“Die Schatten der Vergangenheit sind nicht für uns da […] / Vergangenes, das zählt nicht mehr, wir schieben es weg”: sehr selten wurde in der deutschsprachigen Populärkultur der von aktiver Verdrängung geprägte Umgang mit der Nazi-Zeit so offensiv thematisiert wie beim österreichischen Eurovisionsvorentscheid im Jahre 1984. Allerdings sollte der vom Wiener Musiker Peter Janda (‘Die Zeit ist einsam’, 1986) komponierte und bei Ralph Siegels Firma Jupiter Records veröffentlichte Schlager ‘Die Schatten der Vergangenheit’ keinesfalls als Kritik an der Verweigerung der geschichtlichen Aufarbeitung zu verstehen sein. Sondern ganz im Gegenteil als nachgerade aggressive Aufforderung, die unerträglichen Bilder des Holocaust für immer ins Archiv zu packen und den Schlüssel wegzuwerfen, um, von der Schuld befreit, in eine “neue Welt” durchzustarten. Und wer könnte das Verlangen nach Reinheit und Unbelastetheit besser verkörpern als unschuldige Kinder? So castete der Münchener Grand-Prix-Grandseigneur für sein Sextett The Kids vier Infanten und zwei Anfang zwanzigjährige Aufsichtspersonen zusammen, die in den Strophen schlagwortartige, idyllische Kitschstanzen über unberührte Natur, Freundschaft und Brückenbauen herunterratterten, um dann im Refrain den Wunsch nach einem Schlussstrich hinterherzuschieben.
Wie beim klaren Vorbild Rolf Zuckowski dienen auch hier die Kinder bloß als Niedlichkeitsstaffage für die Erwachsenen, die nach Belieben Mikrofone zuteilen und wieder wegnehmen: The Kids. (Plus Playlist mit sechs der zwölf Vorentscheidungstiteln.)
Um den Abstand zu den Idealen der Nazis zu unterstreichen, durfte im Kinderchor gar “die schwarze Natascha” mitsingen, wie Moderatorin Vera Russwurm betonte. ‘Die Schatten der Vergangenheit’ sollten indes gute zwei Jahre später im Zuge der Waldheim-Affäre mit Macht zurückkehren: die anhaltende und erbittert geführte Debatte über die zunächst verschwiegene und dann anfänglich offensiv geleugnete Verstrickung des Staatspräsidenten und ehemaligen Wehrmacht-Offiziers Kurt Waldheim in NS-Verbrechen, die zu einer zeitweiligen politischen Isolation des Alpenlands führte, kratzte nachhaltig am bislang gepflegten Opfermythos, führte allerdings auch zum nachhaltigen Erstarken der rechtspopulistischen FPÖ. Es entbehrt insofern nicht einer gewissen galligen Ironie, dass das geschichtsklitternde Sextett in der Startreihenfolge direkt auf das Wiener Szene-Original Jazz-Gitti alias Martha Butbul folgte, einer Jüdin, die Bekanntheit als singende Wirtin in ihren eigenen Lokalen und Anfang der Achtziger durch gemeinsame Auftritte mit der Kultkappelle Drahdiwaberl erlangt hatte, einer Art kreativer Keimzelle des österreichischen Pop-Schaffens. ‘Hey du’, Jazz-Gittis Vorentscheidungsbeitrag, sollte ihre erste Solo-Single sein – und floppte. Den kommerziellen Durchbruch schaffte die blonde Wuchtbrumme 1990 mit dem Nummer-Eins-Album ‘A Wunda’, gefolgt von lustigen Stimmungsschlagern wie ‘Nackert’ oder ‘Pistensau’.
Pfundig: FKK-Freundin Gitti macht sich ‘Nackert’ (Repertoirebeispiel).
Als ‘Top Secret’ bewisperte der seinerzeit 21jährige Andy Marek seine Liebschaft mit einer 17jährigen. Wobei sich die Frage stellt, weswegen: nach den damaligen österreichischen Schutzaltersbestimmungen hätte nur eine Beziehung zu einem Mann in diesem Alter unter Strafe gestanden. Der als “enorm ambitionierter Sänger” annoncierte Marek bewies mit seinem plastikhaften Talmischlager vor allem, dass Ambition und Talent sich nicht immer gleichermaßen die Waage halten. Ab 1992 verdiente er seine Brötchen als Stadionsprecher von Rapid Wien. A propos verdienen: einen signifikanten Anteil seines Bruttosozialprodukts erwirtschaftet Austria bekanntlich im Fremdenverkehr. Wie es sich für die Einheimischen anfühlt, wenn ihr Dorf monatelang von Menschenmassen überlaufen wird, um dann wieder zur alten Größe zusammenzuschrumpfen, erzählte der offenkundig unter enormen Lampenfieber leidende Peter Jug in dem von leiser Melancholie durchzogenen Titel ‘Saison’. Der womöglich einen besseren als den zehnten Platz erzielt hätte, wenn Jug die zwanzig Sekunden zwischen dem letzten Refrain und dem Ende Liedes nicht mit völlig unbeholfenen “La la la“s überbrückt hätte. Wobei schon die visuelle Diskrepanz zwischen seinem Outfit mit Fliege und Strickpulli und dem legeren Kegelvereins-Schick seiner engagiert wippenden Begleitband den Auftritt als amateurhaft verriet.
Macht sich die Hände nicht schmutzig: Mittelscheitel-Andy und seine Kellnerkolleg:innen.
Was im übrigen für sämtliche Beiträge dieser Konkurrenz gilt, die ausnahmslos in der Freizeitliga spielten und von denen gerade mal die beiden in der demoskopischen Telefonumfrage Topplatzierten in den heimischen Charts reüssieren konnten. Bis auf Rang 3 in der Verkaufshitparade schaffte es der unermüdliche Gary Lux, der sich für den fast nur aus Refrain und sehr, sehr viel “Ohohohohoooo” bestehenden, schnarchlahmen Engtanz-Blues ‘Kumm hoit mi’ (‘Komm, halt mich’) mit der Schlagerkomponistin Brigitte “Gitti” Seuberth zusammentat. Aus deren Feder stammte auch der Siegertitel ‘Einfach weg’, dargeboten von der bis dahin völlig unbekannten Anita Spanner, die darin den mehr als verständlichen Wunsch äußerte, angesichts der desolaten Zustände zuhause so schnell wie möglich die Koffer zu packen und in “irgendein anderes Land” zu entfliehen. Allzu weit sollte Anita die Reise allerdings nicht führen. Sondern nur bis Luxemburg, wo sie (im Chor unterstützt von Überläufer Gary Lux) für Österreich die Rote Laterne ersang. Ihre Landsleute reagierten auf die Zurückweisung durch die Jurys ähnlich bockig wie in der Casa Waldheim und machten den fadenscheinigen Schlichtschlager zum Nummer-Eins-Hit. Der allerdings trotz weiterer musikalischer Versuche eine Eintagsfliege bleiben sollte.
Kehrte bald wieder in ihren Beruf als Anwaltsgehilfin zurück und tingelt heute mit ihrer Tochter auf Hochzeiten und Galas: Anita Spanner.
Der ORF nahm Anitas letzten Platz zum Anlass, für die nächsten fünf Jahre von der kostspieligen öffentlichen Vorentscheidung wieder zur internen Auswahl zurückzukehren. Auf diese Weise kam dann auch Gary Lux zu seinen beiden Eurovisionseinsätzen als Frontmann.
Vorentscheid AT 1984
Aus 12 mach eins. Donnerstag, 22. März 1983, aus den ORF Studios in Wien. Zwölf Teilnehmer:innen. Moderation: Vera Russwurm. Televoting (demoskopische Jury).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Sandra Wells | Hier ist mein Lied | 369 | 08 |
02 | Jazz-Gitti | Hey du | 352 | 09 |
03 | The Kids | Schatten der Vergangenheit | 517 | 05 |
04 | Andy Marek | Top Secret | 516 | 06 |
05 | Anita Spanner | Einfach weg | 1.404 | 01 |
06 | By Chance | Vogel im Wind | 469 | 07 |
07 | Birgit | Ich bin Frau | 270 | 10 |
08 | Ruth Hale | Ich steh unter Strom | 130 | 12 |
09 | Andreas Wörz | Singen ist Gold | 872 | 03 |
10 | Peter Jug | Saison | 567 | 04 |
11 | Gitti Seuberth + Gary Lux | Kumm hoit mi | 931 | 02 |
12 | Helmut Rudolfs | Erste Liebe | 204 | 11 |
Letzte Aktualisierung: 10.10.2021