
Der 1979 mit dem Wechsel des Grand-Prix-Vorentscheids zum Bayerischen Rundfunk (BR) begonnene, knapp fünfjährige Lauf Deutschlands beim Eurovision Song Contest neigte sich nunmehr unaufhaltsam dem Ende entgegen. Die Beiträge der diesjährigen “Endausscheidung”, vom BR aus dem eigenen Sendestudio ins prachtvolle Deutsche Theater zu München verlegt und zu allem Übel moderiert durch den personifizierten Sprechdurchfall Sabine Sauer, zeichneten sich samt und sonders durch musikalische Grausamkeit und inhaltliche Belanglosigkeit aus. ‘Wo warst Du, als ich starb?’, diese von Frank Daniels (wer?) gestellte Frage konnte stellvertretend für den dahinsiechenden deutschen Schlager stehen. Und aus Sicht der Zuschauer:innen beantwortet werden mit: zu Hause, vor dem TV-Gerät. Am Vorabend des für April 1984 terminierten Sendestarts des von Helmut Kohl, damaliger Bundeskanzler und enger Freund des Medienmoguls Leo Kirch, mit aller Macht durchgedrückten Privatfernsehens dies sogar noch in durchaus beeindruckender Zahl. Das sollte indes nicht mehr allzu lange so bleiben, und nach diesem Offenbarungseid der öffentlich-rechtlichen TV-Unterhaltung verwundert der Zuschauer:innenschwund der Folgejahre nicht.
Ob das ein unterhaltsamer Eurovisionsabend war? Oh, i woaß net! (Playlist mit acht als Clip verfügbaren Videos zum Durchskippen).
Außer der bajuwarischen Schmuseschlager-Kapelle Relax, einem falsch etikettierten Restposten vom Grabbeltisch der mittlerweile zu Tode gerittenen Neuen Deutschen Welle, sowie der Schlageraltlast Bernhard Brink fand sich kein bekannter Name darunter; die Sendung entpuppte sich als bedrückender Aufmarsch der Chancenlosen und Verlierer:innen der Poprevolution. Noch erschütternder erscheint die Lage, bezieht man die zwölf Titel mit ein, die es aus den angeblich knapp tausend eingesandten Liedvorschlägen nur bis in die Radio-Vorrunde schafften. Da findet sich neben den leider drei Jahre zu spät kommenden NDW-Nachläufern wie ‘Der schönste Mann’ von Buddy’s Kolonne oder ‘Ich fahr so gerne Lift’ von Klein & Krämer (übrigens beide bei Ralph Siegels Jupiter Records verlegt) sowie dem entspannt groovenden Qualitätselektropopstück ‘Digital’ des heute als Model, Fotograf und Musikproduzent auf Teneriffa arbeitenden Christian Buehner nämlich auch schon eine erste apokalyptische Vorreiterin der in den Neunzigern so richtig ausbrechenden volkstümlichen Schlagerhölle, hier in Gestalt der noch blutjungen, notorischen Kristina Bach, die den durch Protagonistinnen wie sie beförderten Zustand der absoluten Hoffnungslosigkeit (‘Wenn es kein Licht mehr gibt’) auch noch besang.
Im Vorfeld aussortiert: Buddys Eigenlob-Hymne (plus sieben der ausgeschiedenen Songs, als Audio).
In die Show schaffte es stattdessen Helmut Frey, 1991 ein Sechstel von Atlantis 2000, dem zu meiner völligen Fassungslosigkeit der vergnügt mit dem Keytar auf der Bühne stehende Dieter Bohlen die Melodie beisteuerte. Und die klang keineswegs nach Modern Talking, sondern vielmehr nach den Flippers. ‘Hier ist einer zuviel’: das sah sicherlich auch Ralph Siegel so. Mr. Grand Prix, der seinen künstlerischen Zenit nach einer durchaus beeindruckenden Reihe unsterblicher Beiträge zum deutschen Schlagerschaffen (‘Fiesta Mexicana’, ‘Du kannst nicht immer 17 sein’, ‘Moskau’) nun definitiv überschritten hatte, beendete seine selbst auferlegte Karenzzeit und schickte einen äußerst sprechenden Titel ins Rennen: den ‘Tingel Tangel Mann’, dargeboten von einer beim Liveauftritt eher verängstigt als vergnügt aussehenden Retortenformation namens Harmony Four, von der man anschließend nie wieder etwas hörte. Naja, stimmt nur halb: 1999 recycelte der Komponist die B‑Seite ihrer Single mit dem Titel ‘Wo geht die Reise hin?’ und beantwortete die Frage mit ‘…nach Jerusalem’. Doch bereits nach einem Jahr Pause zeigten sich die 500 wahlberechtigten Zuschauer:innen entwöhnt. Sie versagten bei der Vorentscheidungstradition Mit Brief und Siegel und wählten die unerträgliche Nummer lediglich auf den dritten Rang. Dieser Fehler sollte dem Münchener Fließbandkomponisten so schnell nicht mehr unterlaufen.
“Die Gedanken sind Staatseigentum”: da stimmt der deutsche “Verfassungsschutz” sicher begeistert zu!
Neben weiteren komplett Unbekannten wie der Sizilianerin Giorgia Lauda oder der heute auch als Lifecoach arbeitenden Choristin Madeleine Lang sorgte die Kurzzeitformation Pas de Bas zumindest für optisches Amüsement: zusätzlich zu einer als Discountversion von Kim Wilde zurechtgeschminkten Sängerin stellte eine namensgebende ‘Primaballerina’ einige Tanzszenen aus dem populären Streifen ‘Flashdance’ nach. Oder versuchte es zumindest. Einen kleinen Hauch von Zeitgeist brachte immerhin die New-Wave-Band Monitor in den Vorentscheid, die sich – passend zum Orwell-Jahr 1984 – mit ‘Mensch aus Glas’ dem Thema Überwachungsstaat annahm und ihren aus heutiger Perspektive als seherisch zu bezeichnenden Liedtext in irgendwo zwischen Kraftwerk und Alphaville oszillierenden Synthesizer-Melodien gefällig verpackte. Nur, dass man auf die Aussage des Songs gar nicht richtig achtete, weil man von dem massiven Silberblick des niedlichen Leadsängers so abgelenkt wurde. 1985 schafften sie es mit dem deutlich schwächeren ‘Utopia’ dann nicht über die Radiovorrunde hinaus. Schade, denn von diesem Kaliber hätte man sich mehr gewünscht beim deutschen Vorentscheid, wenn vielleicht auch mit einer etwas zwingenderen Hookline. So ragte als einzige, um so strahlendere Ausnahme alleine der Siegertitel dieser Vorentscheidung hell leuchtend aus dem Sumpf des Grauens hervor: Mary Roos’ ‘Aufrecht gehn’.
Mein Vorbild: Mary geht aufrecht durch die Dunkelheit ins Licht . Sehr süß übrigens, wie sie nach der Siegesakklamation die ihr überreichten Blumen zum Trost einzeln an ihre unterlegenen Konkurrent:innen verteilte.
Ein kraftvoller Emanzipationsschlager über eine Frau, die sich nach einer gescheiterten Beziehung selbst wieder aus den Niederungen der Trauer herauszieht: berührend, Mut machend und von Mary im schwarz-roten Pünktchenkleid überzeugend vorgetragen. Dieses Lied hat zudem für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil es nicht nur als Trostspender für Trennungsgeschädigte funktioniert, sondern auch als Kraft gebende schwule Hymne. ‘Aufrecht gehn’ führte mich als damals Sechzehnjährigen – zu einer Zeit, als Schwule in den Medien noch ausschließlich als Kinderschänder oder Gewaltopfer vorkamen und es noch keine karnevalsähnlichen CSDs oder offen schwule Außenminister gab – mit seinen herzerwärmenden Durchhalteparolen (“Mit Stolz in meinen Augen / Und trotz Tränen im Gesicht / Aufrecht gehn durch die Nacht ins Licht”) durch die Irrungen und Wirrungen der ersten Coming-Out-Phase und gab mir auch in Zeiten der Verzweiflung (“Noch klingt auch mein Lachen etwas schrill / Noch sind in meiner Seele Splitter / Noch sehe ich kein Ziel / Jedoch, ich will”) Halt und Mut. Gemeinsam mit den Songs von Bronski Beat gehörte er zum Labsal spendenden Soundtrack meiner Jugend, weswegen er meinem kleinen Eurovisionsspielplatz auch seinen Namen geben durfte. Und ich sage an dieser Stelle aufrechten Herzens: Danke, Mary!
Sabine Sauer sabbelte sich die Zunge wund bei ‘Ein Lied für Luxemburg’ (ganze Show).
Deutsche Vorentscheidung 1984
Ein Lied für Luxemburg. Samstag, 29. März 1984, aus dem Deutschen Theater in München. 12 Teilnehmer:innen, Moderation: Sabine Sauer. Demoskopische Befragung.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Cosi + Relax | Oh, I woas net | 2949 | 09 | - |
02 | Jürgen Renfordt | Als die Erde war geboren | 3505 | 08 | - |
03 | Harmony Four | Tingel Tangel Mann | 3852 | 03 | - |
04 | Madeleine Lang | Halt mich fest | 2674 | 11 | - |
05 | Helmut Frey | Hier ist einer zuviel | 3072 | 07 | - |
06 | Giorgia Lauda | Jeder muß sein Leben leben | 3350 | 06 | - |
07 | Frank Daniels | Wo warst Du, als ich starb | 2669 | 10 | - |
08 | Mary Roos | Aufrecht gehn | 4124 | 01 | 56 |
09 | Pas de Bas | Primaballerina | 2599 | 12 | - |
10 | Monitor | Mensch aus Glas | 3754 | 04 | - |
11 | Anne-Karin Meyer | Niemand | 3669 | 05 | - |
12 | Bernhard Brink | Liebe ist… | 4003 | 02 | - |
Letzte Aktualisierung: 20.10.2021
Aufrechtgehn.de Interessante und schöne Erläuterung zum Titel dieses für ESCler unausweichlichen Blogs ! 🙂
Also dass Ralph Siegel “Griechischer Wein” komponiert haben soll, ist mir neu. Ich denke, Herr Jürgens hätte etwas gegen diese Behauptung!!!!
Danke, bideldebinka! Du hast natürlich recht, er hat’s nicht komponiert – das war in der Tat Herr Jürgens himself – sondern produziert. Vielen Dank für den Hinweis.
“Musikalische Grausamkeit”? Das sah der BR aber anders:
“Die Titel sollen in diesem Jahr auch neue Trends widerspiegeln. So fanden sich auf der Liste der letzten 24 Bewerber auch Gruppen wie “Franz K.” mit dem frechen Song “Rock ’n’ Roll im Bundestag” und die “Henry Caddy Band” mit “Jeder Tag vergeht so schnell”. Damit wollte man dem Ruf entgegenarbeiten, nur Opas Hitparade zu sein.” (Quelle: Fernsehzeitung vom 29.03.1984)
“Neue Trends” ist natürlich sehr, sehr lustig: Rock’n’Roll war ja vielleicht mal in den Fünfzigern “neu und frech”. In den Achtzigern war das schon klassische Spießermusik (vgl. Badesalz ‘Die Gaby und ich’). Dass der BR sich damit als am Puls der Zeit präsentieren wollte, illustriert ja um so schöner das Problem. 🙂