Der Schmerz der ganzen Welt
Das irische Jahrzehnt
Plötzlich blieben die Zuschauer:innen weg. Erzielte der Grand Prix in den vorangegangenen Dekaden – auch mangels Konkurrenz – noch Einschaltquoten von über 50%, so nutzten die Menschen nun lieber die Unterhaltungsangebote der wie Pilze aus dem Boden sprießenden neuen Privatsender. Oder schoben eine Videokassette ins VHS-Gerät. Auch die Presse nahm immer weniger Notiz vom sündteuren jährlichen Wettbewerb: selbst den Programmzeitschriften war das Event kaum noch einen Hinweis wert. Was nicht weiter Wunder nimmt, verkam die einstmals relevante Popshow doch nun vollends zu einem obskuren TV-Spektakel mit peinlichen Protagonist:innen, das man allenfalls noch schaute, um sich darüber lustig zu machen. Und zwar selbst von offizieller Seite: 1989 ließ die ARD einen spöttelnden Thomas Gottschalk die Live-Übertragung kommentieren, der bei dieser Gelegenheit der schweizerischen Vorjahressiegerin Céline Dion attestierte, man werde wohl nie wieder was von ihr hören. Der Umgang des seinerzeit verantwortlichen Bayerischen Rundfunks mit dem deutschen Vorentscheid belegte die Ideen- und Ratlosigkeit der Öffentlich-Rechtlichen gegenüber den veränderten Rahmenbedingungen: zunächst überließ man in sturer Schlagerseligkeit Ralph Siegel konkurrenzlos das Feld. Es folgten zaghafte Innovationsversuche mit einem herumblödelnden Hape Kerkeling als Moderator, die jedoch auch nicht den gewünschten Erfolg brachten. Schließlich gab die ARD ganz auf und nahm in völliger Verzweiflung schlichtweg jeden, der überhaupt noch wollte. Vergleicht man das Eurovisionsaufgebot dieser Dekade mit den Verkaufscharts, zeichnet sich die Hoffnungslosigkeit in erschreckenden Deutlichkeit ab.
Avanti Dilettanti: Deutschlands Untergang (DE 1991).
’1990s: Time for Guru’, so eröffnete beispielsweise in vermutlich durch die Einnahme berauschender Substanzen hervorgerufener Selbstüberschätzung der britische Acid-Popper Guru Josh das neue Jahrzehnt. Daheim brach das Frankfurter Danceprojekt Snap! mit ‘The Power’ auf, die Hitlisten für die nächsten zehn Jahre zu regieren. Kurzum: die Neunziger waren die goldene Dekade von House, Techno, Eurodance und anderer Spielarten der elektronischen Tanzmusik. Deutsche Chartstürmer hießen Culture Beat, Jam & Spoon, U96, Scooter – und sangen englisch, was beim Grand Prix nach wie vor nicht erlaubt war. Doch auch deutschsprachiger Hip-Hop (Fanta 4, Rödelheim Hartreim Projekt, Sabrina Setlur), Ostpop (Die Prinzen) oder martialischer Goth-Rock (Rammstein) verkaufte sich blendend. Eines jedoch einigte die Protagonist:innen all dieser Fraktionen: die Teilnahme an der deutschen Vorauswahl kam für sie nicht in Frage. Lächerlich, unwichtig, vorgestrig, vollkommen ohne Bezug zum aktuellen Musikgeschehen und fernab sämtlicher Hitparaden präsentierte sich der Grand Prix. Karriereschädigend, in Zusammenhang mit ihm gebracht zu werden. Hier verschwanden einstmals erfolgreiche Hasbeens wie die Münchener Freiheit für immer in der Versenkung und tauchten Neverbeens wie Mekado erst gar nicht daraus hervor.
Ohne Konkurrenz: The three Liebchens from Germany (DE 1994).
So zog sich die zeitweilig nur noch aus gelangweilten Retortenacts und hoffnungslosen Amateur:innen bestehende Show beleidigt nach Irland zurück, wo es wenigstens anständig was zum Saufen gab, um die schlimmen Lieder besser ertragen zu können: die katholische Insel siegte in dieser Dekade fast ununterbrochen. Was auch damit zu tun hatte, dass die Iren neben den Briten (und den Maltesern) als einzige in der Sprache des Pop, Englisch, singen durften. Vor allem aber war es ihrer legendären Gastfreundschaft geschuldet: hier campierte der Grand-Prix-Zirkus gerne und bis zur völligen finanziellen Erschöpfung der so stolzen wie arglosen Gastgeber:innen. Doch ‘Wunder gibt es immer wieder’, und als Folge der politischen Umbrüche konnten sie gescheh’n: die nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums neu zu Europa gestoßenen ehemaligen Ostblockländer, über deren Abstimmungsverhalten wir heute so gerne verblendet lamentieren, taten das Unmögliche und nahmen den vom Westen mental längst abgeschriebenen Wettbewerb wieder ernst! Sie entsandten technisch erstklassige Sängerinnen wie die Polin Edyta Górniak, überregional namhafte Stars wie die Russin Alla Pugatschowa und Songs mit inhaltlichem Tiefgang wie Bosniens Balkankriegsballade ‘Sva Bol svijeta’ (‘Der Schmerz der ganzen Welt’) und sorgten so für die lebenserhaltende kulturelle Atemspende an die beinahe schon erstarrte Leiche Grand Prix.
Niemand leidet so schön wie die Bosnier™ (BA 1993).
Stand: 20.06.2020