In diesem Jahr degenerierte die deutsche Eurovisionsvorentscheidung vollends zu einem einzigen Ralph-Siegel-Festspiel. Knapp die Hälfte aller vorgestellten Titel, nämlich fünf vor von zwölf, stammten aus seiner Feder. Entweder hatte der Münchener Fließbandkomponist die Vorauswahljurys geschickt durch ihm hörige Menschen unterwandern lassen – oder, und das erscheint mir wahrscheinlicher, es wollte außer ihm tatsächlich niemand mehr mit dem Grand Prix in Verbindung gebracht werden. Nach dem es im Vorjahr keine Radio-Vorrunde gab, mussten die Zuhörer:innen der ARD-Schlagerwellen diesmal wieder 20 Songs über sich ergehen lassen. Doch von der Flut an Siegel-Titeln wiesen auch sie nur den ‘Sonntag, Sonntag’ von Heike Schäfer zurück. Sowie eine nachdenkliche Beziehungsballade namens ‘Lass mich am Leben’ aus der Feder des norddeutschen Liedermachers Jan Haarmeyer. Der hatte, wie er unlängst in der PED-Sprechstunde bei Dr. Eurovision erzählte, davon eine Demoversion beim Bayerischen Rundfunk in München eingereicht. Und erhielt kurz darauf zu seinem Erstaunen einen Anruf des ebenfalls in der bayerischen Metropole residierenden Ralph Siegel, ob er das Lied nicht mit ihm produzieren wolle. Da Jan keine Lust hatte, sich den gleichzeitig vorgebrachten Gestaltungsvorschriften (“weißer Frack, am Klavier”) zu unterwerfen, wurde aus der Zusammenarbeit nichts. Ebenso wenig wie aus Jans Finalteilnahme. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Dem Bayerischen Rundfunk schien das Ganze so peinlich zu sein, dass er die Show aus dem angestammten Münchener Sendestudio in die ungeliebte fränkische Provinz abschob: der Vorentscheid 1987 aus Nürmberch.
Um den künstlerischen Bankrott vor den Fernsehzuschauer:innen so gut es ging zu verbergen, nötigte man Siegel, wenigstens für seine schrecklichsten Songs Pseudonyme zu wählen. Und so kündigte Moderator Christoph Deumling beispielsweise die Depressionsnummer ‘Lieder Träume tun weh’ von Sandy Derix (wer?) unter dem frei erfundenen Komponistennamen “Claus-Peter Bobard” an. Bei der Flut seiner Beiträge stand für die Einzelnen zudem nicht mehr so viel Budget zur Verfügung: der armen Sandy hatte Onkel Ralph die Garderobenspesen so stark gekürzt, dass es nur für einen einzelnen Ohrring reichte, was doch sehr irritierte. Siegel versorgte ausgerechnet die beiden einzigen leidlich bekannten Interpreten dieses Abends nicht mit seinen musikalischen Würfen: der notorische und stets erfolglose Vorentscheid-Stammgast Bernhard Brink, Deutschlands bekannteste Pudelfrisur, hatte mit dem hörbar für Roland Kaiser komponierten Discoschlager ‘So bin ich ohne dich’ den stärksten (im Sinne von: am wenigsten schwachen) Titel seiner insgesamt sechs Teilnahmen am Start. Michael Hoffmann, der überlebende Teil des Duos Hoffmann & Hoffmann und Komponist zahlreicher Italoschlager sowie des italienischen Eurovisionsbeitrags von 1985, stemmte seinem seitherigen Misserfolg als Sänger ein trotziges ‘Ich geb nicht auf’ entgegen. Umsonst.
“Dafür krieg ich am Montag Prügel in der Berufsschule,” scheint Helen Christie zu denken (plus Playlist mit den verfügbaren Beiträgen zum Durchskippen).
Um Siegel das Feld nicht ganz alleine zu überlassen und die Startplätze trotzdem vollzukriegen, durfte der aus dem hessischen Taunusdörfchen Neu-Anspach stammende und mit einer aparten Nik-Kershaw-Igelfrisur ausgestattete Bernd Schütz mit gleich zwei Kompositionen antreten. Seine höchstpersönlich vorgetragenen ‘Visionen der Nacht’, bei denen es sich ganz profan um Wixfantasien handelte, landeten auf Rang 10. Der von einer Elvistollenformation mit dem generischen Pseudonym New Generation präsentierte Rockabillyschlager ‘Viel zu schön’, dessen Inhalt man unter dem Rubrum “sexistischer Kackscheiß” zusammenfassen kann, gewann aufgrund der klaren Dominanz der Old Generation im Publikum zwar die per Applausmessung durchgeführte Saalabstimmung, kassierte jedoch im Infratest-Voting die rote Laterne. Und zwar zu Recht. Kaufen wollte das Zeugs auch niemand. Kein Wunder: 1987 galt Deutsch als dermaßen toxisch belastet, dass sich unter den Top 50 der Jahrescharts lediglich zwei heimatsprachliche Lieder fanden. Nämlich der Blödelschlager ‘Guten Morgen, liebe Sorgen’ sowie die in ihrer rauen Ungelenkheit zu Herzen gehende Deklaration ‘Ich liebe Dich’ der Hamburger Formation Clowns & Helden, die im Jahre 2000 den Vorentscheid um das schöne Stück ‘Fliegen’ bereicherte. Der Schützenbernd coverte fürderhin lieber englischsprachige Hits der Siebziger und fand sein Auskommen als Teil einer “professionellen, aber durchaus bezahlbaren Live-Band” für Straßenfeste.
Warum damals niemand mehr deutschen Schlager hören wollte? Nun, die in der Radiovorrunde rausgeflogenen Titel (Audio-Playlist) beantworten dies.
Wir bleiben in Hessen: ihr Vorentscheidungsdebüt feierte die aus dem Bauernkaff Nidderau-Ostheim in der Wetterau stammende, damals blutjunge Katharina Mehrling, hier unter dem Bühnennamen Cassy, den sie für eine weitere Vorentscheidungsteilnahme im Jahre 1991 noch um den erfundenen Vornamen Barbara ergänzte. Interessanterweise erwähnt die heutige Musicalsängerin in ihrer ausgesprochenen blumen- und umfangreichen Biografie (“Internationales Aufsehen erregte ihre Verkörperung von Edith Piaf in drei verschiedenen Theaterinszenierungen”), die sich in weiten Teilen wortgleich in ihrem Wikipedia-Eintrag wiederfindet und die sonst jeden noch so kleinen Gig in einer New Yorker Musikkneipe auflistet, beide TV-Auftritte mit keiner Silbe. Vielleicht, weil sie bei beiden Anlässen zu einer gewissen, nennen wir es mal: Überperformanz neigte? Das unterschied sie wiederum von Helen Christie (wer?), die ihre ‘Lieder der Freiheit’ mit einer auffallenden Teilnahmslosigkeit darbot. Gerade so, als sei es ihr peinlich, einen derart abgeranzten Schlagerschrott zu präsentieren. Dann gab es noch eine Denise (wer?), die ihre Zuhörerinnenschaft scheinbar unter den Leserinnen der ‘Frau im Spiegel’ vermutete. Das waren wohl zu wenige: Platz 4, wie schon 1982.
Jetzt wissen wir auch, wer 1985 Petra Scheesers zweiten Handschuh klaute: Rouge waren’s!
Zwei Ränge tiefer landete das Discopop-Duo Rouge, die nach dem Ausstieg von Sandra (‘Maria Magdalena’) übrig gebliebenen Reste der hierzulande wenig beachteten, dafür in Japan um so bekannteren Girlgroup Arabesque. Ihrem neuen Namen alle Ehre verleihend, trugen die Damen extrem viel Schminke und ein gruseliges Stepford-Wives-Gefrierlächeln zur Schau. Erfolgreich schnitt hingegen die mit wehenden Fahnen von ihrer einstigen Erschafferin Hanne Haller zu Mr. Grand Prix übergelaufene Eurovisionsretortenkapelle Wind ab. Offenbar erinnerten sich die Zuschauer:innen daran, dass die schon einmal einen zweiten Platz für Deutschland ersungen hatten und gaben ihnen ihr Plazet für ‘Lass die Sonne in Dein Herz’, einen mehr als flauen Abklatsch des an sich schon arg flauen 1983er Sommerhits ‘Sunshine Reggae’ der dänischen Band Laid Back. Wen hätten sie aus dem deprimierenden Feld grottiger Schlichtschlager auch sonst wählen sollen? Das (in der Halbzeitwertung noch führende) Hanauer Mutter-und-Tochter-Duo Maxi & Chris Garden mit dem brechreizerregend verkitscht-verlogenen ‘Frieden für die Teddybären’ etwa? Ganz so verzweifelt waren sie – noch – nicht!
Wenn der Sieg von Wind ein Schönes hatte, dann die Art, wie Bandmitglied Sami Kalifa vor ehrlicher Freude wie ein menschlicher Flummi durch das Studio hüpfte.
Den einzigen unterhaltsamen Part des Abend – neben den durch die Bank fantastischen Haarhelmen der Damen, die allesamt keine Angst vor einem Bombenhagel haben brauchten: selbst die dicksten Geschosse wären an ihren betonhart sprühlackierten Frisuren abgeprallt – lieferte allerdings der als Pausenact gebuchte, seinerzeit noch jugendlich-schlanke Hape Kerkeling, selbst bekennender Grand-Prix-Fan, der sich in einem gelungenen Sketch über den interessantesten Part des Eurovision Song Contest lustig machte: die Punktevergabe. Er stellte dabei nicht nur seine enorme Vielsprachigkeit unter Beweis, sondern nahm auch das bereits unter der Alleinherrschaft der Jurys bis zum Erbrechen praktizierte Nachbarschaftsvoting auf die Schippe, bei dem sich beispielsweise die skandinavischen Länder gerne gegenseitig die Punkte zuschanzten, während Österreich den großen Bruder – “da machen wir’s wie immer” – leer ausgehen ließ. Einerseits erfreulich, dass der BR so viel Humor bewies, andererseits schade, dass die ARD nicht stattdessen bei der EBU auf eine Änderung des Wertungsverfahrens und die Abschaffung der überkommenen Sprachenregel drängte, die den sündteuren Wettbewerb immer weiter in die kulturelle Bedeutungslosigkeit führten. So blieb halt nur die Flucht in den Galgenhumor.
“Fem Points” für Deutschland: Hape parodiert die Punktesprecher.
Deutsche Vorentscheidung 1987
Ein Lied für Brüssel. Samstag, 26. März 1987 aus der Frankenhalle in Nürnberg. 12 Teilnehmer:innen, Moderation: Christoph Däumling. Demoskopische Umfrage.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Helen Christie | Lieder der Freiheit | 3059 | 08 | - |
02 | Michael Hoffmann | Ich geb nicht auf | 3190 | 05 | - |
03 | Rouge | Einer von uns | 3166 | 06 | - |
04 | Wind | Lass die Sonne in Dein Herz | 4445 | 01 | 20 |
05 | Sandy Derix | Träume tun weh | 2902 | 11 | - |
06 | Bernd Schütz | Visionen in der Nacht | 2929 | 10 | - |
07 | Michaela | Das Licht eines neuen Morgens | 3054 | 09 | - |
08 | Bernhard Brink | So bin ich ohne Dich | 3355 | 03 | - |
09 | Maxi & Chris Garden | Frieden für die Teddybären | 4370 | 02 | 69 |
10 | New Generation | Viel zu schön | 2864 | 12 | - |
11 | Denise | Die Frau im Spiegel | 3320 | 04 | - |
12 | Cassy | Aus | 3126 | 07 | - |
Letzte Aktualisierung: 25.04.2023