei-Minuten-Regel!) immerhin aufs Bronzetreppchen schaffte. Heute ist Hannes bei der Kölner Karnevalskapelle De Höhner beheimatet, und damit ist jetzt aber auch genug Fasching!
Gotta go, three Minutes, bye bye: Hannes Schöner.
Um die Krone jedoch rangen, wie schon erwähnt und wie mittlerweile Standard bei Ein Lied für…, Siegel und Siegel. Den Kürzeren (auch in den Charts: Rang #47) zog dabei die Schweizerin Paola del Medico, obwohl sie für ihr schrecklich nerviges Kinderlied natürlich auch etliche rumblökende Blagen mit auf die Bühne holte, was in Deutschland eigentlich immer für Stimmen gut ist. Doch ihr Schicksal war vorbestimmt, besang sie doch die mythische Figur des ‘Peter Pan’. Und nun erinnern wir uns kurz, wer im Siegel-Duell 1981 mit der Silbermedaille vorlieb nehmen musste. Na? Richtig: Costa Cordalis mit, Achtung: ‘Pan’. Fällt ihnen da beim Titel eine Gemeinsamkeit auf? Doch auch ganz ohne absurde Verschwörungstheorien war an der vom BR hilfreich auf den letzten Startplatz gesetzten Nicole Hohloch aus dem Saarland schlichtweg kein Vorbeikommen. Im Vorjahr mit ihrer Debütsingle ‘Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund’ noch in der Jury-Vorrunde rausgeflogen (diesmal schaffte sie es auf dem 24. Platz gerade so in die Radio-Auswahl), zog ihr neuer Mentor Ralph Siegel musikalisch wie inszenatorisch alle Register: im trotz Glitzersteinbestückung unglaublich braven Kommunionskleid, mit umgeschnallter weißer Wanderklampfe und seidig gebürstetem Haar, wirkte die Siebzehnjährige wie die Personifizierung von Unschuld, Reinheit und weltverbessernder Naivität, was ihre harfenumschmeichelte Friedensbotschaft aufs Trefflichste unterstützte.
Caroline Reiber hat schon bei der Anmoderation einen Pflaumensturz, Nicole erst hinterher.
Man muss sich heutzutage mental erst wieder in diese Epoche zurückversetzen: im Frühjahr 1982 brach die diabolische, damalige britische Regierungschefin Margaret Thatcher einen bewaffneten Krieg mit 900 Toten (!) um ein paar hauptsächlich von Schafen bewohnte Felsen vor der Küste Argentiniens vom Zaun, um den zu Hause den innenpolitischen Widerstand gegen den von den Tories betriebenen Ausverkauf ihres Landes zu brechen. Und das inmitten des Kalten Kriegs, auf dem Höhepunkt des irrsinnigen Wettrüstens der damaligen Supermächte USA und UdSSR und ihrer jeweiligen Verbündeten! Die Systemgrenze der beiden verfeindeten Blöcke verlief mitten durch das seinerzeit noch zweigeteilte Deutschland, wir waren auf beiden Seiten mit Atomraketen bis unter die Halskrause zugepflastert. Die allgegenwärtige, ganz real empfundene Angst vor dem unmittelbaren, infernalischen Ende der Menschheit war mit Händen zu greifen. Auch ich, damals fünfzehnjährig, fragte mich abends beim Einschlafen des Öfteren, ob ich den nächsten Morgen noch erleben dürfte oder ich zwischenzeitlich als Ziel eines Sprengkopfes, von welcher Seite auch immer, herhalten müsste. Textzeilen wie “Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht” trafen da den blankliegenden Nerv der Zeit. Kein Wunder, dass Nicole kam, sang und siegte.
Auch im Osten fürchteten die Menschen den Overkill: die DDR-Gruppe Karat, ‘Der blaue Planet’, aus demselben Jahr – ein Top-Hit auch im Westen und inhaltlich der deutlich tiefgründigere Friedensschlager. Aber Nicole hatte die schöneren Engelslocken.
Zumal der Texter Bernd Meinunger sich ansonsten mit wolkig-harmlosen, nicht weiter verschreckenden Gemeinplätzen begnügte und bewusst eben nur “ein bisschen” Frieden forderte. Diese inhaltliche Unsinnigkeit (genau wie bei einer Schwangerschaft kann es Frieden nur ganz oder gar nicht geben) ist keine schlagertypische Petitesse, sondern inhaltlich klares Kalkül. “Ein bisschen” heißt in den Fall, dass es schon völlig ausreicht, wenn sich hier im reichen (West-)Europa nichts ändert und auf uns keinen Bomben fallen. Kriege in Nahost, in Afrika, vor der Küste Südamerikas? Nur gerne weiter, da hängen schließlich deutsche Arbeitsplätze dran! Einer, der diese Mentalität in einem weiteren Friedensschlager dieser Tage angriff, war der Norddeutsche Hans Hartz: sein inhaltlich deutlich düsteres und mit Reibestimme intoniertes ‘Die weißen Tauben sind müde’ schaffte es bis auf Rang 11 in den Single-Charts, allerdings nicht zum deutschen Eurovisionsvorentscheid, obwohl Hartz den Song auch beim BR eingereicht hatte. Das Auswahlgremium des CSU-nahen Senders verhinderte allerdings die linke Konkurrenz für Nicole. Auch andernorts stieß der im Jahre 2002 an Lungenkrebs verstorbene Hartz auf konservative Gegenwehr: bei seinem einzigen Auftritt in der ZDF-Hitparade des bekennenden CDU-Wahlhelfers Dieter Thomas Heck klemmte nur bei ihm der Telefon-TED, so dass er mit 0% ausschied. So ein Zufall aber auch!
Mein ehemaliger Nachbar: Hans Hartz lebte zuletzt in Frankfurt am Main, im selben Haus wie ich.
Deutsche Vorentscheidung 1982
Ein Lied für Harrogate. Samstag, 20. März 1982, aus dem Studio 4 des Bayerischen Rundfunks in München-Unterföhring. 12 Teilnehmer. Moderation: Carolin Reiber.# | Interpret | Titel | Punkte | Platz | Charts |
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01 | Gottlieb Wendehals | Der Ohrwurm | 2029 | 11 | - |
02 | Séverine | Ich glaub an meine Träume | 2717 | 10 | - |
03 | Jennifer Kamp | Wie Phönix aus der Asche | 1965 | 12 | - |
04 | Mel Jersey | Schenk mir eine Nacht | 3227 | 07 | - |
05 | Gaby Baginsky | So wie Du bist | 2802 | 09 | - |
06 | Marianne Rosenberg | Blue-Jeans-Kinder | 2862 | 08 | - |
07 | Mary Roos + David Hanselmann | Lady | 3358 | 06 | 31 |
08 | Paola | Peter Pan | 4318 | 02 | 47 |
09 | Denise | Die Nacht der Lüge | 3799 | 04 | - |
10 | Hannes Schöner | Nun sag schon Adieu | 3914 | 03 | 27 |
11 | Jürgen Marcus | Ich würde gerne bei Dir sein | 3439 | 05 | - |
12 | Nicole | Ein bisschen Frieden | 5116 | 01 | 01 |
Stand: 03.02.2021
Angst Damals war ich 13 und wußte auch nicht, wie lange ich noch zu leben habe, es konnte ja ganz schnell vorbei sein. Daher hat mich diese Schnulze aus dem bösen Westen richtig umgehauen. Den anschließenden ESC-Sieg habe ich dann total genossen, auch wenn ich kein BRD-Bürger war.
Das Teilnehmerfeld war wirklich Grütze. Eine Schande, dass dieser Song schon in der VE-Runde rausgeflogen ist: https://www.youtube.com/watch?v=536h7zrX3_8
Ralph Siegel schreibt übrigens in seiner Biographie, dass Nicole ursprünglich auch “Nur ein Lied” von Pietsch und Jung gesungen hat, sich dann aber für “Ein bisschen Frieden” entschied.
Frage: Ist es richtig, dass sich 1982 auch der Song “Die weißenTauben sind müde” von Hans Hartz in der Vorauswahl befand?
Laut eurovision.de befand sich der Song von Hartz unter den für den Vorentscheid eingereichten Vorschlägen, wurde aber von der Jury ausgesiebt und noch nicht mal zur Radio-Vorrunde zugelassen. Danke für die Frage, ich arbeite das beim nächsten Update mit ein.