Ein Lied für Rom 1991: Und wir lern­ten zu verlieren

Atlantis 2000, DE 1991
Die Spar­kas­sen­an­ge­stell­ten

Das Jahr Eins nach der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung: die ursprüng­li­chen Plä­ne der den fried­li­chen Umsturz einst her­bei­ge­führt haben­den Bür­ger­be­we­gung für eine eigen­stän­di­ge Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik, die die­sen Namen auch ver­dient, waren zuguns­ten der schnel­len D‑Mark und der berühm­ten “blü­hen­den Land­schaf­ten” (Zitat Hel­mut Kohl – wer ahn­te schon, dass er damit von Unkraut über­wu­cher­te, ein­ge­stürz­te VEB-Fabri­ka­ti­ons­hal­len mein­te?) zu Gra­be getra­gen. Das ehe­ma­li­ge Fern­se­hen der DDR war unter dem Über­gangs­na­men Deut­scher Fern­seh­funk (DFF) gera­de der ARD bei­getre­ten. Die­se nutz­te die ver­meint­lich güns­ti­ge Gele­gen­heit und stell­te die Euro­vi­si­ons­vor­auswahl 1991 auf eine beson­ders brei­te Basis: sowohl der seit 1979 feder­füh­ren­de Baye­ri­sche Rund­funk als auch der im West­teil der neu-alten Haupt­stadt behei­ma­te­te Sen­der Frei­es Ber­lin und eben der DFF ver­ant­wor­te­ten gemein­schaft­lich die im Ost­ber­li­ner Fried­rich­stadt­pa­last durch­ge­führ­te Ver­an­stal­tung. Doch vie­le Köche ver­der­ben bekannt­lich den Brei: die Vor­ent­schei­dung geriet zum Total­fi­as­ko, zu wel­chem die vie­len Pan­nen, wie z.B. der auf­grund eines tech­ni­schen Defekts auf einer Schwe­be­kup­pel in zwei Meter Höhe hän­gen gelas­se­ne Song­pa­te Andre­as Luko­schik vom bald dar­auf ein­ge­stell­ten TV-“Szenemagazin” Leo’s (sic), noch den gerings­ten Teil beitrugen.

https://www.youtube.com/watch?v=eXV6wXNE7EM

Pro­duct Pla­ce­ment, Lip­pis besab­ber­tes Gebiss, über­flüs­si­ge Son­der­prei­se, ver­wech­sel­te Kom­po­nis­ten und ein mas­siv aus­ge­buh­ter Sie­ger: Hape Ker­ke­ling hat­te an die­ser Mode­ra­ti­on sicht­lich kei­ne Freude. 

Die zehn Final­bei­trä­ge beruh­ten nach Sen­der­an­ga­ben dies­mal auf direk­ten Vor­schlä­gen der Indus­trie. Was man kaum glau­ben mag, wenn man sich den von wei­test­ge­hend namen­lo­sem San­ges­per­so­nal vor­ge­tra­ge­nen musi­ka­li­schen Son­der­müll vor Augen und Ohren führt, den die drei Anstal­ten hier dreis­ter­wei­se feil­bo­ten. Ande­rer­seits ver­dien­ten die deut­schen Schall­plat­ten­fir­men auch ohne den Grand Prix ganz gut an der Wie­der­ver­ei­ni­gung: erfolg­reichs­te Sin­gle des Jah­res war ‘Wind of Chan­ge’ von den Scor­pi­ons, das sich eben­so wie David Has­sel­hoffs ‘Loo­king for Free­dom’ – eine Rück­über­tra­gung von Tony Mar­shall‘Auf der Stra­ße nach Süden’ – als Lied des Mau­er­falls eta­blie­ren konn­te. Ganz im Gegen­satz übri­gens zu Ralph Sie­gels Bei­tritts­schla­ger ‘Frei zu leben’… Zudem galt es, den Ami­ga-Kata­log nach Kult­schät­zen zur Zweit­ver­wer­tung auf Best-of-DDR-Sam­plern zu durch­fors­ten, wie bei­spiels­wei­se Nina Hagens gran­dio­ses ‘Du hast den Farb­film ver­ges­sen’, Man­fred Krugs ‘Wenn der Urlaub kommt’ oder Chris Doerks und Frank Schö­bels mit­rei­ßen­der 1968er Schla­ger­knül­ler ‘Hei­ßer Som­mer’. Wel­chen Anlass hät­ten sie also gehabt, eta­blier­te Acts oder poten­ti­el­le Hits bei die­ser obsku­ren Ver­an­stal­tung zu verheizen?

Auch “drü­ben” konn­te man Schla­ger­film. Und im Gegen­satz zum ver­reg­ne­ten Wes­ten gab’s in der DDR anschei­nend tat­säch­lich hei­ße Som­mer (Reper­toire­bei­spiel).

Statt­des­sen ent­sandt man No-Hoper wie Bar­ba­ra Cas­sy, die wie im Ecsta­sy-Nebel durch den aus der Modern-Tal­king-Maschi­ne ent­schlüpf­ten, schwüls­ti­gen Knat­ter­schla­ger ‘Haut­nah ist nicht nah genug’ storch­te und Zei­len wie “Ich brauch mehr / ich brauch die Lie­be” ins Mikro­fon brün­f­tel­te. Was einen wirk­lich unan­ge­nehm berühr­te. Zum einen, weil Frau Mehr­ling, wie sie im rich­ti­gen Leben heißt, sei­ner­zeit noch kei­ne sech­zehn Len­ze zähl­te; vor allem aber auf­grund ihres typi­schen, musi­cal­haf­ten Over­ac­tings, das so immer­hin kei­nen ech­ten Sex-Appeal auf­kom­men ließ: dem Auf­tritt haf­te­te die Anmu­tung von auf RTL2-Nach­mit­tags-Kra­wall­show-Niveau nach­ge­stell­ter Kin­der­por­no­gra­fie an. Man fühl­te sich beim Zuse­hen zutiefst schmut­zig, und nicht auf die gute Wei­se. Erstaun­li­cher­wei­se tauch­te der Name Ralph Sie­gel heu­er kein ein­zi­ges Mal auf, wobei sich der ton­nen­schwe­re Kitsch­bom­ber ‘Die Wäch­ter der Erde’ von Ziad & Sand­ri­na (wer?) exakt so anhör­te wie eines der Stü­cke aus sei­ner Kol­lek­ti­on. Es blieb übri­gens die ein­zi­ge Sin­gle des Duos. Anders als beim Kol­le­gen Ste­fan de Wolff, der zuvor schon wei­te­re Flops unter den Namen Ste­ve Car­vin und Ste­phan Baal ver­öf­fent­licht hat­te. Sei­ne mehr­fa­chen, stets voll­kom­men über­flüs­si­gen und unver­mu­tet auf­tau­chen­den, krei­schen­den Fal­sett­ein­la­gen erschreck­ten einen jedes Mal zu Tode.

Und das ist aus der armen klei­nen ‘Joa­na’ gewor­den, nach­dem der Schla­ger­kai­ser “ver­bo­te­ne Träu­me” mit ihr erleb­te: Cas­sy (plus Play­list mit sechs Vorentscheidungstiteln).

Tan­ja Jonak trug ein­mal den Titel “Star von mor­gen”, als Sie­ge­rin eines Wett­be­werbs des Süd­west­funks. Das war 1985 und soll­te sich als lee­res Ver­spre­chen ent­pup­pen. Nach­dem ihr auch der Grand-Prix-Vor­ent­scheid nicht den erhoff­ten Durch­bruch brach­te, wid­me­te sie sich dem Stu­di­um der Kunst­ge­schich­te – sicher­lich die klü­ge­re Ent­schei­dung. Sus­an Schu­bert hat­te seit ihrer letz­ten Vor­ent­schei­dungs­teil­nah­me hör­bar an ihrer Aus­spra­che gear­bei­tet. Gute Songs an Land zu zie­hen, hat­te sie noch immer nicht gelernt. Auf ledig­lich die­se eine Ver­öf­fent­li­chung brach­te es auch das Duo Vox & Vox, das hier aller­dings als Sex­tett auf­trat und aus­sah, als sei eine Bon-Jovi-Cover­band mit der Dschinghis Khan Fami­ly anein­an­der gera­ten. Ihr vom Wind-Front­mann Andre­as Leb­bing kom­po­nier­ter Titel ‘Tief unter der Haut’ füg­te das Drum­com­pu­ter­kor­sett aus ‘You win again’ von den Bee Gees mit einer vage bekann­ten Melo­die aus irgend­ei­nem volks­tüm­li­chen Schla­ger, har­mo­ni­schem Satz­ge­sang und tau­send­fach erprob­ten Text­bau­stei­nen aus dem Grand-Prix-Phra­sen­kas­ten zusam­men, was sich in der Sum­me gar nicht so furcht­bar anhör­te, wie es beim Lesen klin­gen mag. Im Rewe-Ein­kaufs­ra­dio gespielt, wür­de mich die­ser fröh­lich stim­men­de Song sicher zu einer höhe­ren Kauf­be­reit­schaft ansta­cheln, und die Haus­ar­beit gin­ge einem dabei auch leich­ter von der Hand. Wie Crys­tal Meth qua­si, nur ohne die schlim­men Nebenwirkungen.

Ver­dient kei­nen Inno­va­ti­ons­preis, fügt den Zuhörer:innen aber – anders als die neun Mitbewerber:innen – wenigs­tens kei­ne all zu uner­träg­li­chen Schmer­zen zu: Vox & Vox.

Die bei­den ein­zi­gen leid­lich bekann­ten Teilnehmer:innen waren die bis dato mit simp­len Ein­deut­schun­gen stein­al­ter Beach-Boys-Hits (‘Kaf­fee­braun’) in Erschei­nung getre­te­nen Strand­jungs, wel­che die sepa­rat durch­ge­führ­te Radio-Wahl gewan­nen, sowie die Saal­fa­vo­ri­tin und Sie­ge­rin des Pres­se­prei­ses Cin­dy Ber­ger, deren ‘Nie allein’ sich jedoch lei­der auch nur als ein wei­te­res schwach­brüs­ti­ges Schla­ger­lein ent­pupp­te. Im Gegen­satz zur hyper­ak­ti­ven Frau Cas­sy wirk­te die saar­län­di­sche Schla­ger­le­gen­de eher benom­men, so als habe sei zu viel Johan­nis­kraut geraucht. Die Abstim­mung erfolg­te in die­sem Jahr wie­der per demo­sko­pi­scher Umfra­ge (unter immer­hin ein­tau­send Frei­wil­li­gen), weil das Bei­tritts­ge­biet noch nicht über ein aus­rei­chend aus­ge­bau­tes Tele­fon­netz ver­füg­te und ein gesamt­deut­sches Tele­vo­ting damit aus­schied. Cin­dy erreich­te, sehr zum Miss­fal­len des Stu­dio­pu­bli­kums (Hape Ker­ke­ling: “ja… das ist aller­dings… tja…”), ledig­lich Platz 7. Doch auch, wenn man kei­nen ein­zi­gen der zehn Bei­trä­ge als des Sie­ges wür­dig betrach­ten kann, lässt sich beim bes­ten Wil­len nicht nach­voll­zie­hen, wes­we­gen aus­ge­rech­net die offen­bar aus “Spar­kas­sen­an­ge­stell­ten, die mal Gla­mour spiel­ten woll­ten” (Jan Fed­der­sen) zusam­men­ge­stell­te Retor­ten­band Atlan­tis 2000 gewann.

Da hat jemand gut bei Pur­ple Schulz’ ‘Ver­lieb­ten Jungs’ zuge­hört: die Strandjungs.

Die­ser Traum darf nie­mals ster­ben’ the­ma­ti­sier­te den rup­pi­gen Umgang der bun­des­deut­schen Sie­ger­macht mit den Ossis (“Und sie lehr­ten uns zu kämp­fen / Und wir lern­ten zu ver­li­ern”), schob den wäh­rend der dama­li­gen Gold­grä­ber­jah­re von win­di­gen west­deut­schen Gebraucht­wa­gen­händ­lern und Ver­si­che­rungs­ver­tre­tern heu­schre­cken­ar­tig heim­ge­such­ten und wegen ihrer feh­len­den Ver­traut­heit mit dem Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus leicht zu über­töl­peln­den Bei­tritts­ge­biet­lern (“Was sie uns erzähl­ten / alles haben wir geglaubt”) aber in typi­scher Täter-Opfer-Umkehr eine Mit­schuld an ihrer Mise­re zu (“Auf der Suche nach der Frei­heit / lie­ßen wir uns leicht ver­führn”). Der kli­scheestrot­zen­de Refrain bot bis auf eine paar hoh­le Trost­phra­sen kei­nen Aus­weg, und ob der Satz “Einer gibt die Kar­ten / und wir sind in sei­ner Macht” reli­gi­ös zu deu­ten ist oder sich auf die Treu­hand bezog, bleibt ver­schwom­men. Musi­ka­lisch jedoch erwies sich das Gan­ze als so erbar­mungs­los schlecht, als so unfass­bar mise­ra­bel und mala­de, so fern­ab von Gut und Böse, dass sich jeder wei­te­re Kom­men­tar dazu ver­bie­tet. Ver­ständ­lich, dass die Saalzuschauer:innen bei der Bekannt­ga­be ihres Sie­ges laut­hals anfin­gen zu buhen. So, wie die namens­ge­ben­de Stadt Atlan­tis einst im Meer ver­sank, ging die Sie­ger­re­pri­se der Dilet­tan­ten­ka­pel­le in einem Meer von Miss­fal­lens­be­kun­dun­gen unter. Selbst Son­ny­boy Hape, der den Mist zu mode­rie­ren hat­te, stand die Fas­sungs­lo­sig­keit ins Gesicht geschrie­ben, und die galt nur bedingt dem Ver­hal­ten des Publi­kums (“Das müs­sen Sie unter sich aus­ma­chen”).

Atlan­tis 2000 sind: der Kom­po­nist Alfons Wein­dorf (die bun­te Bril­le, ‘Für den Frie­den die­ser Welt’, AT 1994), sein Bru­der, der Tex­ter Hel­mut Frey (wei­ße Jackett­är­mel) und ein paar Studiosänger:innen.

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1991

Ein Lied für Rom. Sams­tag, 21. März 1991, aus dem Fried­richs­stadt­pa­last in Ber­lin. Zehn Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Hape Ker­ke­ling und Syl­via Win­ter­grün. Demo­sko­pi­sche Umfrage.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Tan­ja JonakHand in Hand in die Sonne09,5%06-
02Sus­an SchubertDu bist mehr10,8%05-
03Cin­dy BergerNie allein06,4%07-
04Bar­ba­ra CassyHaut­nah ist nicht nah genug14,1%04-
05Con­ny & KomplizenJedes­mal02,8%10-
06Vox & VoxTief unter der Haut14,9%03-
07Ste­fan de WolffHerz an Herz03,7%09-
08Ziad + SandrinaDie Wäch­ter der Erde15,2%02-
09Atlan­tis 2000Die­ser Traum darf nie­mals sterben18,5%01-
10Strand­jungsJun­ge Herzen04,1%08-

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 21.10.2021

< Ein Lied für Zagreb 1990

Ein Lied für Mal­mö 1992 >

4 Comments

  • Oh Gott, was für ein furcht­ba­res Lied. Oder genau­er, was für eine schreck­li­che Per­for­mance – man mag mich jetzt stei­ni­gen, aber der Song an sich hät­te Poten­ti­al gehabt, wenn er in halb­wegs kom­pe­ten­te Hän­de gera­ten wäre. Sogar in der Stu­dio­fas­sung ist das Teil nahe­zu nicht anhör­bar – und live bricht die Fas­sa­de dann end­gül­tig zusam­men. Schlech­tes­ter Euro­vi­si­ons­bei­trag aus Deutsch­land aller Zei­ten? Ins­ge­samt betrach­tet: wahr­schein­lich ja. 

  • Ich kann mich noch gut an den Abend des Vor­ent­scheids erinnern…und an mein Ent­set­zen, dass DAS gewon­nen hatte…
    Nach mehr­ma­li­gem Hören stel­le ich heu­te fest…das Lied an sich ist gar nicht sooo übel…nur die Inter­pre­ten sind übelst!
    Wer sind die? Wo hat man die gefunden?
    Erin­nern mich doch ganz stark an Men­de­res von DSDS!
    Auch mit einem fähi­gen Inter­pre­ten hät­te die Num­mer nicht gegen Caro­la oder Ami­na anstin­ken kön­nen, aber mehr als 10 Punk­te hät­te es mit Sicher­heit gegeben!

  • Der Schnau­zer mit der Rund­bril­le ist der Kom­po­nist Alfons Wein­dorf, auch ver­ant­wort­lich ‘für den Frie­den die­ser Welt’ (AT 1994).
    Der mit den schlim­men wei­ßen Jackett­är­meln ist der Tex­ter Hel­mut Frey (DVE 1987), als Song­schrei­ber und Pro­du­zent sehr umtrie­big im volks­tü­meln­den Schla­ger­be­reich (u.a. Wil­de­cker Herz­in­farkt­bu­ben, Spas­tel­ru­ther Kat­zen, Han­si Hin­ter­la­der, Nicki), singt aber auch selbst.
    Dann waren da noch der Bru­der vom Wein­dorf und ein paar Stu­dio­sän­ger. Der Lang­haar­z­ot­tel sang auch bei Ingrid Peters (DE 1986) schon im Chor (Quel­le: diggiloo).

  • Zwei Anmer­kun­gen noch zum Siegertitel:

    - Die Sän­ge­rin war Jut­ta Nied­hardt, die spä­ter als Sän­ge­rin der Sara­gos­sa Band ein zwei­tes Leben ein­hauch­te und in vie­len Tele­shop­ping-For­ma­ten zu sehen war
    – Für Hel­mut Frey hat­te das Desas­ter lei­der zur Fol­ge, dass er sich von der Büh­ne zurück­zog, was gera­de für den deut­schen Schla­ger bedau­er­lich war, war er doch einer der Inter­pre­ten und Autoren, deren Namen für Qua­li­tät stand. Aber der ESC hat ja sei­ne eige­nen Gesetze

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