
Ein besonderer Zweikampf spielte sich ab bei der deutschen Vorentscheidung des Jahres 1985; einer, der das ganze unfassbare Elend der Veranstaltung vortrefflich illustriert. Der Kampf der Giganten lautete nämlich Ralph Siegel versus Hanne Haller (DVE 1979). Der Grand-Prix-Junkie und die gefühlssehnsüchtige Schranklesbe traten als Komponisten und Produzenten jeweils mit gleich drei (Haller) bzw. zwei (Siegel) Acts an, die allesamt nicht weniger repräsentativ für die deutsche Musikszene hätten sein können. Auf Seiten der Interpret/innen fehlten bekannte Namen vollständig, bis auf das Schlagerfossil Bernd Clüver (DVE 1983) dessen Darm-‘Wind von Palermo’ schlichtweg stank.
Bernd Clüver: Ich hätte gerne die selben Drogen wie der Drummer!
Auch Siegel konnte nur noch Nobodys aufbieten, so wie die nach Eigenaussage “wie die Jungfrau zum Kind” gekommene Caro Pukke, die im “Gonzo”-Outfit (Eigenzitat) den rundweg armseligen Ökoschlager ‘Grün, grün, grün’ massakrierte. Ganz offensichtlich mied mittlerweile ein/e jede/r in geradezu panischer Angst den Grand Prix, der als Komponist/in oder Künstler/in noch einen Rest an Reputation besaß. Um den Umstand, dass es sich um eine reine Amateurveranstaltung handelte, etwas zu bemänteln, engagierte die ARD zwölf ehemalige Grand-Prix-Teilnehmer/innen als prominente “Paten” für die Songs, die ihre Laudatio jeweils stockend vom Blatt ablasen. Was immer noch unterhaltsamer war als das auf Rollschuhen durch das Deutsche Theater sausende (da war der Bayerische Rundfunk dem Trend immerhin nur fünf Jahre hinterher), dennoch unglaublich steife Moderatorenpaar Margit & Wolfgang (wer?).
“Schreckliche Jugendsünde”: Caroline Pukke, heute Mitinhaberin einer Telefonmarketingagentur, über ihren Auftritt
Einen Song im Rennen hatte das lesbische Musikerinnenpaar Cornelia von dem Bottlenberg und Swetlana Minkow, die in den Vorjahren unter dem Bandnamen Cora mit den fragilen Liebesliedern ‘Istanbul’ (einem meiner All-Time-Favorites) und ‘Amsterdam’ das deutsche Popgeschehen um zwei wunderschön melancholische Stücke bereichert hatten, wenngleich ihnen lediglich mit ‘Amsterdam’ ein kleinerer Hit in Frankreich (#22) gelang. Für ein Lesbenpaar auf der Bühne war der BR aber zu homophob, und so mussten sie ihren Titel ‘Du bist da’ dem Heteroduo Conny & Jean (wer?) anvertrauen, das einen als Zuschauer nicht nur optisch nötigte, die Augen drei Minuten lang bedeckt zu halten, sondern das (allerdings wenig mitreißende) Lied auch gesanglich voll gegen die Wand fuhr.
Beim Vorentscheid 1985 griff der BR thematisch die Nähe des Grand Prix Eurovision zum Autorennen auf. Passend, denn musikalisch folgte ein Carcrash auf den nächsten
Ralph Siegel schickte mit Heike Schäfer und ihren ‘Glocken von Rom’ eine junge Sängerin, die zwar höher kreischen konnte als Céline Dion (CH 1988) und Mariah Carey zusammen und die eine dermaßen grandiose Vier-Dosen-Elnett-pro-Tag-Dauerwelle vorführte, dass selbst C. C. Catch sicherlich vor Neid zerplatzte. Die aber dennoch eine derartig schlimme Provinzspießigkeit ausstrahlte, wie sie ihr “Künstlername” nicht treffender hätte zum Ausdruck bringen können. Ihr überraschenderweise nicht von Cicciolinas politischen Waffen, sondern vom Kirchengeläut in der den Vatikan umgebenden Metropole handelndes Lied erwies sich als die mit Abstand bombastischste, süßlich-kitschigste und pathetischste Weltfriedenshymne (“Und jeder Ton ist ganz verschieden, doch alle schlagen für den Frieden”), die das Team Siegel & Meinunger jemals komponierte. Planten die beiden, sich mit der Nummer für die Heiligsprechung durch den Papst zu bewerben?
“Der Glocken von Rom von Ralph Sieger” (S. Malmkvist)
Erstaunlicherweise aber konnte Hanne Hallers Retortencombo Wind (DE 1987, 1992, DVE 1998, 1999) mit ihrem suppigen Schlagerlein ‘Für alle’ die sehr siegesgewisse Frau Schäfer bei der Stimmenauszählung mit hauchdünnem Vorsprung von der Bühne wehen. Hannes Titelversprechen entpuppte sich als glatte Lüge, denn der Song wollte gar nicht “Für alle” sein, sondern nur für die, “die den Regenbogen auch im Dunkeln sehn”, also unter Drogen stehen. Die man auch brauchte, um das windige Traumgesäusel zu überleben. Letztlich machte es kaum einen Unterschied: das Lied klang wie eines aus der Siegel-Kollektion und der (später ausgetauschte) Wind-Frontmann Rainer Höglmeier sang dergestalt mädchenhaft hoch, dass er es fast mit Heike Schäfer aufnehmen konnte. Weniger Rouge als sie trug er auch nicht.
Schau mir in die Augen, Kleiner: Wind
Lange Zeit glaubte ich fest, Höglmeier mime lediglich zum Playback und die Stimme sei in Wahrheit die seiner Produzentin. Die auch zugab, dass ihr der Song erst einen Tag vor Abgabeschluss eingefallen sei und sie ihn in Windeseile (daher der Bandname?) im Studio einspielen musste. Vor lauter Hektik verlor dann die zweite Leadsängerin Petra Scheeser auch noch einen ihrer beiden Handschuhe: es war zum Weinen, und Haller tat das auch, vor Rührung und Glück, dass ihr laues Lüftchen es geschafft hatte. Allerdings: ein Erfolgstitel kam dabei heraus – zweiter Platz in Göteborg, Rang 18 in den Charts und sogar #22 in der schwedischen Hitparade!
Mit zielgruppengerechtem Video: Agnetha Fältskog (Abba, SE 1974) landete 1985 mit ‘I won’t let you go’ einen kleinen Hit in Deutschland
Deutsche Vorentscheidung 1985
Ein Lied für Göteburg. Samstag, 21. März 1985, aus dem Deutschen Theater in München. 12 Teilnehmer, Moderation: Margit Geissler und Wolfgang Mascher.# | Interpret | Titel | Punkte | Platz | Charts |
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01 | Jürgen Renfordt | Am Anfang der Zeit | 3073 | 09 | - |
02 | Susan Schubert | Sehnsucht nach einem Gefühl | 2994 | 10 | - |
03 | Conny & Jean | Du bist da | 2982 | 11 | - |
04 | Wolff Gerhard | Also lebe ich | 3572 | 03 | - |
05 | Wind | Für alle | 3618 | 01 | 18 |
06 | Heike Schäfer | Die Glocken von Rom | 3597 | 02 | 25 |
07 | MoMo | Solange wir träumen, leben wir | 2971 | 12 | - |
08 | Silvia | König und Dame | 3113 | 08 | - |
09 | Günter Stern | Hier, da und überall | 3291 | 06 | - |
10 | Danny Fischer | Kinder der Erde | 3220 | 07 | - |
11 | Caro Pukke | Grün, grün, grün | 3535 | 04 | - |
12 | Bernd Clüver | Der Wind von Palermo | 3424 | 05 | - |
Uff. Damals hab ich ja tatsächlich noch VEs geschaut. Warum eigentlich? Das hier war Pein, Pein, Pein, und ja, man hat es damals tatsächlich geschafft, den besten Song rauszupicken. Nicht auszudenken, wenn die im Vorfeld so hochgejazzte (warum?? Warum???) Heike Schäfer das Ticket nach Göteborg gelöst hätte… Grausam. Über den Rest breiten wir mal den Mantel des Schweigens, vor allem über die Moderation. Die würde ich normalerweise schmähen, aber die beiden Antagonisten sind ja mittlerweile beide tot, also lassen wir das lieber.
Weiterhin erwähnenswert: Wie dem Gitarristen von Momo im Schnelldurchlauf beim Verbeugen die Gitarre auf den Boden donnert (im Video bei 1:12:15). Bei Wind ist im Schnelldurchlauf einer zu wenig im bzw neben dem Sulky. Und heißt Danny Fischer mit bürgerlichem Namen hintenrum Rummenigge? Aber der beste, beste, beste Moment der gesamten Show: Als am Schluss Heike Schäfers Ergebnis gesagt wird und klar ist, dass sie nicht gewonnen hat. Ralph Siegels Gesicht in dem Moment: Unbezahlbar!
Eigentlich muss man es nicht gesehen haben – doch, muss man. Es gab da nämlich was Besonderes, nämlich den Pausenact! Dass die Paten alle bisher dagewesenen Beiträge ansangen: Großartig. Das ganze wurde zwar von holprigen Ansagen perforiert, aber geschenkt. Auffällig übrigens, dass die Damen Myhre, Malmkvist und Valaitis dabei den Rest ziemlich alt aussehen ließen. Sowas hätte ich gern mal wieder – in Skandinavien gehts doch auch!