Aus Zwölf wird eins 1983: die Müh­le der stür­mi­schen Gefühle

Pss­scht! Ein biss­chen lei­ser!”: mit die­sem gleich zwei­mal im Ton­fall zwi­schen Ver­är­ge­rung und Ver­zweif­lung vor­ge­tra­ge­nen Impe­ra­tiv ver­such­te (die deut­schen TV-Zuschauer:innen aus der lang­le­bi­gen ZDF-Rate­show Dal­li dal­li bekann­te) Bri­git­te Xan­der, die in einem rosa­far­be­nen Fle­der­maus­är­mel-Unge­tüm von Abend­kleid durch die Show führ­te, die ent­fes­sel­te Ras­sel­ban­de im nach­ge­ra­de schä­big impro­vi­siert wir­ken­den Green Room des öster­rei­chi­schen Vor­ent­scheids 1983 wenigs­tens tem­po­rär zum Schwei­gen zu brin­gen. Was zu den weni­gen lus­ti­gen Momen­ten die­ser ins­ge­samt eher stei­fen Show gehör­te, bei der erneut zwölf größ­ten­teils unter­ir­di­sche Schla­ger um die Fahr­kar­te ins rela­tiv nahe Mün­chen ran­gen, wo der Euro­vi­si­on Song Con­test in die­sem Jahr gas­tie­ren soll­te. In der baye­ri­schen Lan­des­haupt­stadt wie­der­um hat­te sich 1969 die deut­sche Gesangs­for­ma­ti­on Love Gene­ra­ti­on gegrün­det, die sowohl 1975 als auch 1976 am hei­mi­schen Grand-Prix-Vor­ent­scheid teil­nahm, sich aller­dings 1978 wie­der auf­lös­te. Aus den Res­ten die­ses Pro­jekts form­te sich das Damen­quar­tett The Hor­net­tes, wel­ches 1981 mit dem unsäg­li­chen ‘Man­ne­quin’ aus der Feder von Ralph Sie­gel den zwei­ten Platz bei Ein Lied für Dub­lin belegte.

Der Schnell­durch­lauf mit allen zwölf Vor­ent­schei­dungs­bei­trä­gen (ab 5:42 Min.) und die Aus­zäh­lung des öster­rei­chi­schen Vor­ent­scheids 1983.

Einen Rang schlech­ter schnitt die nach wie vor bei Sie­gels Plat­ten­la­bel Jupi­ter Records unter Ver­trag ste­hen­de For­ma­ti­on dann heu­er in Wien ab, wobei sich der retro­sound­se­li­ge Schla­ger ‘Hel­lo, Mr. Radio’ sowohl musi­ka­lisch wie text­lich frei­zü­gig am the­men­glei­chen ‘Hör wie­der Radio’ bedien­te, dem Vor­ent­schei­dungs­bei­trag der ein­gangs erwähn­ten Love Gene­ra­ti­on, womit sich der Kreis wie­der schließt. Wir blei­ben noch ein biss­chen im nörd­li­chen Nach­bar­land: ein wei­te­rer pro­mi­nen­ter deut­scher Schla­ger­kom­po­nist ist Chris­ti­an Bruhn, aus des­sen Feder die Euro­vi­si­ons­er­fol­ge ‘Zwei klei­ne Ita­lie­ner’ von Con­ny Fro­boess (1962) und ‘Wun­der gibt es immer wie­der’ sei­ner drit­ten Ehe­frau Kat­ja Ebstein (1970) stamm­ten. 1976 hei­ra­te­te Bruhn zum vier­ten Mal, dies­mal die im Unter­frän­ki­schen gebo­re­ne Eri­ka Goetz, wel­che mit ihren älte­ren Schwes­ter Bri­git­te als Gesangs­duo Git­ti & Eri­ka auf­trat. Ihr größ­ter Hit: das 1977 ver­öf­fent­lich­te Titel­lied zur ZDF-Zei­chen­trick­se­rie ‘Hei­di’. Für die ab 1980 im deut­schen Fern­se­hen aus­ge­strahl­te Ani­me-Serie ‘Cap­tain Future’ schrieb Bruhn eben­falls eine kom­plett neue Film­mu­sik, deren Gesangs­parts wie­der­um sei­ne Frau über­nahm. Futu­ris­tisch ging es auch beim Trash-Kult-Schla­ger ‘Hal­lo Welt’ zu, mit dem Git­ti & Eri­ka nun Öster­reich heim­such­ten. Bezeich­nen­der­wei­se nicht unter ihrem bekann­ten Namen, son­dern als “E & G & ETW.

Als ob Rick James, Amii Ste­wart, Boney M und Mis­ter Fis­to ein Kind gezeugt hät­ten: Eri­ka, Git­ti und die End Time Warriors.

Letz­te­res Drei­buch­sta­ben­kür­zel stand für “End Time War­ri­ors”: gemeint waren die drei gro­tesk kos­tü­mier­ten Knall­char­gen in den lei­der arg an die Rate­ka­bi­nen aus der Wim-Thoel­ke-Show Der gro­ße Preis erin­nern­den Raum­kap­seln und die White­wash-Ver­si­on von Rick James an der Gitar­re. Optisch bedien­te man sich also an der mitt­ler­wei­le mau­se­to­ten Dis­co-Ära, musi­ka­lisch durch die per Vocoder­ein­satz ver­frem­de­ten Stim­men der männ­li­chen Backings ganz vage an der gera­de den Kom­merz­tod ster­ben­den Neu­en Deut­schen Wel­le. Inhalt­lich jedoch prä­sen­tier­te Bruhn hier eine frap­pie­ren­de Mélan­ge aus Welt­raum­dys­to­pie und Hei­le-Welt-Schla­ger. Ich will jetzt nicht behaup­ten, dass die bei­den alpen­län­di­schen Kaba­ret­tis­ten Man­fred Tau­chen und Joe­si Pro­ko­petz aus die­ser irri­tie­rend-fas­zi­nie­ren­den Trash-Per­le – viel­leicht völ­lig unter­be­wusst – die Ein­ge­bung für den gemein­sam mit den Ber­li­ner Hum­pe-Schwes­tern ver­fass­ten (und angeb­lich melo­disch von einem unbe­kann­ten DDR-Schla­ger abge­paus­ten) NDW-Mons­ter­hit ‘Codo… düse im Sau­se­schritt’ sogen, mit dem sie im Som­mer des glei­chen Jah­res die euro­päi­schen Hit­lis­ten auf­roll­ten. Aber irgend­wie hat es schon den Anschein einer ziem­lich ähn­li­chen Idee, nur viel­tau­send­fach bes­ser in der Aus­füh­rung. ‘Hal­lo Welt’, man muss es eigent­lich nicht wei­ter erwäh­nen, ver­sack­te hin­ge­gen nicht nur beim Vor­ent­scheid im Mit­tel­feld, son­dern flopp­te zudem kom­mer­zi­ell voll­stän­dig. Und das zu Recht.

Ähn­li­ches Sen­ti­ment, nur deut­lich coo­ler prä­sen­tiert: das Deutsch-öster­rei­chi­sche Fein­ge­fühl (Reper­toire­bei­spiel).

Kein Ver­kaufs­er­folg soll­te auch der ton­nen­schwe­ren Depres­si­ons­bal­la­de ‘Ein Wort von Dir’ von Patrick Nes beschie­den sein, aus wel­cher uns aller Jam­mer die­ser kal­ten, unkom­mu­ni­ka­ti­ven Gesell­schaft ent­ge­gengrein­te. Der mit­tel­ge­schei­tel­te, als “sin­gen­der Disk­jo­ckey” anmo­de­rier­te Nes wuchs unter sei­nem bür­ger­li­chen Namen Fer­di­nand Ren­nie im Bur­gen­land auf, wo ihm der Vater zunächst ver­bot, die ersehn­te Musik­kar­rie­re zu ver­fol­gen. “Der Bub muss­te was Anstän­di­ges ler­nen: Büro­kauf­mann,” wie Bri­git­te Xan­der sei­nen Wer­de­gang skiz­zier­te. Als Schla­ger­star geschei­tert, fand Ren­nie danach Unter­schlupf im Musi­cal. Spä­ter führ­ten ihn sei­ne Wege nach Schott­land, wo er sei­nen Mann Bri­an ken­nen­lern­te, der heu­te selbst ent­wor­fe­ne, “hoch­prei­sigs­te Cou­ture-Mode inklu­si­ve Acces­soires” beim Home­shop­ping-Kanal HSE ver­kloppt, wie sich einem Inter­view der Mün­che­ner AZ ent­neh­men lässt. Das bringt mich zum gelern­ten Kauf­mann Johann Kreuz­mayr, der Wiki­pe­dia zufol­ge Anfang der Sieb­zi­ger zunächst eine Damen­bou­tique in Linz führ­te. Mit dem von ihm als Aus­la­gen­ge­stal­ter für näm­li­chen Laden enga­gier­ten Gra­fi­ker Sepp Krass­nit­zer grün­de­te er das Schla­ger­duo Water­loo & Robin­son, das Öster­reich beim Song Con­test 1976 vertrat.

Water­loo bei einem Auf­tritt mit sei­nem Vor­ent­schei­dungs­bei­trag bei einer Gala in Dresden.

1981 trenn­ten sich die Wege, und Water­loo ver­such­te es solo, hier nun mit einer Hym­ne auf die ‘Frei­heit’. Die sang er auch im Jah­re 2005 auf einer Wahl­wer­be­ver­an­stal­tung für die rechts­po­pu­lis­ti­sche FPÖ, einer Par­tei also, die – wie ihr deut­sches Pen­dant – “Frei­heit” als das unge­zü­gel­te Recht des Stär­ke­ren inter­pre­tiert, bis ans Ende der Tage von patri­ar­cha­li­schen Struk­tu­ren zu pro­fi­tie­ren. Und auch hier schließt sich wie­der der Kreis zum 1976er Grand-Prix-Bei­trag ‘My litt­le World’, der das hei­me­li­ge Bild einer schein­bar sor­gen­frei­en, über­schau­ba­ren klei­nen Idyl­le skiz­ziert, die es gegen Teil­ha­be­for­de­run­gen Unter­pri­vi­le­gier­ter zu ver­tei­di­gen gilt. Im Gegen­satz zum Vor­jah­res­vor­ent­scheid, wo fast jede:r Teilnehmer:in bis zu vier Mal ran­muss­te, beschränk­te sich der Mehr­fach­ein­satz dies­mal auf Gary Lux, der es auf beein­dru­cken­de sechs Euro­vi­si­ons­ein­sät­ze für Öster­reich brin­gen soll­te. Er fei­er­te heu­er sei­ne Pre­miè­re als Solo­sän­ger, wobei es für den mau­en Schla­ger ‘Bleib wie du bist’ nur für Rang vier reich­te. Mehr Erfolg hat­te er als Teil der eigens für den Grand Prix gegrün­de­ten Ein­weg-Retor­ten­ka­pel­le West­end, die im demo­sko­pi­schen Voting unter ein paar hun­dert ange­ru­fe­ner ORF-Zuschauer:innen mit knap­pen 20 Punk­ten Vor­sprung von Water­loo den Sieg klar­ma­chen konnte.

Ohne den statt­li­chen Schnäu­zer könn­te man Gary Lux glatt mit Patrick Nes ver­wech­seln: der Video­clip zum mei­nem Lieb­lings-Guil­ty-Plea­su­re ‘Hur­ri­ca­ne’, eine Art Trai­nings­vi­deo zum The­ma sexu­el­le Beläs­ti­gung am Arbeitsplatz.

Die vier­köp­fi­ge Boy­band (plus weib­li­che Tän­ze­rin, damit’s nicht so schwul wirkt) rund um den Kom­po­nis­ten Peter Vie­w­e­ger lös­te sich unmit­tel­bar nach dem Wett­be­werb wie­der auf, obschon die Sin­gle bis in die hei­mi­schen Top Ten vor­stieß und der hübsch durch­cho­reo­gra­fier­te ‘Hur­ri­ca­ne’ auf der berüch­tig­ten Heiz­lüf­ter-Büh­ne in der Mün­che­ner Rudi-Sedl­mayr-Hal­le einen respek­ta­blen neun­ten Platz hol­te. Der schwung­voll-mit­rei­ßen­de Syn­thie-Schla­ger gehört mit sei­nem tra­gi­schen Text (“Ich war­te auf die Eine / nur auf mich, da war­tet kei­ne”), sei­ner zwin­gen­den Melo­die und sei­nen traum­haf­ten Gesangs­har­mo­nien zu mei­nen abso­lu­ten Grand-Prix-Favo­ri­ten und ver­setzt mich bei jedem Anhö­ren in unbe­schreib­li­che Schla­ge­rek­sta­se. Das gilt natür­lich erst Recht fürs Anschau­en: die haut­eng sit­zen­den Hosen der vier Alpen­bu­ben, die kecken Hüft­schwün­ge, die syn­chro­nen Kicks, Garys kes­ses Zwin­kern in die Kame­ra und das eigens für den inter­na­tio­na­len Wett­be­werb um einen männ­li­chen Gegen­spie­ler erwei­ter­te Bal­lett­tän­zer­pär­chen, bei dem der dau­er­ge­well­te Blon­de sei­nen Part so viel enga­gier­ter und exal­tier­ter exer­ziert als sie (und trotz­dem weni­ger im Bild ist, soviel zur Homo­pho­bie unter TV-Regis­seu­ren) – es ist ein ein­zi­ges Augenfest!

Wenn ich mit nur einem ein­zi­gen Clip ver­an­schau­li­chen soll­te, war­um ich den ESC lie­be: das hier ist er!

Vor­ent­scheid AT 1983

Aus Zwölf wird eins. Don­ners­tag, 17. März 1983, aus den ORF Stu­di­os in Wien. Zwölf Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Bri­git­te Xan­der. Demo­sko­pi­sche Zuschauer:innen-Jury.
#Inter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
01Wall­ner & LichaBleib doch hier46108
02Johan­nes RaimannSum­ma is19312
03Andre­as WörzMusik Musik25210
04Patrick NesEin Wort von dir62505
05West­endHur­ri­ca­ne1.23801
06E & G & ETWHal­lo Welt57206
07The Hor­net­tesHel­lo Mr. Radio81703
08Gary LuxBleib wie du bist64704
09Ines Rei­ger + Do-Re-MiTräu­me sind unser Leben55907
10Manue­la LeebDu bist mein Talisman40809
11The Dun­can SistersHeu­te Nacht wird gelacht23411
12Water­looFrei­heit1.21602

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