Ein Lied für Brüs­sel 1987: Geh ins Licht, Carol-Anne

Wind, DE 1987
Die Son­ni­gen

In die­sem Jahr dege­ne­rier­te die deut­sche Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung voll­ends zu einem ein­zi­gen Ralph-Sie­gel-Fest­spiel. Knapp die Hälf­te aller vor­ge­stell­ten Titel, näm­lich fünf vor von zwölf, stamm­ten aus sei­ner Feder. Ent­we­der hat­te der Mün­che­ner Fließ­band­kom­po­nist die Vor­auswahl­ju­rys geschickt durch ihm höri­ge Men­schen unter­wan­dern las­sen – oder, und das erscheint mir wahr­schein­li­cher, es woll­te außer ihm tat­säch­lich nie­mand mehr mit dem Grand Prix in Ver­bin­dung gebracht wer­den. Nach dem es im Vor­jahr kei­ne Radio-Vor­run­de gab, muss­ten die Zuhörer:innen der ARD-Schla­ger­wel­len dies­mal wie­der 20 Songs über sich erge­hen las­sen. Doch von der Flut an Sie­gel-Titeln wie­sen auch sie nur den ‘Sonn­tag, Sonn­tag’ von Hei­ke Schä­fer zurück. Sowie eine nach­denk­li­che Bezie­hungs­bal­la­de namens ‘Lass mich am Leben’ aus der Feder des nord­deut­schen Lie­der­ma­chers Jan Haar­mey­er. Der hat­te, wie er unlängst in der PED-Sprech­stun­de bei Dr. Euro­vi­si­on erzähl­te, davon eine Demo­ver­si­on beim Baye­ri­schen Rund­funk in Mün­chen ein­ge­reicht. Und erhielt kurz dar­auf zu sei­nem Erstau­nen einen Anruf des eben­falls in der baye­ri­schen Metro­po­le resi­die­ren­den Ralph Sie­gel, ob er das Lied nicht mit ihm pro­du­zie­ren wol­le. Da Jan kei­ne Lust hat­te, sich den gleich­zei­tig vor­ge­brach­ten Gestal­tungs­vor­schrif­ten (“wei­ßer Frack, am Kla­vier”) zu unter­wer­fen, wur­de aus der Zusam­men­ar­beit nichts. Eben­so wenig wie aus Jans Final­teil­nah­me. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Dem Baye­ri­schen Rund­funk schien das Gan­ze so pein­lich zu sein, dass er die Show aus dem ange­stamm­ten Mün­che­ner Sen­de­stu­dio in die unge­lieb­te frän­ki­sche Pro­vinz abschob: der Vor­ent­scheid 1987 aus Nürmberch. 

Um den künst­le­ri­schen Bank­rott vor den Fernsehzuschauer:innen so gut es ging zu ver­ber­gen, nötig­te man Sie­gel, wenigs­tens für sei­ne schreck­lichs­ten Songs Pseud­ony­me zu wäh­len. Und so kün­dig­te Mode­ra­tor Chris­toph Deum­ling bei­spiels­wei­se die Depres­si­ons­num­mer Lie­der Träu­me tun weh’ von San­dy Derix (wer?) unter dem frei erfun­de­nen Kom­po­nis­ten­na­men “Claus-Peter Bobard” an. Bei der Flut sei­ner Bei­trä­ge stand für die Ein­zel­nen zudem nicht mehr so viel Bud­get zur Ver­fü­gung: der armen San­dy hat­te Onkel Ralph die Gar­de­ro­ben­spe­sen so stark gekürzt, dass es nur für einen ein­zel­nen Ohr­ring reich­te, was doch sehr irri­tier­te. Sie­gel ver­sorg­te aus­ge­rech­net die bei­den ein­zi­gen leid­lich bekann­ten Inter­pre­ten die­ses Abends nicht mit sei­nen musi­ka­li­schen Wür­fen: der noto­ri­sche und stets erfolg­lo­se Vor­ent­scheid-Stamm­gast Bern­hard Brink, Deutsch­lands bekann­tes­te Pudel­fri­sur, hat­te mit dem hör­bar für Roland Kai­ser kom­po­nier­ten Dis­co­schla­ger ‘So bin ich ohne dich’ den stärks­ten (im Sin­ne von: am wenigs­ten schwa­chen) Titel sei­ner ins­ge­samt sechs Teil­nah­men am Start. Micha­el Hoff­mann, der über­le­ben­de Teil des Duos Hoff­mann & Hoff­mann und Kom­po­nist zahl­rei­cher Italo­schla­ger sowie des ita­lie­ni­schen Euro­vi­si­ons­bei­trags von 1985, stemm­te sei­nem seit­he­ri­gen Miss­erfolg als Sän­ger ein trot­zi­ges ‘Ich geb nicht auf’ ent­ge­gen. Umsonst.

Dafür krieg ich am Mon­tag Prü­gel in der Berufs­schu­le,” scheint Helen Chris­tie zu den­ken (plus Play­list mit den ver­füg­ba­ren Bei­trä­gen zum Durchskippen).

Um Sie­gel das Feld nicht ganz allei­ne zu über­las­sen und die Start­plät­ze trotz­dem voll­zu­krie­gen, durf­te der aus dem hes­si­schen Tau­nus­dörf­chen Neu-Anspach stam­men­de und mit einer apar­ten Nik-Kers­haw-Igel­fri­sur aus­ge­stat­te­te Bernd Schütz mit gleich zwei Kom­po­si­tio­nen antre­ten. Sei­ne höchst­per­sön­lich vor­ge­tra­ge­nen ‘Visio­nen der Nacht’, bei denen es sich ganz pro­fan um Wix­fan­ta­sien han­del­te, lan­de­ten auf Rang 10. Der von einer Elvi­stol­len­for­ma­ti­on mit dem gene­ri­schen Pseud­onym New Gene­ra­ti­on prä­sen­tier­te Rocka­bil­ly­schla­ger ‘Viel zu schön’, des­sen Inhalt man unter dem Rubrum “sexis­ti­scher Kack­scheiß” zusam­men­fas­sen kann, gewann auf­grund der kla­ren Domi­nanz der Old Gene­ra­ti­on im Publi­kum zwar die per Applaus­mes­sung durch­ge­führ­te Saal­ab­stim­mung, kas­sier­te jedoch im Infra­test-Voting die rote Later­ne. Und zwar zu Recht. Kau­fen woll­te das Zeugs auch nie­mand. Kein Wun­der: 1987 galt Deutsch als der­ma­ßen toxisch belas­tet, dass sich unter den Top 50 der Jah­res­charts ledig­lich zwei hei­mat­sprach­li­che Lie­der fan­den. Näm­lich der Blö­del­schla­ger ‘Guten Mor­gen, lie­be Sor­gen’ sowie die in ihrer rau­en Unge­lenk­heit zu Her­zen gehen­de Dekla­ra­ti­on ‘Ich lie­be Dich’ der Ham­bur­ger For­ma­ti­on Clowns & Hel­den, die im Jah­re 2000 den Vor­ent­scheid um das schö­ne Stück ‘Flie­gen’ berei­cher­te. Der Schüt­zen­bernd cover­te für­der­hin lie­ber eng­lisch­spra­chi­ge Hits der Sieb­zi­ger und fand sein Aus­kom­men als Teil einer “pro­fes­sio­nel­len, aber durch­aus bezahl­ba­ren Live-Band” für Straßenfeste.

War­um damals nie­mand mehr deut­schen Schla­ger hören woll­te? Nun, die in der Radio­vor­run­de raus­ge­flo­ge­nen Titel (Audio-Play­list) beant­wor­ten dies.

Wir blei­ben in Hes­sen: ihr Vor­ent­schei­dungs­de­büt fei­er­te die aus dem Bau­ern­kaff Nid­der­au-Ost­heim in der Wet­ter­au stam­men­de, damals blut­jun­ge Katha­ri­na Mehr­ling, hier unter dem Büh­nen­na­men Cas­sy, den sie für eine wei­te­re Vor­ent­schei­dungs­teil­nah­me im Jah­re 1991 noch um den erfun­de­nen Vor­na­men Bar­ba­ra ergänz­te. Inter­es­san­ter­wei­se erwähnt die heu­ti­ge Musi­cal­sän­ge­rin in ihrer aus­ge­spro­che­nen blu­men- und umfang­rei­chen Bio­gra­fie (“Inter­na­tio­na­les Auf­se­hen erreg­te ihre Ver­kör­pe­rung von Edith Piaf in drei ver­schie­de­nen Thea­ter­in­sze­nie­run­gen”), die sich in wei­ten Tei­len wort­gleich in ihrem Wiki­pe­dia-Ein­trag wie­der­fin­det und die sonst jeden noch so klei­nen Gig in einer New Yor­ker Musik­knei­pe auf­lis­tet, bei­de TV-Auf­trit­te mit kei­ner Sil­be. Viel­leicht, weil sie bei bei­den Anläs­sen zu einer gewis­sen, nen­nen wir es mal: Über­per­for­manz neig­te? Das unter­schied sie wie­der­um von Helen Chris­tie (wer?), die ihre ‘Lie­der der Frei­heit’ mit einer auf­fal­len­den Teil­nahms­lo­sig­keit dar­bot. Gera­de so, als sei es ihr pein­lich, einen der­art abge­ranz­ten Schla­ger­schrott zu prä­sen­tie­ren. Dann gab es noch eine Deni­se (wer?), die ihre Zuhö­re­rin­nen­schaft schein­bar unter den Lese­rin­nen der ‘Frau im Spie­gel’ ver­mu­te­te. Das waren wohl zu weni­ge: Platz 4, wie schon 1982.

Jetzt wis­sen wir auch, wer 1985 Petra Scheesers zwei­ten Hand­schuh klau­te: Rouge waren’s!

Zwei Rän­ge tie­fer lan­de­te das Dis­co­pop-Duo Rouge, die nach dem Aus­stieg von San­dra (‘Maria Mag­da­le­na’) übrig geblie­be­nen Res­te der hier­zu­lan­de wenig beach­te­ten, dafür in Japan um so bekann­te­ren Girl­group Ara­bes­que. Ihrem neu­en Namen alle Ehre ver­lei­hend, tru­gen die Damen extrem viel Schmin­ke und ein gru­se­li­ges Ste­pford-Wives-Gefrier­lä­cheln zur Schau. Erfolg­reich schnitt hin­ge­gen die mit wehen­den Fah­nen von ihrer eins­ti­gen Erschaf­fe­rin Han­ne Hal­ler zu Mr. Grand Prix über­ge­lau­fe­ne Euro­vi­si­ons­re­tor­ten­ka­pel­le Wind ab. Offen­bar erin­ner­ten sich die Zuschauer:innen dar­an, dass die schon ein­mal einen zwei­ten Platz für Deutsch­land ersun­gen hat­ten und gaben ihnen ihr Pla­zet für ‘Lass die Son­ne in Dein Herz’, einen mehr als flau­en Abklatsch des an sich schon arg flau­en 1983er Som­mer­hits ‘Suns­hi­ne Reg­gae’ der däni­schen Band Laid Back. Wen hät­ten sie aus dem depri­mie­ren­den Feld grot­ti­ger Schlicht­schla­ger auch sonst wäh­len sol­len? Das (in der Halb­zeit­wer­tung noch füh­ren­de) Hanau­er Mut­ter-und-Toch­ter-Duo Maxi & Chris Gar­den mit dem brech­reiz­erre­gend ver­kitscht-ver­lo­ge­nen ‘Frie­den für die Ted­dy­bä­ren’ etwa? Ganz so ver­zwei­felt waren sie – noch – nicht!

Wenn der Sieg von Wind ein Schö­nes hat­te, dann die Art, wie Band­mit­glied Sami Kali­fa vor ehr­li­cher Freu­de wie ein mensch­li­cher Flum­mi durch das Stu­dio hüpfte.

Den ein­zi­gen unter­halt­sa­men Part des Abend – neben den durch die Bank fan­tas­ti­schen Haar­hel­men der Damen, die alle­samt kei­ne Angst vor einem Bom­ben­ha­gel haben brauch­ten: selbst die dicks­ten Geschos­se wären an ihren beton­hart sprüh­lackier­ten Fri­su­ren abge­prallt – lie­fer­te aller­dings der als Pau­sen­act gebuch­te, sei­ner­zeit noch jugend­lich-schlan­ke Hape Ker­ke­ling, selbst beken­nen­der Grand-Prix-Fan, der sich in einem gelun­ge­nen Sketch über den inter­es­san­tes­ten Part des Euro­vi­si­on Song Con­test lus­tig mach­te: die Punk­te­ver­ga­be. Er stell­te dabei nicht nur sei­ne enor­me Viel­spra­chig­keit unter Beweis, son­dern nahm auch das bereits unter der Allein­herr­schaft der Jurys bis zum Erbre­chen prak­ti­zier­te Nach­bar­schafts­vo­ting auf die Schip­pe, bei dem sich bei­spiels­wei­se die skan­di­na­vi­schen Län­der ger­ne gegen­sei­tig die Punk­te zuschanz­ten, wäh­rend Öster­reich den gro­ßen Bru­der – “da machen wir’s wie immer” – leer aus­ge­hen ließ. Einer­seits erfreu­lich, dass der BR so viel Humor bewies, ande­rer­seits scha­de, dass die ARD nicht statt­des­sen bei der EBU auf eine Ände­rung des Wer­tungs­ver­fah­rens und die Abschaf­fung der über­kom­me­nen Spra­chen­re­gel dräng­te, die den sünd­teu­ren Wett­be­werb immer wei­ter in die kul­tu­rel­le Bedeu­tungs­lo­sig­keit führ­ten. So blieb halt nur die Flucht in den Galgenhumor.

Fem Points” für Deutsch­land: Hape par­odiert die Punktesprecher.

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1987

Ein Lied für Brüs­sel. Sams­tag, 26. März 1987 aus der Fran­ken­hal­le in Nürn­berg. 12 Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Chris­toph Däum­ling. Demo­sko­pi­sche Umfrage.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Helen Chris­tieLie­der der Freiheit305908-
02Micha­el HoffmannIch geb nicht auf319005-
03RougeEiner von uns316606-
04WindLass die Son­ne in Dein Herz44450120
05San­dy DerixTräu­me tun weh290211-
06Bernd SchützVisio­nen in der Nacht292910-
07Michae­laDas Licht eines neu­en Morgens305409-
08Bern­hard BrinkSo bin ich ohne Dich335503-
09Maxi & Chris GardenFrie­den für die Teddybären43700269
10New Gene­ra­ti­onViel zu schön286412-
11Deni­seDie Frau im Spiegel332004-
12Cas­syAus312607-

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 25.04.2023

< Ein Lied für Ber­gen 1986

Ein Lied für Dub­lin 1988 >

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert