
Schon einmal, 1974, fungierte der Eurovision Song Contest als Sprungbrett für eine internationale Musikkarriere der Superlative: seinerzeit für das schwedische Quartett Abba. In Dublin, wo der Wettbewerb bereits zum dritten (wenn auch nicht zum letzten) Mal stattfand, legte eine im Heimatland bereits erfolgreiche, bei uns bis dato jedoch völlig unbekannte, damals zwanzigjährige Frankokanadierin namens Céline Dion den Grundstein zu ihrer Weltkarriere. Und, dies als kleine pikante Information am Rande, sie verlor ihrer eigenen Biografie zufolge in dieser denkwürdigen Nacht ihre bis dato noch unberührte Unschuld an ihren ein Vierteljahrhundert älteren Manager und späteren Ehemann René Angélil, der 2016 dem Krebs zum Opfer fallen sollte. Dion holte den Sieg als Gastsängerin für die Schweiz mit dem Musterbeispiel eines klassischen frankophilen Gefühlssturms, ‘Ne partez pas sans moi’, für meinen Geschmack das schönste Exemplar dieser vielgeliebten, wenngleich mittlerweile hoffnungslos veralteten Musikgattung.
Nicole (DE 1982) kommentierte den Eurovisionswettbewerb 1989 für die ARD (ganze Show am Stück). Sagen wir es mal so: singen liegt ihr mehr.
Ausgesprochen selbstbewusst trat die magersüchtige Chanteuse auf – was angesichts ihrer grausam entstellenden Sauerkraut-Dauerwelle, welche ihr das Aussehen eines nassen Pudels verlieh, und ihres weißen Tüll-Outfits, in dem ein/e vermutlich blinde/r Schneider/in irgendwie einen Petticoat, eine Kunstlederjacke und sehr viel schlechten Geschmack verarbeitet hatte, besondere Hochachtung verdient. Da konnte man darüber hinwegsehen, dass sie das Geld aus ihren bisherigen Plattenverkäufen noch nicht in eine Nasenkorrektur investiert hatte. Wie schon Anne-Marie David (LU 1973) verfügte sie über diesen gewissen, den Sieg bringenden Dobermann-Charme, der sich auch in dem aggressiv, beinahe schon bellend, vorgetragenen “Vous!” niederschlug, mit dem sie ihre Textzeilen jeweils eröffnete. ‘Ne partez pas sans moi’ geriet allerdings nur in den frankophonen Ländern zum kleineren Hit (#42 NL, #36 FR, #12 BE, #11 CH). In Deutschland hingegen völlige Fehlanzeige, was Thomas Gottschalk bei der Kommentierung des 1989er Jahrgangs, als Céline zur Staffettenübergabe erschien, zu der vorausschauenden Bemerkung veranlasste, dass man von ihr wohl nichts mehr hören werde.
Wuff! Donnez-moi ma Chance: Céline Dion (CH).
Doch auch wenn ihre dort vorgestellte Nachfolgesingle ‘Where does my Heart beat now’ in Europa (mit Ausnahme Frankreichs) floppte, hielt sich Céline, die ihre Eurovisionsteilnahme nie wieder mit nur einer Silbe erwähnen sollte, in den Neunzigern mit weltweiten Millionensellern wie ‘Because you loved me’ oder ‘My Heart will go on’ schadlos. Sie gewann – im spannendsten Wertungszweikampf aller Zeiten – erst in wirklich allerletzter Sekunde mit nur einem einzigen Pünktchen Vorsprung vor dem schottischen Sänger Scott Fitzgerald, der aussah wie Frankensteins Monster Bata Illics häßlicherer Zwillingsbruder. Mit Ausnahme der Frisur, die arg an Séverines (MC 1971, DVE 1975, 1982) charakteristischen Haarhelm erinnerte. Dazu raspelte er sich mit schmerzbringendem Pathos durch eine nicht enden wollende Langweilerballade, für welche es ausschließlich auf der Insel zu einem Mitleidszähler in den Charts (#52) reichte und bei der man immerfort nur eines dachte: ‘Go’ (away)! Entweder es saßen nur Masochisten in den Jurys, die gerne optische wie akustische Qualen erlitten. Oder sie voteten den britischen Vertreter aus reiner Gewohnheit so hoch: der zweite Platz schien bis Anfang der Neunziger fest für die Insulaner reserviert.
Hey ya, hey ya, Südkorea: MFÖ (TR).
Über den Rest des Feldes lohnt die Rede kaum: eventuell wohnten wir hier dem bis auf die Wertung langweiligsten Grand Prix aller Zeiten bei. Die Isländer eröffneten ihn mit einer Gruppe, die aus der Irrenanstalt entlaufen zu sein schien. In dem verzweifelten Versuch, trotz ihrer für alle anderen Europäer/innen unverständlichen Sprache Gehör zu finden, verlegten sie sich aufs Name-Dropping: ‘Sokrátes’ – musikalisch leider ganz, ganz weit vom gleichnamigen griechischen Beitrag von 1979 entfernt – zählte nicht weniger als 16 bekannte Kulturschaffende auf, darunter der für den Bandnamen Pate stehende Beathoven. Treffende Bemerkung des (ohnehin den ganzen Abend mit wunderbar subtilem, beißendem Tuntenspott kommentierenden) irischen Moderators Pat Kenny: “Der hat sich wohl gerade” (im Grabe) “umgedreht”. Tommy Körberg (SE 1969) wirkte, wie schon so viele andere schwedische Sänger vor ihm, wie der böse Onkel vom Kinderspielplatz. Er verbüßte später eine Gefängnisstrafe wegen Drogenbesitzes. Die Türkei entsandt nach 1985 bereits zum zweiten Mal die Gruppe MFÖ (Musikalisches Flugöbjekt?), deren flott-belangloses ‘Sufi’ jedoch nicht richtig zu punkten vermochte. Wahrscheinlich, weil MFÖ die besungenen ekstatischen Drehtänze der sufischen Derwische nicht nachtanzten. Oder weil die eurozentrischen Juroren osmanische Töne selbst in homöopathischen Dosen nicht goutierten?
Im Gleichschritt nach rechts: Made in Espain (ES).
Die Spanier brachten mal wieder Fahrstuhlmusik, welcher der treibende Synthesizer-Beat etwas künstlichen Schwung verlieh. Sie legten Wert auf die Feststellung, dass für sie nur reinrassige heimische Mädchen (‘Made in Spain’) in Frage kämen. Erstaunlicherweise gab es hierfür aus Deutschland keine Punkte – obwohl wir diese Idee doch in der Década von 1933 bis 1945 auf die Spitze getrieben hatten. Besonders possierlich stach hier ins Ohr, dass der Spanier generell nicht in der Lage ist, ein am Wortanfang stehendes “S”, dem kein Vokal folgt, auch so auszusprechen, sondern ein Auftakt‑E hinzufügen muss: “Made in Espain”. Estark! Für die Niederlande fistelte sich der Vokuhila-Träger Gerard Joling durch seine Suche nach dem sagenumwobenen ‘Shangri-La’. Wozu er so befriedigt grinste, als habe ihn Pat Kenny kurz vor dem Auftritt höchstpersönlich dorthin geblasen. Oder als könne er in die Zukunft blicken: mit dem diabolischen ‘No more Boleros’ hatte er im Jahr nach seinem Eurovisionsauftritt einen europaweiten Tophit. 2009 ging dann der Kelch nur knapp an uns vorüber: eigentlich Mitglied der campen holländischen Band De Toppers, verlor Joling seine Fahrkarte nach Moskau durch einen in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Zickenkrieg mit seinen Bandkollegen, der in seinem lautstarken Abgang gipfelte. Puh, noch mal Glück gehabt!
So klingt Jodeln ohne Jodeldiplom: Gerard – let it be! (NL).
Israel blieb seiner Welle der Bibelvertonungen treu: ‘Ben Adam’, der ‘Sohn des Adam’, dargeboten von der allerliebst frisierten Yardena Arazi (IL 1976, Moderation 1979) erreichte den siebten Platz. Die Gastgeber entboten mit dem eher rockigen ‘Take him home’ eine leicht als Verlangen auf den Doppelsieg oder als Ode an den schwulen One-Night-Stand mißzuinterpretierende Botschaft der Empathie, gegen welche das grauenhafte siegelsche ‘Lied für einen Freund’ um so abgeschmackter wirkte. Dennoch erlebten die deutschen Zuschauer/innen nach dem Auftritt der Familie Gärtner Garden einen unerwarteten Glücksmoment, als nämlich das unerträgliche, bohrende Schamgefühl über diesen Gipfel der Peinlichkeit in unmittelbare Schadenfreude über den österreichischen Barden umschlug. Der in einem pastellfarbenen Anzug in Übergröße grausam deplatziert wirkende Hüne Wilfried Scheutz raspelte sich in rettungsloser Atonalität durch das unbeschreibliche, selbstverfasste Machwerk ‘Lisa, Mona Lisa’. Engagiert jagte er stets dem richtigen Ton hinterher, ohne ihn jemals zu erhaschen. Weder eine Melodie noch ein ansatzweise sinnvoller Text ließen sich erkennen: es war das schmerzerfüllte Winseln eines Bernhardiners zu einer Kaskade unstrukturierten Soundbreis. Dabei vergeigte Wilfried seinen Auftritt, den auch die lediglich graduell fähigere Backingsängerin nicht mehr retten konnte, nicht mal: auch auf Platte klingt die Nummer keinen Deut besser. Der vermutlich verdienteste Nilpointer aller Zeiten: mal ein ganz eigener Weg zum Ruhm!
Schön, wenn der Schmerz nachlässt: Wilfried (AT).
In einem Servus-TV-Austropop-Legenden-Special von 2014 bezeichnete der von Pat Kenny in Dublin maliziös als “großer alter Mann der österreichischen Popmusik” anmoderierte Wilfried, der nach eigener Darstellung nur am ESC teilgenommen habe, weil ihm “fad” gewesen sei, den Song als ein “missratenes Kind,” von dem er sich dennoch wünsche, dass mehr Leute es kennen würden, schließlich habe man “die immer am liebsten”. Wie sein – optisch ganz und gar nicht missratener – Sohn Hanibal im gleichen Special verriet, habe der auf Wilfrieds Nul Points im Heimatland folgende Shitstorm bei seinem Vater zu einer Verarbeitungsphase mit “viel Alkohol und viel Drogen” geführt, die aber Gott sei Dank rasch abgeschlossen gewesen sei. Heute produziert Hanibal die jüngsten Aufnahmen seines Vaters. Drei Mal dabei, bitte nicht wieder wählen: die aktuelle Oversized-Mode, die Wilfried so entstellte, kam der hochschwangeren Kirsten Siggaard von Hot Eyes (DK 1984, 1985) sehr entgegen. Ihr Friseur, der sie zurecht gemacht hatte wie eine Ananas, über die ein Schwarm Stare hergefallen war, hingegen nicht. Dennoch erreichte sie mit ihrem wie üblich sinnlos-fröhlichen dänischen Kirmeslied mehr als ungerechterweise den dritten Platz. Anlass genug, endlich den lange überfälligen Erziehungsurlaub anzutreten. Danke!
http://youtu.be/W7y9SM-VAII
Zu früh gefreut: Jugoslawien macht Scott einen Strich durch die Rechnung.
Für Griechenland versuchte sich Aphroditi Frida an einem bis dato noch nie behandelten Thema und machte sich zum ‘Clown’, worüber nur sie selbst lachen konnte. Sie musste auf die üblichen Douze Points aus Zypern verzichten: dort hatte man intern ‘Thimame’ von Yiannis Demetriou ausgewählt. Ein bisschen blauäugig vielleicht, denn der Titel nahm bereits 1984 am zypriotischen Vorentscheid teil und belegte damals den dritten Platz: Disqualifikation! Welch grausame Scherze die Haarmode der späten achtziger Jahre mit den Menschen trieb, bewies der Belgier Joseph Reynaert, der eine besonders hässliche Kombination aus Vokuhila, Vollbart und Dauerwelle zur Schau stellte. ‘Laissez briller le Soleil’ hieß sein (überflüssiger) Titel: bei seinem Anblick wünschte man sich eher eine Sonnenfinsternis. Für Italien röchelte sich der zweifache San-Remo-Sieger Luca Barbarossa einem bei Eurovisionssongs (im Gegensatz zur realen Popwelt) ansonsten völlig unüblichen Fadeout (der langsam leiser werdenden Abblende) sowie seinem Punktetod entgegen, während die Juroren Portugals ‘Voltarei’ (‘Ich komme wieder’) zu Recht als Drohung begriffen und abstraften. Dora (PT 1986, wurde nach ihr die kroatische Vorentscheidung benannt?) hielt Gott sei Dank nicht Wort.
Schüttel Dein Haar, wildes Mädchen: die Gewächshausblumen.
Auch Luxemburg schickte, wie die Schweiz, eine Frankokanadierin mit einer allerdings vergleichsweise drögen Ballade. Die etwas belämmert dreinblickende Lara Fabian konnte ihr ‘Croire’ an vierter Position unterbringen und feierte in späteren Jahren im französischsprachigen Popraum eine Karriere als musikalische Schwangerschaftsvertretung für Céline Dion, während sie in Deutschland nur mit ‘I will love again’ einen nennenswerten Hit landete. Sie krisch zwar ähnlich hoch wie die spätere Titanic-Diseuse, strahlte aber im Vergleich zu der siegeshungrig dreinblickenden Dion ähnlich viel Glamour aus wie Maxi Garden. So musste sie den Zweikampf der Balladessen verlieren. Dem echten Popgeschehen am nächsten kam der diesjährige, vom irischen Fernsehen mit für bisherige Verhältnisse geradezu gigantischer Bühne und der ersten computerbasierten Wertungstafel aufwändig produzierte Wettbewerb mit dem Pausenfüller: die heimischen The Hothouse Flowers durften hier ihre Debütsingle vorstellen, und zwar in Form eines Musikvideos, für das RTÉ die Band in elf europäische Länder flog, um dort Szenen für den Clip zu drehen. Es lohnte sich: ‘Don’t go’ wurde zum Hit (#26 DE, #16 AT, #11 UK) und schlug ‘Ne partez pas sans moi’ kommerziell um Längen.
Eurovision Song Contest 1988
Eurovision Song Contest. Samstag, 30. April 1988, aus der Royal Dublin Society in Dublin, Irland. 21 Teilnehmerländer, Moderation: Pat Kenny und Michelle Roca.# | Land | Interpret | Titel | Punkte | Platz |
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01 | IS | Beathoven | Sókrates | 020 | 16 |
02 | SE | Tommy Körberg | Stad i Ljus | 052 | 13 |
03 | FI | Boulevard | Nauravat silmät muistetann | 003 | 20 |
04 | UK | Scott Fitzgerald | Go | 136 | 02 |
05 | TR | MFÖ | Sufi | 037 | 15 |
06 | ES | La Década Prodigiosa | Made in Spain (La Chica que yo quiero) | 058 | 11 |
07 | NL | Gerard Joling | Shangri-La | 070 | 09 |
08 | IL | Yardena Arazi | Ben Adam | 085 | 07 |
09 | CH | Céline Dion | Ne partez pas sans moi | 137 | 01 |
10 | IE | Jump the Gun | Take him Home | 079 | 08 |
11 | DE | Maxi & Chris Garden | Lied für einen Freund | 048 | 14 |
12 | AT | Wilfried Scheutz | Lisa, Mona Lisa | 000 | 21 |
13 | DK | Hot Eyes | Ka du se hva jeg sa? | 092 | 03 |
14 | GR | Aphroditi Frida | Klaun | 010 | 17 |
15 | NO | Karoline Krüger | For vår Jord | 088 | 05 |
16 | BE | Reyneart | Laissez briller le Soliel | 005 | 18 |
17 | LU | Lara Fabian | Croire | 090 | 04 |
18 | IT | Luca Barbarossa | Ti scrivo | 052 | 12 |
19 | FR | Gérard Lenorman | Chanteur du Charme | 064 | 10 |
20 | PT | Dora | Voltarei | 005 | 19 |
21 | YU | Silver Wings | Mangup | 087 | 06 |
Zuletzt aktualisiert: 08.03.2022