Manche Menschen tun wirklich alles, um trotz einer Teilnahme an einer nationalen Eurovisionsvorentscheidung völlig anonym zu bleiben und unter keinen Umständen später noch im Netz gefunden zu werden. Dazu zählten in diesem Jahrgang des Concours Eurovision gleich mehrere der insgesamt zehn Teilnehmenden. Wie man sich beispielsweise als dreadlocktragende, schwarze Schweizer Sängerin denselben Künstlerinnennamen aussuchen kann wie der deutsche Damenimitator Georg Preuße alias Mary, will mir unbegreiflich erscheinen. Außer, es soll sich wirklich niemand an das von besagter Dame mit einer beeindruckenden stimmlichen Range, aber auch dem ein oder anderen schiefen Ton intonierte, zähe Canzone ‘Vento da Nord’ erinnern. Auch mit dem Namen Daniel Stein und einem in keiner gängigen Musikdatenbank verzeichneten Song wird man garantiert nie wieder gefunden. Da bleibt der Titel ‘Es geht uns alle an’ frommes Wunschdenken, zumal wenn es sich wie hier um eine Ansammlung abgegriffenster Betroffenheitsklischees handelt. Oder frau verschweigt gleich ihren Vornamen, so wie die in den hohen Tönen ziemlich schmerzhaft krähende frankophile Balladesse K. (ich vermute mal: Karen?) Loren. Auch über den optisch entfernt an den diesjährigen britischen ESC-Vertreter Michael Ball erinnernden Michel Audray lässt sich einfach nichts finden.
Das war ja mal ein seherischer Songtitel: P. Roussel plus Playlist mit allen Beiträgen zum Durchskippen.
Einer gewissen heimischen Bekanntheit erfreut sich hingegen der Züricher Philippe Roussel, wenn auch hauptsächlich als Schauspieler. So war er unter anderem in der Schweizer Sitcom Mannezimmer zu sehen, aber auch in einer Folge der vom Figurenschöpfer Ralf König als “grottenschlecht und schwulenfeindlich” bezeichneten Serienvariante seines Comics Der bewegte Mann. Auch Werbespots hat Roussel schon eingesungen, und exakt danach klingt sein Concours-Beitrag. Guido Bugmann, seinerzeit ein für meinen Geschmack ganz fescher Daddy-Typ mit sexy Halbglatze und Drei-Tage-Vollbart, arbeitet heute wohl als Musiklehrer, wie in Jahresabständen erscheinende ironische Bewunderungskommentare seiner Schüler unter dem Youtube-Video belegen. Seinen eher gesprochenen als gesungenen sowie von etlichen durchaus überraschend kommenden Wechseln der Stimmlage durchzogenen Beischlafschlager ‘Heut Nacht’ sollte er jedoch besser keiner seiner Elev:innen in die Ohren säuseln, wenn er diesen Job behalten will. Der Cantautore Mario D’Azzo, der hier mit ‘Apro le Mani’ ein einschläfernd langsames Canzone darbot, veröffentlichte seit 1978 und zuletzt im Jahre 2012 im Eigenverlag Alben.
“Komm, bitte komm heut’ Nacht”: vielleicht wenn du aufhörst zu singen, Guido!
Renato Mascetti, vielfacher Concours-Teilnehmer und Komponist des Schweizer ESC-Beitrags 1991, versuchte es diesmal wieder mit sich selbst am Mikro und scheiterte erneut. Dabei bot er mit einer optisch mehrere Ligen über ihm spielenden Tänzerin sogar ein bisschen Show. Half aber nichts: sein ‘Non sei più la mia Bambina’ klang einfach zu kinderliedhaft. Den verdienten Sieg errang stattdessen die gelernte Sekretärin und heute im Volkstümlichen beheimatete Géraldine Olivier mit dem zwar komplett belanglosen und stellenweise ein bisschen ruppig vorgetragenen, aber wenigstens sofort eingängigen Schlager ‘Soleil, Soleil’ (französischer Titel, deutscher Text), der von allen drei Publikumsjurys und der Presse die Höchstpunktzahl erhielt, so dass auch die absichtliche Strafwertung der Senderjury daran nichts mehr ändern konnte. Dachte man jedenfalls. Denn wie sich erst im Anschluss an die Sendung herausstellte, hatte die in der Romandie gebürtige Olivier den Song zunächst beim frankophonen Sender eingereicht, wo man ihn aber zurückwies. Daraufhin bekam er rasch neue Lyrics übergeholfen und fand seinen Weg zur Vorauswahl der Deutschschweiz, wo man einen besseren Geschmack bewies und zugriff. Für die gehässig frohlockende “Profi”-Juror:innen eine willkommene Steilvorlage, das in der Eidgenossenschaft bei allen öffentlichen Wettbewerben traditionell mindestens vierhundertseitige Regelbuch zu zücken und den unliebsamen Schlager zu disqualifizieren.
Schaut schon so schuldbewusst in die Kamera, als ob sie befürchtet, jede Sekunde enttarnt zu werden: die Olivier.
Und so den Weg freizuräumen für den von nämlichen Juroren bevorzugten und in der Gesamtwertung mit deutlichem Abstand zweitplatzierten Beitrag ‘Mister Music Man’ (englischer Titel, französischer Text) von Daisy Auvray. Einer saxofontriefenden, musikalischen wie lyrischen Groteske für den Stangentanzabend im Altersheim, in welcher die mit einer frisseligen Perücke und in einem Goldlaméjäckchen aus der Kollektion für die wohlhabende Witwe kostümierte Daisy in stellenweise unangemessen suggestivem Tonfall einen DJ anheischt, ihre Lieblingsplatte aufzulegen. Das Ganze wirkte ein bisschen so, als ob die siebzigjährige Lys Assia im Marylin-Monroe-Duktus dem zeitweiligen ESC-Daddy Jan Ola Sand ein “Happy Birthday, Mister President” ins Ohr hauchte. Also in hohem Maße verstörend. Dass sie nun als Nachrückerin für die geschasste Géraldine nach Malmö durfte, von wo sie mit einem 15. Platz heimkehrte, hatte zur Folge, dass Daisys Wikipediaeintrag heute gerade mal fünf Sätze umfasst, von denen sich drei (!) mit der “eigentlichen Siegerin” beschäftigen, und mit der trockenen Feststellung schließt: “Nach dem Contest ist Daisy Auvray als Sängerin nicht mehr nennenswert in Erscheinung getreten”. Tja, niemand mag Kollaboratörinnen!
‘Le Jazz Hot’: wann immer der Gedanke an Mahmood mich nicht schlafen lässt, schaue ich diesen Clip, und alle Versteifungen schwellen verlässlich ab.
Vorentscheid CH 1992
Concours Eurovision. Sonntag, 23. Februar 1992, aus dem Kongresspalast in Lugano. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Alessandra Marchese. Drei regionale Publikumsjurys (60%), Pressejury (20%), Senderjury (20%).# | Interpreten | Songtitel | Publikum | Presse | Jury | Punkte | Platz |
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01 | Philippe Roussel | Immer gewinnen kannst du nicht | 23 | 08 | 04 | 35 | 04 |
02 | K. Loren | Un Monde sans Musique | 05 | 06 | 07 | 18 | 07 |
03 | Guido Bugmann | Heut’ Nacht | 06 | 01 | 05 | 12 | 09 |
04 | Renato Mascetti | Non sei più la mia Bambina | 11 | 04 | 02 | 17 | 08 |
05 | Daisy Auvray | Mister Music Man | 28 | 05 | 12 | 45 | 02 |
06 | Daniel Stein | Es geht uns alle an | 08 | 02 | 01 | 11 | 10 |
07 | Mary | Vento da Nord | 17 | 10 | 06 | 33 | 05 |
08 | Michel Audrey | Marie-Blanche | 21 | 07 | 10 | 38 | 03 |
09 | Mario D’Azzo | Apro le mani | 19 | 03 | 08 | 30 | 06 |
10 | Géraldine Olivier | Soleil, Soleil | 36 | 12 | 03 | 51 | 01 |
Zuletzt aktualisiert: 28.05.2023