Bereits ins vierte Jahr ging nun die Regentschaft des Bayerischen Rundfunks (BR) beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid, und so langsam machte sich eine immergleiche, fade Routine breit. Ob es den Auswahl- und Abstimmungsmodus betraf, die Anzahl der Teilnehmer:innen, das Bühnenbild: alles exakt wie schon in den Jahren zuvor. Erneut führte die damenhafte Carolin Reiber (heuer ohne Unterstützung durch Thomas Gottschalk) mit aufgesetztem Pathos durch den Abend, und auch wenn sie mit stolzgeschwellter Brust verkündete, dass die Auswahljury diesmal über 800 Titel zu sichten hatte, befand sich das vom BR letztlich präsentierte Musikprogramm doch fest im Würgegriff weniger altgedienter Schlagerschaffender. Denn die an einer Hand abzählbaren, zum Lied für Harrogate eingereichten Neue-Deutsche-Welle-Songs flogen allerspätestens in den erstmals eingeführten zwei Radiovorrunden auf den ARD-Schlagerwellen konsequent raus. Da half es noch nicht mal, wie die Münchener Band The Days in bayerischer Mundart zu singen. Doch auch Schlageretten wie Isabel Varell oder Angelika Milster schrägte es dort.
In seinem abgelehnten Agitationsschlager zum gesellschaftlichen Reizthema der antiautoritären Erziehung ließ Hans Blum augenzwinkernd durchschimmern, dass Eltern, die mal wieder Sex haben wollen, ihre Blagen halt in den Schlaf prügeln müssen (plus Playlist mit fünf der ausgeschiedenen Songs als Audio).
Und, auch das mittlerweile schon Gewohnheit: erneut belegte der Münchener Grand-Prix-Großkomponist Ralph Siegel die beiden ersten Plätze. Von ihm stammten diesmal gar drei der zwölf in die TV-Endrunde durchgekommenen Vorschläge, sprich: ein Viertel. Einer davon: die unsagbar depressiv stimmenden ‘Blue-Jeans-Kinder’, die Hymne zur Midlifecrisis einer desillusionierten Generation von Durchschnittsspießern, die in ihrer Jugend gedanklich zwar mal kurz mit den Ideen der Achtundsechziger sympathisierten, sich dann aber doch für Karriere, Bausparvertrag und das Reihenhaus in der Vorstadt entschieden. Und die nun entsprechend hart an ihrer Lebenslüge zu kauen hatten. Die vom Schlagergeschäft schon lange desillusionierte Marianne Rosenberg, die hier erkennbar ohne innere Beteiligung nur noch langfristige Knebelverträge abarbeitete, krähte die tranige, musikalisch auf der schottischen Nationalhymne ‘Auld Lang Syne’ basierende Nummer auf den achten Platz. Künstlerisch war sie damals schon längst zu neuen Ufern unterwegs: noch im gleichen Jahr nahm die Gay-Ikone gemeinsam mit den NDW-Helden Extrabreit das beste Lied ihrer Karriere auf, nämlich den fantastischen SM-Kracher ‘Duo Infernal’. Der floppte aufgrund des mehrheitlich wohl als zu abrupt empfundenen Stilwechsels zwar leider, doch feierte sie Ende der Achtziger ein fulminantes Comeback als gereifte Schlagerdiva, die auch heute noch im Geschäft mitmischt.
“Natürlich kannst Du mich schlagen, wenn Du Lust dazu hast”: Kai & Marianne (Repertoirebeispiel). Und natürlich könnt ihr, beide, jederzeit.
Ihrem einstigen Hitparaden‑Kollegen und mehrfachen Mitbewerber bei verschiedenen Vorentscheiden sowohl in Deutschland als auch in Luxemburg, Jürgen Marcus, blieb der Ausweg aus der Mitklatschschlagerhölle hingegen trotz engagiertem Vorgehens tragischerweise versperrt. Nach der für ihn immens kostspieligen Trennung von seinem Stammkomponisten Jack White (‘Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben’) – Gerüchte besagen, dass Marcus sich für eine Million D‑Mark aus dem Vertrag herauskaufte – versuchte sich der ehemalige Musicaldarsteller seit geraumer Zeit am musikalischen Spagat zwischen süffigem Schlager und anspruchsvollem Chanson, wurde dafür aber von seinem ehemaligen Stammpublikum mit eiskaltem Liebes- und Umsatz-Entzug bestraft. Das galt auch für den hier vorgetragenen, hoffnungslosen Valiumschlager aus dem Hause Fuchsberger. Und so blieb dem Anfang der Neunziger von der Bild geouteten Sänger bald nichts anderes übrig, als auf Galas wieder die alten, verhassten Gassenhauer zu schmettern. White wiederum versorgte bei dieser Veranstaltung die einstige monegassische Eurovisionssiegerin von 1971, Séverine, mit einem schwunglosen Durchhalteschlager. Titel: ‘Ich glaub an meine Träume’. Da blieb sie allerdings die Einzige.
Erwin, der Mann mit dem Gummihuhn ist wieder da: Gottlieb Wendehals war zur falschen Zeit am falschen Ort (plus Playlist mit allen Vorentscheidungstiteln in Startreihenfolge)-
Ob es an regionaler Missgunst lag, dass der Bayerische Rundfunk dem in Hamburg beheimateten früheren Renterband-Comedyrocker Werner Böhm, mittlerweile dank seines massiven Nummer-Eins-Hits ‘Polonäse Blankenese’ bundesweit einschlägig bekannt und gefürchtet als Faschingsschlagersänger Gottlieb Wendehals, den unglücklichen Eröffnungsstartplatz zuwies? Seine nicht minder karnevaleske Nummer ‘Der Ohrwurm’ jedenfalls strafte den Titel Lügen und war als Opener derartig unangebracht, dass die verzweifelten Versuche Böhms, das augenscheinlich eher auf festliche Schlagerballaden denn auf Niveau-Limbo eingestimmte Münchener Studiopublikum durch direkte Ansprache zum fröhlichen Mitmachen zu animieren, zwangsläufig auf nachgerade frostige Ablehnung stoßen mussten. Sich öffentlich von einem pomadigen Mann im karierten Jackett “von hinten an die… Schultern” fassen lassen? Nein, danke! Auch vor den Bildschirmen waren die TV-Zuschauer:innen um diese Uhrzeit wohl noch nicht besoffen genug zum Mitschunkeln: die Single schaffte es im Anschluss gerade mal auf Rang 70 der heimischen Verkaufscharts.
Perlen vor die Säue: Mary und das Shetlandschaf.
Dass der 2020 verstorbene, Zeit seines Lebens dem exzessiven Alkoholgenuss zuneigende Böhm indes auch ganz anders konnte, stellte er mit einem von ihm geschriebenen Beitrag für seine damalige Ehefrau Mary Roos unter Beweis: der gemeinsam mit dem gefühlt drei Oktaven höher als sie singenden Progrocker und Gesichtspullover David Hanselmann im Duett vorgetragenen, erstaunlich unflachen, ja geradezu erwachsenen Beziehungsballade ‘Lady’. Das musikalische wie textliche (“Liebe heißt doch nicht, sich aufzugeben”) Kleinod deutschen Musikschaffens wurde sträflich unterbewertet und erreichte leider nur mittlere Ränge, sowohl in den Charts (#31) als auch beim Vorentscheid (Platz 6). Dass Böhm die Textzeile “Jeder braucht die Freiheit auch für sich” sehr großzügig auslegte, sollte 1984 zu einer Grand-Prix-Katastrophe führen, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Deutlich weiter (und erfolgreicher) war da der Frisurenverbrecher Hannes Schöner, der es mit seinem erfrischend unsentimentalen und musikalisch ausgesprochen flotten Trennungs-Discoschlager ‘Nun sag schon Adieu’ trotz eines brutalstmöglich abgewürgten Songfinales (die Drei-Minuten-Regel!) immerhin aufs Bronzetreppchen schaffte. Heute ist Hannes bei der Kölner Karnevalskapelle De Höhner beheimatet, und damit soll es jetzt aber auch genug des Faschings sein!
Gotta go, three Minutes, bye bye: Hannes Schöner.
Nach dem Wechsel der Rosenberg zu Ralph Siegel war die als Heike Hielscher in Duisburg geborene Denise das neue Pferd im Schlagerstall des Komponisten und Produzenten Joachim Heider (‘Nur die Liebe lässt uns leben’, 1972). Geld brachte sie ihm trotz mehrfacher Vorentscheidungsteilnahmen jedoch keines ein, das verdiente er stattdessen mit creepigen Beischlafschlagern für Roland Kaiser, in denen stets die patriarchale Mär vom Mann als willenlosen Gefangenen seiner Triebe und der Frau als gefährliche Verführerin erzählt wurde (‘Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben’). Auch die mit massivem elektronischem Hall auf der Stimme arbeitende Denise musste sich in ‘Die Nacht der Lüge’ als untreue Seitenspringerin zu erkennen geben, die nun zerknirscht bei ihrem Liebsten um Vergebung ansucht. Die eher der C‑Liste des deutschen Schlagers zuzurechnende Gaby Baginsky (‘Der Rum von Barbados’) war für die erkrankte Ireen Sheer eingesprungen, hinterließ jedoch ebenso wenig Eindruck wie die sowohl vor als auch nach ihrer Vorentscheidungsteilnahme vollkommen unbekannte Jennifer Kemp, eine herbe Blondine mit erstaunlich tiefer Stimme, die nach einigen erfolglosen Versuchen mit englischsprachigen Popsongs 1980 zum Schlager gewechselt war und hier nun versuchte, ‘Wie Phönix aus der Asche’ zu steigen. Vergebens. Vielleicht fehlte ihr dazu schlicht der Bart.
Caroline Reiber rüschte sich erneut auf für die “deutsche Endausscheidung”. Der Wahlbeobachter Rrrrrudolf Rrrrrohlinger durfte indes alleine durch die Punktevergabe führen: er hätte sich ohnehin von keiner Frau dazwischen quatschen lassen.
Um die Krone jedoch rangen, wie bereits erwähnt und mittlerweile Standard bei Ein Lied für…, Siegel und Siegel. Den Kürzeren (auch in den Charts: Rang #47) zog dabei die Schweizerin Paola del Medico, obwohl sie für ihr schrecklich nerviges Kinderlied natürlich auch etliche rumblökende Blagen mit auf die Bühne holte, was in Deutschland eigentlich immer für Stimmen gut ist. Aber ihr Schicksal war vorbestimmt, besang sie doch die mythische Figur des ‘Peter Pan’. Und nun erinnern wir uns kurz, wer im Siegel-Duell 1980 mit der Silbermedaille vorlieb nehmen musste. Na? Richtig: Costa Cordalis mit, Achtung: ‘Pan’. Fällt ihnen da beim Titel eine Gemeinsamkeit auf? Aber auch ohne absurde Verschwörungstheorien gab es an der vom BR hilfreich auf den letzten Startplatz gesetzten Nicole Hohloch aus dem Saarland schlichtweg kein Vorbeikommen. Im Vorjahr mit ihrer Debütsingle ‘Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund’ noch in der Jury-Vorrunde rausgeflogen (diesmal schaffte sie es auf dem 24. Platz gerade so in die Radio-Auswahl), zog ihr neuer Mentor Ralph Siegel musikalisch wie inszenatorisch alle Register: im trotz Glitzersteinbestückung unglaublich braven, schwarzen Kommunionskleid, mit umgeschnallter weißer Wanderklampfe und seidig gebürstetem Haar, wirkte die Siebzehnjährige wie die Personifizierung von Unschuld, Reinheit und weltverbessernder Naivität, was ihre harfenumschmeichelte Friedensbotschaft aufs Trefflichste unterstützte.
Caroline Reiber hat schon bei der Anmoderation einen Pflaumensturz, Nicole erst hinterher.
Auch wenn die Umstände völlig andere sind, sollte es in den Zeiten des Ukrainekrieges nicht besonders schwer fallen, sich mental in die damalige Epoche zurück zu versetzen: im Frühjahr 1982 brach die diabolische, damalige britische Regierungschefin Margaret Thatcher einen bewaffneten Krieg mit 900 Toten (!) um ein paar hauptsächlich von Schafen bewohnte Felsen vor der Küste Argentiniens vom Zaun, um zu Hause den innenpolitischen Widerstand gegen den von den Konservativen betriebenen Ausverkauf ihres Landes zu brechen. Und das inmitten des Kalten Kriegs, auf dem Höhepunkt des irrsinnigen Wettrüstens der damaligen Supermächte USA und UdSSR und ihrer jeweiligen Verbündeten! Die Systemgrenze der beiden verfeindeten Blöcke verlief mitten durch das seinerzeit noch zweigeteilte Deutschland, wir waren auf beiden Seiten mit Atomraketen bis unter die Halskrause zugepflastert. Die allgegenwärtige, ganz real empfundene Angst vor dem unmittelbaren, infernalischen Ende der Menschheit war mit Händen zu greifen. Auch ich, damals fünfzehnjährig, fragte mich abends beim Einschlafen des Öfteren, ob ich den nächsten Morgen noch erleben dürfte oder ich zwischenzeitlich als Ziel eines Sprengkopfes, von welcher Seite auch immer, herhalten müsste. Textzeilen wie “Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht” trafen da den blankliegenden Nerv der Zeit. Kein Wunder, dass Nicole kam, sang und siegte.
Auch im Osten fürchteten die Menschen den Overkill: die DDR-Gruppe Karat, ‘Der blaue Planet’, aus demselben Jahr – ein Top-Hit auch im Westen und inhaltlich der deutlich tiefgründigere Friedensschlager. Aber Nicole hatte die schöneren Engelslocken (Repertoirebeispiel).
Zumal der Texter Bernd Meinunger sich ansonsten mit wolkig-harmlosen, nicht weiter verschreckenden Gemeinplätzen begnügte und eben nur “ein bisschen” Frieden forderte. Diese inhaltliche Unsinnigkeit (genau wie bei einer Schwangerschaft kann es Frieden nur ganz oder gar nicht geben) ist keine schlagertypische Petitesse, sondern bewusstes inhaltliches Kalkül. “Ein bisschen” hieß in diesem Fall, dass es völlig ausreicht, wenn sich hier im reichen (West-)Europa nichts ändert und auf uns keinen Bomben fallen. Kriege in Nahost, in Afrika, vor der Küste Südamerikas? Nur gerne weiter, da hängen schließlich deutsche Arbeitsplätze dran! Einer, der genau diese Mentalität in einem weiteren Friedensschlager dieser Tage anprangerte, war der Norddeutsche Hans Hartz: sein inhaltlich deutlich düstereres und mit Reibestimme intoniertes ‘Die weißen Tauben sind müde’ schaffte es bis auf Rang 11 in den Single-Charts, allerdings nicht zum deutschen Eurovisionsvorentscheid, obwohl Hartz den Song auch beim BR eingereicht hatte. Das Auswahlgremium des CSU-nahen Senders verhinderte allerdings die linke Konkurrenz für Nicole. Auch andernorts stieß der im Jahre 2002 an Lungenkrebs verstorbene Hartz auf konservative Gegenwehr: bei seinem Auftritt in der ZDF-Hitparade des bekennenden CDU-Wahlhelfers Dieter Thomas Heck klemmte ausgerechnet bei ihm bei ihm der Telefon-TED, so dass er mit 0% ausschied.
Mein ehemaliger Nachbar: Hans Hartz lebte zuletzt in Frankfurt am Main, im selben Haus wie ich.
Deutsche Vorentscheidung 1982
Ein Lied für Harrogate. Samstag, 20. März 1982, aus dem Studio 4 des Bayerischen Rundfunks in München-Unterföhring. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Carolin Reiber. Demoskopische Umfrage.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|
01 | Gottlieb Wendehals | Der Ohrwurm | 2029 | 11 | 70 |
02 | Séverine | Ich glaub an meine Träume | 2717 | 10 | - |
03 | Jennifer Kamp | Wie Phönix aus der Asche | 1965 | 12 | - |
04 | Mel Jersey | Schenk mir eine Nacht | 3227 | 07 | - |
05 | Gaby Baginsky | So wie Du bist | 2802 | 09 | - |
06 | Marianne Rosenberg | Blue-Jeans-Kinder | 2862 | 08 | - |
07 | Mary Roos + David Hanselmann | Lady | 3358 | 06 | 31 |
08 | Paola | Peter Pan | 4318 | 02 | 47 |
09 | Denise | Die Nacht der Lüge | 3799 | 04 | - |
10 | Hannes Schöner | Nun sag schon Adieu | 3914 | 03 | 27 |
11 | Jürgen Marcus | Ich würde gerne bei Dir sein | 3439 | 05 | - |
12 | Nicole | Ein bisschen Frieden | 5116 | 01 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 06.11.2022
Angst Damals war ich 13 und wußte auch nicht, wie lange ich noch zu leben habe, es konnte ja ganz schnell vorbei sein. Daher hat mich diese Schnulze aus dem bösen Westen richtig umgehauen. Den anschließenden ESC-Sieg habe ich dann total genossen, auch wenn ich kein BRD-Bürger war.
Das Teilnehmerfeld war wirklich Grütze. Eine Schande, dass dieser Song schon in der VE-Runde rausgeflogen ist: https://www.youtube.com/watch?v=536h7zrX3_8
Ralph Siegel schreibt übrigens in seiner Biographie, dass Nicole ursprünglich auch “Nur ein Lied” von Pietsch und Jung gesungen hat, sich dann aber für “Ein bisschen Frieden” entschied.
Frage: Ist es richtig, dass sich 1982 auch der Song “Die weißenTauben sind müde” von Hans Hartz in der Vorauswahl befand?
Laut eurovision.de befand sich der Song von Hartz unter den für den Vorentscheid eingereichten Vorschlägen, wurde aber von der Jury ausgesiebt und noch nicht mal zur Radio-Vorrunde zugelassen. Danke für die Frage, ich arbeite das beim nächsten Update mit ein.
In der Radio-Vorrunde war Angelika Milster mit dem Lied “Ohne Maske” dabei.
Jennifer heißt Kemp und nicht Kamp 😉