Es ist aber auch wie verhext: da entschloss sich das österreichische Fernsehen ORF ausgerechnet im Jahre 1990, wo im deutschen Sprachraum nun wirklich niemand mehr auch nur einen Pfifferling auf den Eurovision Song Contest gab, nach einer halben Dekade ausschließlich interner Auswahlen wieder zu einem öffentlichen Vorentscheid zurückzukehren, lustigerweise unter dem selben Namen wie die Veranstaltung im nördlichen Nachbarland, nämlich Ein Lied für Zagreb. Durch mehrere hundert Songvorschläge musste sich eine bedauernswerte Jury durchquälen, um die zehn am wenigsten furchtbaren Titel herauszusieben. Für den Kreis der Interpret:innen sichtet man das Archiv der hauseigenen Talentshow Die große Chance und rekrutierte alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Erstmalig organisierte der ORF sogar ein offenes Televoting, ergänzt um das Urteil einer rund vierzigköpfigen (!) Fachjury. Sogar eine Musiksoziologin saß im Zuschauerraum, die während der Wertungspause mit wissenschaftlich fundiertem Nerd-Wissen die Zeit überbrückte. Und dann schmilzt in der kollektiven Erinnerung die gesamte Veranstaltung auf einen einzigen, gleichermaßen dramatischen wie unterhaltsamen Zwischenfall zusammen, nämlich den Ohnmachtsanfall einer Teilnehmerin mitten im Auftritt!
Einsatz für Dr. Eurovision: Duett-Sängerin Monika Sutter braucht ärztliche Versorgung.
Ein Duett bildeten der 2011 im Alter von nur 51 Jahren verstorbene Wiener Komponist Peter Risavy und die aus dem schweizerischen Bern stammende Sängerin Monika Sutter. Die hatte sich, wie uns die heuer als Moderatorin engagierte ehemalige ESC-Vertreterin Lizzi Engstler später verriet, für diesen Auftritt 20 Kilo heruntergehungert. Entsprechend ausgemergelt und zittrig stand sie auf der Bühne und hielt sich unauffällig am Klavier beziehungsweise an ihrem Duettpartner fest. Schon zu Beginn kämpfte sie merklich, doch kaum war der erste Refrain überstanden, versagte ihr Kreislauf: Monika machte ein paar tapernde Rückwärtsschritte und fiel dann schnurstracks um, direkt vor die Füße der Begleitmusiker. Während der am Piano sitzende Peter davon nichts mitbekam und zur zweiten Strophe ansetzte, reagierten diese zunächst ratlos, kümmerten sich dann aber doch um die am Boden liegende Interpretin, während die Kamera voll draufhielt. Erst nach einer knappen Schreckminute stellte die Senderegie das Tonband ab und beorderte Lizzi Engstler herbei, welche ‘Das Beste’ gab, die hochnotpeinliche Situation professionell zu überbrücken. Wobei der blitzschnelle Übergang vom angespannt lächelnd In-die-Kamera-Plaudern zum entnervten Anschreien ihres Regisseurs innerhalb eines Sekundenbruchteils zu den lustigsten TV-Momenten aller Zeiten gehört.
Auch, wenn es so aussieht: nein, Jens Riewa hat nicht beim Lied für Zagreb mitgemacht (vierteilige Playlist mit dem kompletten Vorentscheid [minus Siegerreprise]).
Die darauf noch folgenden zwei Konkurrent:innen spielten ab diesem Moment genau so wenig eine Rolle wie die sieben vorangegangenen. Würde sich Monika wieder erholen, lautete nun die bange Frage, die alle bewegte (sie tat es) und würde sie den vom ORF angebotenen Wiederholungsauftritt durchstehen, ohne erneut zusammenzuklappen (jepp)? Obschon die Jury den latente Merci-Reklame-Vibes verbreitenden, ziemlich miserablen Schlager zu Recht auf den letzten Platz setzte, surfte das Duett im Televoting auf der durch den Vorfall ausgelösten, tsunamihohen Sympathiewelle der Zuschauer:innen problemlos zum Sieg. Blöd nur: einem Fan fiel auf, dass er ‘Das Beste’ schon von irgendwoher kannte. Präzise gesagt: von der Radio-Vorrunde des deutschen Vorentscheids von 1988, wo die Nummer nicht ins Finale kam. Beim ORF, wo man keine feindlichen Schlagerwellen hört, wusste man davon nichts, musste den Beitrag aber nun peinlicherweise disqualifizieren. Im Nachhinein ein Glücksfall, verschaffte dies doch der zweitplatzierten Simone Stelzer das Ticket in die kroatische Hauptstadt Zagreb, wo sie mit ‘Keine Mauern mehr’ eindeutig ‘Das Beste’ der zahlreichen Wiedervereinigungslieder jenes Abends ablieferte.
Ein Manifest für die Vielfalt: Simones gelungener Mauerfallschlager treibt meine Scham über den deutschen Beitrag ‘Frei zu leben’ in Großglocknersche Höhen.
Insbesondere das für einen Grand-Prix-Schlager sehr lange Intro und die Idee, für den Refrain ausschließlich mehrsprachige Wiederholungen der Titelzeile zu verwenden, sind als mutig zu loben. Leider reichte es auf internationalem Parkett nur für einen klar unterbewerteten zehnten Rang, in den heimischen Single-Charts für Platz 23. Dessen ungeachtet konnte sich Simone bis heute im Schlagergeschäft halten. Für den Song zeichnete unter anderem Marc Berry verantwortlich, der allerdings auch das unerträglich leichtgewichtige Schlagerchen ‘Ein kleiner Stern’ von Nika (wer?) verbrach, während deren Auftritt ein putziges, androgynes, goldgewandetes Weltraumwesen wie von der Tarantel gestochen über die Bühne sauste und am Ende mit einer Handvoll Glitzerstaub entlohnt wurde. Den hätte man sich als Zuschauer:in wiederum sehr gerne beim Anblick der Vokuhila-Saure-Welle-Kombi von Moppelkinn Eugene Price (wer?) in die Augen gestreut, welche wohl einen Ehrenplatz im Museum der Frisurenverbrechen innehat. Doch auch als Abdichtmittel für die Ohren wäre der Sternenstaub hoch willkommen gewesen, denn Eugenes Gesangsstrategie folgte der Losung: je höher die Note, um so falscher der Ton!
“Du bist ein Teil von mir”: singt Eugene da etwa seinem Penis ein Ständchen?
Was seinen aus einer Ansammlung der abgelutschtesten Reimeklischees bestehenden Brechreizschlager immerhin – wenn auch aus den falschen Gründen – memorabler machte als die nun einfach völlig egalen Angebote von Alex (wer?), Stefanie Pascal (wer?) und von Juryfavorit Roxy (wer?). Zu den wenigen Künstlern des Abends, bei denen man sich die W‑Frage nicht umgehend stellte, zählen die beiden früheren ESC-Vertreter Waterloo (1976, erneut ohne Robinson) und Erwin Broswimmer (1978 als Gruppenmitglied von Springtime). Auch ihre Songs erwiesen sich allerdings als nicht weiter der Rede wert. Bleibt noch der vom Pharmareferenten und Musicalautoren Bernd Stromberger beigesteuerte, auf die gleichnamige Figur aus der Mozart-Oper ‘Die Zauberflöte’ rekurrierende und in der Gesamtwertung drittplatzierte Discoschlagertrash ‘Papagena (Sonnenkind)’, der wohl als Warnung dafür dienen kann, welche unbeherrschbaren Mutationen entstehen können, wenn man eigentlich harmlose Ursprungsideen wie ‘Dschinghis Khan’ zu lange unbeobachtet in der Sonne stehen lässt. Der mehrfache Vorentscheidungsteilnehmer Andreas Wörz und die gebürtige Berlinerin Stella Jones hielten hierfür ihre Gesichter in die Kamera. Dass man die Wahlwienerin dennoch 1995 für Österreich beim ESC antreten ließ, illustriert die große Herzensgüte der Alpenländler:innen.
Zugegeben, der Refrain ist süffig und die opulent kostümierte Stella Jones eine Augenweide. Der entsetzliche weiße Altherrenrap jedoch treibt den Cringefaktor auf weit über Tausend.
Vorentscheid AT 1990
Ein Lied für Zagreb. Donnerstag, 15. März 1990, aus dem ORF Studio Z1 in Wien. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Lizzi Engstler. Jury (50%) und Televoting (50%).# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Alex | Freiheit | 16,3% | 07 |
02 | Gruppe Papageno | Papagena | 25,4% | 03 |
03 | Stefanie Pascal | Mit dir gehn | 12,3% | 09 |
04 | Nika | Ein kleiner Stern | 16,4% | 06 |
05 | Eugene Price | Tausend Feuer sind in mir | 16,7% | 05 |
06 | Waterloo | So ein wunderschönes Leben | 23,8% | 04 |
07 | Erwin Bros | Für Kinder sieht das anders aus | 12,7% | 08 |
08 | Duett | Das Beste | 39,3% | 01 |
09 | Roxy | Sandy | 09,9% | 10 |
10 | Simone Stelzer | Keine Mauern mehr | 27,6% | 02 |
Letzte Aktualisierung: 10.10.2021