
In den Wiedervereinigungswirren nutzte der seit 1979 innerhalb der ARD für den Eurovision Song Contest zuständige Bayerische Rundfunk die Gunst der Stunde und schob die Verantwortung für die mittlerweile extrem ungeliebte, nur noch als ärgerliche Geldverschlingungsmaschine empfundene Veranstaltung eilends an den neu gegründeten Mitteldeutschen Rundfunk ab, noch heute der führende Schlagersender der Nation, der seine stramm rechte Gesinnung bereits im Namen trägt. Denn “mitteldeutsch” kann man das Sendegebiet des MDR nur dann nennen, wenn man Deutschland weiterhin in den Grenzen von 1939 denkt und die im Zweiten Weltkrieg durch eigene Schuld verlorenen Gebiete jenseits der Oder irgendwann wieder heim ins Reich holen möchte. Wobei sich mir angesichts der auffälligen AfD-Affinität der Ossis mittlerweile eher der Gedanke aufdrängt, ob wir die 1990 ohne eigenes Zutun dazugewonnenen Beitrittsgebiete nicht lieber an das ähnlich erzkonservativ-völkische Polen abtreten sollten… Bei der Verschiebung von einem Freistaat in den anderen kam den Bajuwaren jedenfalls zupass, dass die äußerst CDU-nahe Zonenanstalt seinerzeit unter maßgeblicher Führung der Bazis aufgebaut wurde, die dort elegant ihre personellen und programmlichen Altlasten entsorgten. Zu denen zählte sowohl der von München nach Magdeburg weggelobte erste Intendant der neuen Dreiländeranstalt, in dessen Ägide vor allem Korruptionsskandale und politische Einflussnahme fielen, als eben auch die deutsche Vorentscheidung zum Grand Prix Eurovision.
“Weil Sie nichts besseres zu tun haben. Oder weil sie in der Jury sitzen und zuschauen müssen”: Carmel Nebel machte dem Publikum schon in der Anmoderation richtig Bock auf den deutschen Vorentscheid 1992.
Den ausgesprochen zaghaften Versuchen des MDR, zeitgemäße Popstars nach Magdeburg zu locken, blieb aufgrund der fortbestehenden Sprachenregel und des damit verbundenen dumpfen Images des internationalen Wettbewerbs der Erfolg versagt. Zu Vergleichszwecken: die beiden kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen Titel des Jahres hießen ‘Das Boot’ von U96 und ‘Die da’ von den Fantastischen Vier. Von solcher Ware konnte man hier jedoch noch nicht einmal träumen: trotz des nochmals deutlich reduzierten Starterfeldes kamen ausschließlich Verlierervisagen, die auf dem heimischen Musikmarkt nichts, aber auch rein gar nichts mehr zu bestellen hatten. Nämlich die von Hanne Haller entsandte Susan Schubert mit ihrem schlimmen ‘Shalalaika’-Schunkelschlager für den Tanztee im Seniorenstift und die brave Bayernband Relax, die sich bereits zehn Jahre zuvor, von ihrer Plattenfirma im Rahmen der kurzzeitigen NDW-Euphorie auf einer gemeinsamen Tournee mit Markus, Nena und Extrabreit verheizt, ebendort von rabiaten Wellenfans ausbuhen lassen musste. Und es dennoch versäumt hatte, sich zügig aufzulösen. Sowie der nachgerade unvermeidliche Bernhard Brink schon wieder, der in späteren Jahren beim MDR sein Gnadenbrot als Schlagershowmoderator verzehren sollte. Hier trat die singende Pudelfrisur mit einem grausigen Plagiat des steinalten Demis-Roussos-Schlagers ‘Goodbye my Love, Goodbye’ an.
Für Hartgesottene: die Beiträge des Vorentscheids als Playlist.
Sie alle erhielten von den Jurys (der Osten hat es bekanntlich nicht so mit dem ganzen Demokratiequatsch und legte das Schicksal des deutschen Beitrags flugs wieder in die Hände von 121 Laienjuror:innen, verteilt auf die damals noch elf Sendeanstalten der ARD) keinen einzigen Punkt. Im Gegensatz zu der vom MDR protegierten, dem Namen nach zu urteilen immerhin wenigstens umweltfreundlichen Zonenband Blaue Engel, stilecht mit modischen Vokuhila-Frisuren ausgestattet, die natürlich nur in den Beitrittsgebieten Anklang fand, sowie den beiden Songs aus dem Hause Siegel. Elf Jahre nach ihrer Grand-Prix-Teilnahme mit ‘Johnny Blue’ bekam die medial mittlerweile nicht mehr sonderlich präsente, wenngleich noch immer hinreißend schöne Lena Valaitis, stilecht im modischen Vokuhila-Kleid, zwar noch auf der Bühne Blumen von einem aufdringlichen Verehrer überreicht, so als sänge sie in der ZDF-Hitparade und nicht beim Eurovisions-Vorentscheid. Ihr Beitrag ‘Wir sehn uns wieder’ sollte mit sehr sanften musikalischen Schiwago-Anleihen und seinem moderat melancholischen Text (“Menschen, die glücklich war’n, sind auf einmal in alle Winde verweht”) womöglich an das damalige Bürgerkriegsdrama auf dem Balkan und die damit verbundene Völkervertreibung anknüpfen, blieb dabei aber so dezent und unbestimmt, dass es kaum jemandem auffiel. So erhielt Lena keine zweite Chance.
Als wäre Alexandra auferstanden: Lena Valaitis verbreitet vagen Wehmut und homöopathische Hoffnung in düsteren Zeiten.
Dafür aber, bereits zum dritten Mal, die Retortenformation Wind. Deren windelweich-weinerliches ‘Träume sind für alle da’ spielte lyrisch in an Zynismus nicht mehr zu überbietender Weise auf die aktuelle, abgrundschlimme Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundesländern an, wo sich nach dem Treuhand-unterstützten Ausverkauf der wenigen wirtschaftlich überlebensfähigen ehemaligen Volkseigenen Betriebe an die Westkonkurrenz auf einmal ein ganzes ehedem vollbeschäftigtes Volk auf den überfüllten Fluren der Arbeitsagenturen wiederfand: “Und der Mann, der seinen Job verlor / Träumt, dass er’s allen zeigt / Wie Phönix aus der Asche steigt”. Schon klar: mehr als die Flucht in trügerische Traumwelten blieb den Ossis nach dem vorhersehbaren, wiedervereinigungsbedingten Zusammenbruch ihrer Wirtschaft schlicht nicht übrig. Selbst schuld: wer auf Oskar Lafontaine nicht hören wollte, musste eben mit Ralph Siegel fühlen! Der suhlende Selbstmitleidsfaktor reichte für den Sieg. Carmen Nebel, das Ost-Äquivalent zu Caroline Reiber, moderierte alles in Grund und Boden (bedauerlich, dass nicht sie ihren Job verlor) und die Einschaltquoten bewegten sich im nur noch mit dem Elektronenmikroskop sichtbaren Bereich. Ein Lied für Malmö sollte die letzte öffentliche Vorentscheidung für einen langen Zeitraum werden.
Wind: “Und wehe, ihr grinst nicht permanent in die Kamera, dann schickt euch der Onkel Ralph ohne Abendessen ins Bett”!
Deutsche Vorentscheidung 1992
Ein Lied für Malmö. Samstag, 30. März 1992, aus der Stadthalle in Magdeburg. Sechs Teilnehmer:innen, Moderation: Carmen Nebel.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|
01 | Bernhard Brink | Der letzte Traum | 00 | 04 | - |
02 | Relax | Blue Farewell River | 00 | 04 | - |
03 | Susan Schubert | Shalalaika | 00 | 04 | - |
04 | Blaue Engel | Licht am Horizont | 03 | 02 | - |
05 | Lena Valaitis | Wir sehn uns wieder | 01 | 03 | - |
06 | Wind | Träume sind für alle da | 07 | 01 | 59 |
Letzte Aktualisierung: 07.01.2023
Grobe Fehlentscheidung Lena Valaitis hätte ausgesucht werden sollen. Zwar auch von Siegel, aber das weitaus klassischere und bessere Stück. Sie hätte uns mit Eleganz, Ernsthaftigkeit und Ausstrahlung würdig vertreten (und hätte sich zwischen den anderen Diven und Balladessen des Abends auch besser gemacht). Im Gegensatz zu Why me vielelicht zu unaufdringlich, aber wir haben ja gesehen wo die weinerlichen, verschwurbelten Lüftchen am Ende gelandet sind.
Falscher Name Es ist zwar völlig unwichtig, aber als Eingeborener muß ich eines klar stellen: Es gibt keine Rothehornhalle in oder um Magdeburg, weder offiziell noch im Volksmund! Veranstaltungsort war die ‘Magdeburger Stadthalle’. Die falsche Bezeichnung tauchte plötzlich beim neugegründeten MDR auf und hat sich bei diesem Sender bis heute gehalten. Grund dafür kann nur eine gewisse Borniertheit der damaligen importierten Sendeleitung sein. Diese meinte wohl, nur weil die Halle auf der Rothehorninsel liegt, müsse sie auch so heißen. Ist aber falsch und damit Ende der Chronistenpflicht. Die Veranstaltung selbst war Müll. Lena Valaitis war zwar die Beste, aber auch ihr Song war nur unterer Durchschnitt. Wenigstens ihr Auftritt wäre beim ESC keine Peinlichkeit gewesen.
Nun, lassen wir doch mal eine der Hauptbeteiligten zu Wort kommen: “Freude hat Malmö uns allen nicht gemacht. Wir mussten immer früh ins Bett, mussten immer lächeln, und das Lied war eigentlich auch nichts, worauf man stolz sein kann.” (Petra Scheeser, zitiert aus “Ein Lied kann eine Brücke sein” von der Fleddersen.) Und damit ist eigentlich alles gesagt, was man dazu sagen kann.