Um die dramatische Bandbreite des Unterschieds zwischen dem Grand Prix Eurovision und des realen Popgeschehens in den Achtzigerjahren zu illustrieren, sei es mir an dieser Stelle bitte gestattet, eine persönliche Anekdote zu erzählen. Den Winterurlaub 1981/1982 verbrachte der Blogbetreiber (damals 14) nämlich gemeinsam mit der Familie skifahrend in Österreich (über die katastrophalen ökologischen Folgen dieses Freizeitvergnügens sprach seinerzeit noch kein Mensch). Dort schallte uns seinerzeit aus jedem Radio, in jeder Jausenstation und beim Einkaufsbummel im örtlichen A&O‑Markt im gefühlt viertelstündlichen Abstand immer wieder diese eine ikonische Textzeile entgegen: “Drah di ned um”, rappte da ein junger Wiener, “der Kommissar geht um”. Die extrem funkige und geniale Erstlingssingle von Falco, veröffentlicht im Dezember 1981 und seit Neujahr ein Nummer-Eins-Hit im Alpenländle, gefiel dem jungen Oliver ausnehmend gut, während meine Eltern “das Kinderlied” abgrundtief hassten. Um so diebischer freute ich mich, als wir es während unserer Rückfahrt nach Hause bereits kurz hinter der deutschen Grenze auf Bayern 3 erneut zu Gehör bekamen, wo man es gerade frisch in die Heavy Rotation aufgenommen hatte. Und auch mein Heimatsender hr3 spielte es bald darauf ohne Unterlass, denn am 1. März 1982 erreichte ‘Der Kommissar’, 2020 korrekterweise zum wichtigsten Popsong Österreichs bestimmt, in Deutschland die Chartsspitze (wie übrigens auch in Spanien, Italien und Australien).
Österreichischer Pop von Weltruf: Falcos ‘Kommissar’ (Repertoirebeispiel).
Keine vier Wochen später veranstaltete der ORF seinen ersten richtigen Eurovisionsvorentscheid unter dem Titel Aus 12 wird 1 (das reine Songfinale mit nur drei Titeln im Vorjahr lässt sich wohl als eine Art Generalprobe verbuchen). Wie beim großen Bruder ARD präsentierte man auch in Wien dem Studiopublikum zwölf verschiedene Schlager, aus denen eine nach demoskopischen Gesichtspunkten ausgewählte Zuschauer:innenjury per Telefonbefragung das österreichische Lied für Harrogate auswählen durfte. Songs von Weltruf fanden sich allerdings nicht unter den hier aufgefahrenen Angeboten, selbst wenn eines der Lieder ‘Popmusik’ hieß. Doch vielleicht noch mehr als in Deutschland litt der Eurovision Song Contest auch südlich der Alpen unter dem Ruf einer spießigen Trashveranstaltung: jemand vom Format eines Falco wäre wohl freiwillig eher auf “dem Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren” gegen den nächsten Baum gebrettert, als sich bei so einer Veranstaltung erwischen zu lassen. Die selbst dem ausrichtenden ORF latent peinlich zu sein schien, schob der damals noch konkurrenzlos agierende öffentlich-rechtliche Sender den Song Contest mitsamt des Vorentscheids doch just in diesem Jahr erstmals von seinem ersten ins zweite Programm ab.
Die Playlist mit allen Beiträgen des österreichischen Eurovisionsvorentscheids 1982).
Wie panisch so ziemlich jede:r mit einer eingermaßen intakten Reputation die Eurovision mied, illustriert der Fakt, dass sich für die zwölf vorgestellten Lieder keine zwölf Interpret:innen zusammentreiben ließen. Stattdessen musste das 1980 eigens für eine ORF-Talentshow gegründete Quartett Mainstreet gleich vier Mal ran, also bei jedem dritten Beitrag. Kein Zuckerschlecken für die drei Herren und eine Dame, die von der musikalischen Dürftigkeit ihrer beliebigen Popschlagerchen mit stringent durchgezogenen Synchronchoreografien effizient ablenkten: von pointiertem Auf-den-Boden-Zeigen über anstrengendes Die-Hände-zum-Himmel bis zu doppelten Handklatschern setzten sie jedes nur erdenkliche Instrument aus dem großen Grand-Prix-Nähkästchen ein. Helfen sollte es nicht: womöglich wegen der verwirrenden Namensähnlichkeit ihres Titels ‘Marionettentheater’ mit dem Wettbewerbsbeitrag ‘Marionetten’ des Retortentrios Marionetten (wer denkt sich sowas aus?) landete damit ausgerechnet der beste ihrer vier Songs auf dem letzten Platz, während das rundweg schreckliche ‘Rock ’n’ Roll Revival’ die Silbermedaille holte. Die verstaubte musikalische Jugenderinnerung sorgte beim schon etwas älteren Studiopublikum allerdings für anhaltende Begeisterungsstürme. Oder, genauer: bei einem einzelnen Grauhaarträger, der jedoch so ausdauernd johlte und jubelte, dass er den gesamten Saal ansteckte.
Frönten Blue Danube zwei Jahre zuvor noch der musikalischen Hochkultur, so war man mittlerweile in den populärkulturellen Niederungen gelandet, wie dieses auf der Mainstreet dargebotene Medley moderner Musikstile – immerhin mit doppelten Handklatschern! – bewies.
Dass es für Mainstreet nicht zum Sieg reichte, veranlasste denselben renitenten Rentner allerdings zu wütenden, lautstarken Buhrufen: ja, sind wir denn hier bei einem spanischen Vorentscheid? Die Auswertungspause überbrückte Moderator Andreas Steppan, tieftraumatisierten deutschen TV-Werbungs-Konsument:innen der Neunziger noch in schmerzhaft verdrängter Erinnerung als der singende Ültje-Mann (“Komm auch du – greif zu”), mit Plaudereien mit den Damen und Herren auf den Rängen, wobei er sich so arg mit dem ORF-Hörfunkintendanten Ernst Grissemann verratschte, dass die Zeit leider, leider nicht mehr für den direkt hinter ihm sitzenden “Herrn Produzenten” Ralph Siegel reichte! Was in mir die brennende Frage aufwirft, unter welchem Pseudonym der Münchener hier welchen Song einschmuggelte: mein Wetteinsatz ruht auf dem zehntplatzierten Mainstreet-Titel ‘Ja ja, oui oui, si si, yes yes, ja ja’! Zwischen Mainstreet und Mainstreet schob sich auf dem vorletzten Rang die in den USA geborene, jedoch in Österreich gestrandete Sängerin Sheila Edwards, die mit der Aufforderung ‘Bitte, vergiss mich’ ihr Schicksal allerdings geradezu heraufbeschwor. Das Herren-Duo Troubadours bestand den Test der ‘Zeit’ ebenfalls nicht: kein Wunder, wirkten sie in engen schwarzen Hosen vor schwarzem Bühnenhintergrund doch optisch wie zwei Männer ohne Unterleib.
Jürgen Renford und Mireille Mathieu – Verzeihung: die Herren Windecker & Wessler alias die Troubadours. Und ja, sie singen genau so schön wie ihr Kollege aus dem berühmten Dorf der Gallier.
Doch was beschäftigen wir uns hier mit den Ababeis? Als einziger ernstzunehmender Konkurrent von Mainstreet sollte sich der ehemalige Wiener Sängerknabe Michael Scheikl erweisen. Der hatte mit dem Ziganfiedel-Discobeat-Mashup ‘Hungaria’ (1980) einen Top-Drei-Hit hingelegt, und zwar unter dem “als Blödelei” entstandenen Künstlernamen Fritz, welchen er auch hier als Solo-Interpret für sein fades Schlagerchen ‘Träumen’ recycelte. Für sein damaliges Gspusi und spätere erste Ehefrau Elisabeth “Lizzi” Engstler, wie ihre deutsche Schlagerkollegin Mary Roos die Tochter eines Hotelbesitzer-Ehepaares, schrieb er zudem das hirn- und gehörzellenerweichende ‘Du’. Abräumen konnten die beiden – getreu der ehernen Regel, dass immer das heterosexuelle Pärchen gewinnt – jedoch nur gemeinsam: unter dem albernen Projektnamen Mess boten sie die musikalisch sinnlos-fröhlich aufgetriedelte, von Fritz komponierte Schlagernichtigkeit ‘Sonntag’ feil, zu dem die Zwei ebenso sinnlos-fröhlich aufgetriedelt im Synchronschritt über die Bühne hüpften und jiveten, als hätten sie Gelenke aus Gummi und Lungen aus Stahl. Der mit der doppelten Stimmenanzahl zu Platz 2 eingeheimste Sieg gebührte ihnen alleine schon für diese beachtliche sportliche Höchstleistung voll und ganz.
Erst bei der Siegerreprise kamen Lizzi & Fritz ein kleines bisschen aus der Puste. Höchst verständlich bei Auftritt Nummer vier an diesem Abend.
Und zwar ungeachtet dessen, dass Scheikls manisch-erleuchtetes Dauergrinsen, welches es in seiner messianischen Strahlekraft durchaus mit ihrer schwedischen Heiligkeit Carola aufzunehmen vermochte, dann doch ein bisschen irritierte. Seine Eignung zum Sektenführer stellte er in den späten Nuller Jahren unter Beweis, wo er als “Mosaro” durch die Mehrzweckhallen des deutschsprachigen Raumes tourte und Esoterik-Jünger:innen von angesammelten monetären Verstopfungen befreite. Zum viralen Hit mit Millionen Klicks geriet dabei der ‘Körperzellen-Rock’ (“Jede Zelle meines Körpers ist glücklich”), mit welchem er gemeinschaftlich mit der Tanztherapeutin Astrid Kuby ein vollkommen verzücktes Publikum dazu brachte, einige der bei der österreichischen Grand-Prix-Vorentscheidung 1982 so zahlreich gezeigten choreografischen Figuren nachzuahmen und dabei am eigenen Leib nachzuspüren, was Eurovisionsfans schon seit jeher wissen: dass solcherart albernes Armwedeln und Sich-im-Kreise-Drehen die Stimmung in ungeahnte Höhen hebt! Positive Vibes dürften Fritz und Lizzi seinerzeit ebenso verspürt haben, als ‘Sonntag’ trotz eines mittelmäßigen Ergebnisses in Harrogate an die Spitze der heimischen Single-Charts schoss und diesbezüglich zumindest kurzzeitig mit Falco gleichzog. An die kulturelle Bedeutung des viel zu früh verstorbenen Ausnahme-Popstars sollten Mess jedoch nie anknüpfen.
Jede Zelle meiner Börse ist glücklich / alle Fächer sind prall gefüllt: der alte Fritz und sein Motivations-Mantra (Repertoirebeispiel).
Vorentscheid AT 1982
Aus 12 wird 1. Donnerstag, 25. März 1982, aus den ORF Studios in Wien. Neun Teilnehmer:innen. Moderation: Andreas Steppan. Televoting (demoskopische Jury).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Mainstreet | Marionettentheater | 196 | 12 |
02 | Lizzi Engstler | Du | 534 | 04 |
03 | Wallner & Licha | Tagebücher | 421 | 09 |
04 | Mainstreet | Pop-Musik | 514 | 05 |
05 | Sheila Edwards | Bitte vergiss mich | 197 | 11 |
06 | Mess | Sonntag | 1.655 | 01 |
07 | Rusty & Jay | Sing ganz einfach ein Lied | 743 | 03 |
08 | Mainstreet | Ja ja, oui oui, si si, yes yes, ja ja | 209 | 10 |
09 | Troubadoure | Zeit | 436 | 08 |
10 | Fritz | Träumen | 507 | 06 |
11 | Marionetten | Marionetten | 460 | 07 |
12 | Mainstreet | Rock ’n’ Roll Revival | 798 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 08.10.2021