Ein Lied für Luxem­burg 1984: Mit Stolz in mei­nen Augen

Mary Roos, DE 1984
Die Geknick­te

Der 1979 mit dem Wech­sel des Grand-Prix-Vor­ent­scheids zum Baye­ri­schen Rund­funk (BR) begon­ne­ne, knapp fünf­jäh­ri­ge Lauf Deutsch­lands beim Euro­vi­si­on Song Con­test neig­te sich nun­mehr unauf­halt­sam dem Ende ent­ge­gen. Die Bei­trä­ge der dies­jäh­ri­gen, pas­send benann­ten “End­aus­schei­dung”, vom BR aus dem eige­nen Sen­de­stu­dio ins pracht­vol­le Deut­sche Thea­ter zu Mün­chen ver­legt und zu allem Übel mode­riert durch den per­so­ni­fi­zier­ten Sprech­durch­fall Sabi­ne Sau­er, zeich­ne­ten sich samt und son­ders durch musi­ka­li­sche Grau­sam­keit und inhalt­li­che Belang­lo­sig­keit aus. ‘Wo warst Du, als ich starb?’, die­se von einem Frank Dani­els (wer?) gestell­te Fra­ge konn­te stell­ver­tre­tend für den dahin­sie­chen­den deut­schen Schla­ger ste­hen. Und aus Sicht der Zuschauer:innen beant­wor­tet wer­den mit: zu Hau­se, vor dem TV-Gerät. Und das gewis­ser­ma­ßen am Vor­abend des für den 1. April 1984 ter­mi­nier­ten Sen­de­starts des vom dama­li­gen Bun­des­kanz­ler und Leo-Kirch-Spezl Hel­mut Kohl (CDU) mit aller Macht durch­ge­drück­ten Pri­vat­fern­se­hens sogar noch in durch­aus beein­dru­cken­der Zahl. Das soll­te frei­lich nicht mehr all­zu lan­ge so blei­ben, und nach die­sem Offen­ba­rungs­eid der öffent­lich-recht­li­chen TV-Unter­hal­tung ver­wun­dert der mas­si­ve Publi­kums­schwund der Fol­ge­jah­re nicht.

Ob das ein unter­halt­sa­mer Euro­vi­si­ons­abend war? Oh, i woaß net! (Play­list mit acht als Clip ver­füg­ba­ren Vide­os zum Durchskippen).

Außer der baju­wa­ri­schen Schmu­se­schla­ger-Kapel­le Relax, einem falsch eti­ket­tier­ten Rest­pos­ten vom Grab­bel­tisch der mitt­ler­wei­le zu Tode gerit­te­nen Neu­en Deut­schen Wel­le, sowie der qua­si unver­meid­li­chen Schla­ger­alt­last Bern­hard Brink fand sich kein bekann­ter Name dar­un­ter; die Sen­dung ent­pupp­te sich als bedrü­cken­der Auf­marsch der Chan­cen­lo­sen und Verlierer:innen der Popre­vo­lu­ti­on. Noch erschüt­tern­der erscheint die Lage, bezieht man die zwölf Titel mit ein, die es aus den angeb­lich knapp tau­send ein­ge­sand­ten Lied­vor­schlä­gen nur bis in die Radio-Vor­run­de schaff­ten. Da fin­det sich neben den lei­der drei Jah­re zu spät kom­men­den NDW-Nach­läu­fern wie ‘Der schöns­te Mann’ von Buddy’s Kolon­ne oder ‘Ich fahr so ger­ne Lift’ von Klein & Krä­mer (übri­gens bei­de bei Ralph Sie­gels Jupi­ter Records ver­legt) sowie dem ent­spannt groo­ven­den Qua­li­täts­elek­tro­pop­stück ‘Digi­tal’ des heu­te als Model, Foto­graf und Musik­pro­du­zent auf Tene­rif­fa arbei­ten­den Chris­ti­an Bueh­ner näm­lich auch schon eine ers­te apo­ka­lyp­ti­sche Vor­rei­te­rin der in den Neun­zi­gern so rich­tig aus­bre­chen­den volks­tüm­li­chen Schla­ger­höl­le, hier in Gestalt der noch blut­jun­gen, noto­ri­schen Kris­ti­na Bach, die den durch Prot­ago­nis­tin­nen wie sie beför­der­ten Zustand der abso­lu­ten Hoff­nungs­lo­sig­keit (‘Wenn es kein Licht mehr gibt’) auch noch besang.

Im Vor­feld aus­sor­tiert: Bud­dys Eigen­lob-Hym­ne (plus sie­ben der aus­ge­schie­de­nen Songs, als Audio).

In die Show schaff­te es statt­des­sen der eben­falls im Volks­tü­meln­den behei­ma­te­te Hel­mut Frey, beim Vor­ent­scheid 1991 dann ein Sechs­tel von Atlan­tis 2000, dem zu mei­ner völ­li­gen Fas­sungs­lo­sig­keit der ver­gnügt mit dem Key­tar auf der Büh­ne ste­hen­de Die­ter Boh­len die Melo­die bei­steu­er­te. Und die klang kei­nes­wegs nach Modern Tal­king, son­dern nach den Flip­pers! ‘Hier ist einer zuviel’: das sah sicher­lich auch Ralph Sie­gel so. Mr. Grand Prix, der sei­nen künst­le­ri­schen Zenit nach einer beein­dru­cken­den Rei­he essen­ti­el­ler Bei­trä­ge zum deut­schen Schla­ger­schaf­fen (‘Fies­ta Mexi­ca­na’, ‘Du kannst nicht immer 17 sein’‘Mos­kau’) nun defi­ni­tiv über­schrit­ten hat­te, been­de­te sei­ne Karenz­zeit und schick­te einen äußerst spre­chen­den Titel ins Ren­nen: den ‘Tin­gel Tan­gel Mann’, dar­ge­bo­ten von einer beim Live­auf­tritt eher ver­ängs­tigt als ver­gnügt aus­se­hen­den Retor­ten­for­ma­ti­on namens Harm­o­ny Four, von der man anschlie­ßend nie wie­der etwas hör­te. Wobei: 1999 recy­cel­te der Kom­po­nist die B‑Seite ihrer Sin­gle mit dem Titel ‘Wo geht die Rei­se hin?’ und beant­wor­te­te die Fra­ge mit ‘…nach Jeru­sa­lem’. Doch bereits nach einem Jahr Pau­se zeig­ten sich die 500 wahl­be­rech­tig­ten Zuschauer:innen ent­wöhnt. Sie ver­sag­ten bei der Vor­ent­schei­dungs­tra­di­ti­on Mit Brief und Sie­gel und wähl­ten die uner­träg­li­che Num­mer nur auf den drit­ten Rang. Die­ser Feh­ler soll­te dem Mün­che­ner Fließ­band­kom­po­nis­ten so schnell nicht mehr unterlaufen.

Die Gedan­ken sind Staats­ei­gen­tum”: da stimmt der deut­sche “Ver­fas­sungs­schutz” sicher begeis­tert zu!

Neben wei­te­ren völ­lig Unbe­kann­ten wie der Sizi­lia­ne­rin Gior­gia Lau­da oder der heu­te auch als Life­coach arbei­ten­den Cho­ris­tin Made­lei­ne Lang sorg­te die Kurz­zeit­for­ma­ti­on Pas de Bas zumin­dest für opti­sches Amü­se­ment: zusätz­lich zu einer als Dis­count­ver­si­on von Kim Wil­de zurecht­ge­schmink­ten Sän­ge­rin ver­such­te sich eine namens­ge­ben­de ‘Pri­ma­bal­le­ri­na’ dar­an, eini­ge Tanz­sze­nen aus dem popu­lä­ren Strei­fen ‘Flash­dance’ nach­zu­stel­len. Einen Hauch von Zeit­geist brach­te die New-Wave-Band Moni­tor in die Ver­an­stal­tung: pas­send zum Orwell-Jahr 1984 nahm sie sich mit ‘Mensch aus Glas’ dem The­ma Über­wa­chungs­staat an und ver­pack­te ihren aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve als sehe­risch zu bezeich­nen­den Lied­text in irgend­wo zwi­schen Kraft­werk und Alpha­ville oszil­lie­ren­den Syn­the­si­zer-Melo­dien. Nur, dass man auf die Aus­sa­ge des Songs gar nicht rich­tig ach­te­te, weil man von dem nied­li­chen Sil­ber­blick des Lead­sän­gers so abge­lenkt wur­de. 1985 schaff­ten sie es mit dem deut­lich schwä­che­ren ‘Uto­pia’ dann nicht über die Radio­vor­run­de hin­aus. Scha­de, denn von die­sem Kali­ber hät­te man sich mehr gewünscht beim deut­schen Vor­ent­scheid, wenn viel­leicht auch mit einer etwas zwin­gen­de­ren Hookline.

Mein Vor­bild: Mary geht auf­recht durch die Dun­kel­heit ins Licht . Sehr süß übri­gens, wie sie nach der Sie­ges­ak­kla­ma­ti­on die ihr über­reich­ten Blu­men zum Trost ein­zeln an ihre unter­le­ge­nen Konkurrent:innen verteilte.

So rag­te als ein­zi­ge, um so strah­len­de­re Aus­nah­me allei­ne der Sie­ger­ti­tel die­ser Vor­ent­schei­dung hell leuch­tend aus dem Sumpf des Grau­ens her­vor: Mary Roos‘Auf­recht gehn’. Ein star­ker Eman­zi­pa­ti­ons­schla­ger über eine Frau, die sich nach einer geschei­ter­ten Bezie­hung selbst wie­der aus den Nie­de­run­gen der Trau­er her­aus­zieht: berüh­rend, Mut machend und von Mary im schwarz-roten Pünkt­chen­kleid über­zeu­gend vor­ge­tra­gen. Die­ses Lied hat zudem für immer einen beson­de­ren Platz in mei­nem Her­zen, weil es nicht nur als Trost­spen­der für Tren­nungs­ge­schä­dig­te funk­tio­niert, son­dern auch als Kraft geben­de schwu­le Hym­ne. ‘Auf­recht gehn’ führ­te mich als damals Sech­zehn­jäh­ri­gen – zu einer Zeit, als Schwu­le in den Medi­en noch aus­schließ­lich als Kin­der­schän­der oder Gewalt­op­fer vor­ka­men und es noch kei­ne kar­ne­val­esken CSDs oder offen schwu­le Außen­mi­nis­ter gab – mit sei­nen herz­er­wär­men­den Durch­hal­te­pa­ro­len (“Mit Stolz in mei­nen Augen / Und trotz Trä­nen im Gesicht / Auf­recht gehn durch die Nacht ins Licht”) durch die Irrun­gen und Wir­run­gen der ers­ten Coming-Out-Pha­se und gab mir auch in Zei­ten der Ver­zweif­lung (“Noch klingt auch mein Lachen etwas schrill / Noch sind in mei­ner See­le Split­ter / Noch sehe ich kein Ziel / Jedoch, ich will”) Halt und Mut.

Sabi­ne Sau­er sab­bel­te sich die Zun­ge wund bei ‘Ein Lied für Luxem­burg’ (gan­ze Show).

Gemein­sam mit den Songs von Bron­ski Beat (‘Small­town Boy’, ‘Why’) gehör­te ‘Auf­recht gehn’ somit zum Lab­sal spen­den­den Sound­track mei­ner Jugend, wes­we­gen er mei­nem klei­nen Euro­vi­si­ons­spiel­platz auch sei­nen Namen geben durf­te. Und ich sage an die­ser Stel­le auf­rech­ten Her­zens: Dan­ke, Mary!

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1984

Ein Lied für Luxem­burg. Sams­tag, 29. März 1984, aus dem Deut­schen Thea­ter in Mün­chen. 12 Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Sabi­ne Sau­er. Demo­sko­pi­sche Befragung.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Cosi + RelaxOh, I woas net294909-
02Jür­gen RenfordtAls die Erde war geboren350508-
03Harm­o­ny FourTin­gel Tan­gel Mann385203-
04Made­lei­ne LangHalt mich fest267411-
05Hel­mut FreyHier ist einer zuviel307207-
06Gior­gia LaudaJeder muß sein Leben leben335006-
07Frank Dani­elsWo warst Du, als ich starb266910-
08Mary RoosAuf­recht gehn41240156
09Pas de BasPri­ma­bal­le­ri­na259912-
10Moni­torMensch aus Glas375404-
11Anne-Karin Mey­erNie­mand366905-
12Bern­hard BrinkLie­be ist…400302-

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5 Comments

  • Aufrechtgehn.de Inter­es­san­te und schö­ne Erläu­te­rung zum Titel die­ses für ESCler unaus­weich­li­chen Blogs ! 🙂

  • Also dass Ralph Sie­gel “Grie­chi­scher Wein” kom­po­niert haben soll, ist mir neu. Ich den­ke, Herr Jür­gens hät­te etwas gegen die­se Behauptung!!!!

  • Dan­ke, bidel­de­bin­ka! Du hast natür­lich recht, er hat’s nicht kom­po­niert – das war in der Tat Herr Jür­gens hims­elf – son­dern pro­du­ziert. Vie­len Dank für den Hinweis.

  • Musi­ka­li­sche Grau­sam­keit”? Das sah der BR aber anders: 

    Die Titel sol­len in die­sem Jahr auch neue Trends wider­spie­geln. So fan­den sich auf der Lis­te der letz­ten 24 Bewer­ber auch Grup­pen wie “Franz K.” mit dem fre­chen Song “Rock ’n’ Roll im Bun­des­tag” und die “Hen­ry Cad­dy Band” mit “Jeder Tag ver­geht so schnell”. Damit woll­te man dem Ruf ent­ge­gen­ar­bei­ten, nur Opas Hit­pa­ra­de zu sein.” (Quel­le: Fern­seh­zei­tung vom 29.03.1984)

  • Neue Trends” ist natür­lich sehr, sehr lus­tig: Rock’n’Roll war ja viel­leicht mal in den Fünf­zi­gern “neu und frech”. In den Acht­zi­gern war das schon klas­si­sche Spie­ßer­mu­sik (vgl. Bade­salz ‘Die Gaby und ich’). Dass der BR sich damit als am Puls der Zeit prä­sen­tie­ren woll­te, illus­triert ja um so schö­ner das Problem. 🙂

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