Nach dem Null-Punkte-Fiasko mit dem Schlager ‘Venedig in Regen’ beim Eurovision Song Contest 1991 in Rom und dem daraufhin erstmals in der österreichischen Contestgeschichte erfolgten ‘Hurricane’ in der heimischen Medienlandschaft griff der Sender ORF im darauffolgenden Jahr zu einem scheinbar bewährten Verfahren zurück und bestellte erneut einen Beitrag beim deutschen Poptitan Dieter Bohlen, der dem Land bereits 1989 mit dem von ihm verfassten ‘Nur ein Lied’ ein gutes Ergebnis verschafft hatte. Als Interpret beauftragte man den Zweitplatzierten des letzten Vorentscheids, den Burgenländer Tony Wegas. Der erwies sich beim Wettbewerb in Malmö der im Refrain mehrsprachigen Powerballade ‘Zusammen gehn’ als durchaus gewachsen. Einziges Problem: ähnlich wie sein Eurovisionskonkurrent Ralph Siegel hat auch der Tötensener Komponist im Prinzip nur zwei Lieder in seinem Repertoire, die er stets leicht variiert. Und so klang halt auch dieser Song wie schon tausend Mal gehört. Heraus kam mit dem zehnten Platz ein immer noch respektables Ergebnis. Allerdings nicht für den zum Gottkomplex neigenden Songschöpfer, der daraufhin vom ESC erst mal genug hatte. Heuer war der ORF also wieder auf sich gestellt.
Ja, Sie hören richtig: Bohlen verwurstet die Nummer später für seine DSDS-Hymne ‘I have a Dream’.
Da sich die Zahl der einigermaßen professionellen heimischen Sänger:innen, die Interesse hatten, sich mit einem Grand-Prix-Auftritt die Karriere zu versauen, wie auch im Nachbarland in sehr übersichtlichen Grenzen hielt, fiel den Verantwortlichen am Küniglberg ein Stein vom Herzen, dass sich Wegas auch für 1993 bereit erklärte, für Österreich zu singen. Zur Auswahl seines Beitrags dachte man sich ein besonders absurdes und unnötig kompliziertes Verfahren aus: den Radiovorentscheid mit TV-Finale. Die Wiener kommissionierten sieben Wettbewerbsbeiträge und stellten sie während des gesamten Februars über im Radio vor. Die Zuhörer:innen konnten Postkarten für ihren Lieblingstitel einschicken, und rund 15.000 folgten der Einladung. Für die Ergebnispräsentation im Fernsehen produzierte der ORF dann für alle Titel Videoclips, was wohl zu den überflüssigsten Geldausgaben zählt, die sich der Sender jemals leistete. Denn es sollte einleuchten, dass außer dem (zu diesem Zeitpunkt bereits längst feststehenden) Siegertitel nicht einer davon jemals nochmal irgendwo laufen würde. Zumal Tony Wegas’ schauspielerische Leistungen in besagten Drei-Minuten-Spielfilmen mit dem Qualitätsurteil “Knallcharge” noch milde umschrieben wären.
https://www.youtube.com/playlist?list=PLBEA619B47BDA1430
Die Playlist mit den Videoclips zu den sieben Vorentscheidungstiteln.
Das zeigte sich ausgerechnet bei den beiden bestplatzierten (und einzigen nennenswerten) Songs am deutlichsten: bei ‘Einfach so’ handelte es sich um einen ganz hübsch latino-flavorisierten, angenehm leichten Sommerschlager, dessen Genuss allerdings durch den Videoclip eine erhebliche Trübung erfuhr. Stolperte Wegas nämlich darin in verkrampfter Körperhaltung in Endlosschleife durch eine animierte Videospiel-Kulissenlandschaft wie Donkey Kong mit einem Buttplug. Im Film zum siegreichen ‘Maria Magdalena’, auf das fast die Hälfte aller Einsendungen entfielen, präsentierte er sich als vertrottelt-aufdringlicher Lustmolch, der im Theaterfundus Schauspielerinnen weit außerhalb seiner Liga nachstellt. Dabei zählt gerade dieser Schlager zu den besten Pop-Erzeugnissen, die in der Alpenrepublik jemals das Licht der Welt erblickten. Kein Wunder: die Komponistenlegende Christian Kolonovits (1972 selbst als Teil der Milestones auf der ESC-Bühne) schuf hierfür eine knackige, absolut zwingende Hookline; der Kreativ-Kopf der Ersten Allgemeinen Verunsicherung, Thomas Spitzer, steuerte den fabelhaften Text bei, in dem die titelgebende ‘Maria Magdalena’ nicht für die biblische Jungfrauenfigur steht, sondern für eine gefährlich Femme fatale aus Fleisch und Blut.
https://youtu.be/rnoBV4wGDfY
Wenn er nicht gerade Frauen unter den Rock glotzt, kann Wegas auch ganz charmant dreinblicken.
Wobei Textzeilen wie “Himmel oder Hölle, wo du herkommst, ist mir gleich” natürlich mit der religiösen Konnotation des Titels spielen, was die Erzählung über die überwältigende Macht des Frischverliebtseins und der totalen Hingabe um so prickelnder macht. Spitzer zeichnet seine Protagonistin aber eben nicht als reine Heilige, sondern als vielschichtige Figur (“Beides in dir, Gut und Böse, machst mich arm und reich”). Mit den nach meinem Empfinden gar nicht hoch genug zu lobenden Versen “Nur wer leidet, ist am Leben, wer nichts fühlt ist tot” sowie “Schmerzen nehmen, Liebe geben, das ist mein Gebot” wird es gar philosophisch. Im irischen Millstreet begleitete ein fünfköpfiger Männerchor (mit u.a. Gary Lux) unseren Tony, und das hervorragende Wechselspiel zwischen ein- und mehrstimmig gesungenen Partien verlieh dem Song eine geradezu exquisite Dramatik und Tiefe, auch wenn die Live-Präsentation deutlich unter der miserablen Kameraführung und Soundabmischung des gastgebenden irischen Fernsehens litt. Dass die europäischen Juror:innen dieses hervorragende Werk mit einem demütigenden 14. Rang missachteten, lässt mich dennoch vor Zorn erbeben. Zu Hause reichte es ebenfalls nur für einen unbefriedigenden Platz 26 in den Charts.
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht: das Tempo des Songs führt die sechs Ösi-Buben live schon bis an ihre Grenzen.
In den folgenden zwei Jahren veröffentlichte Wegas mit mittlerem Erfolg noch zwei Alben und litt dabei darunter, auf die Schlagerschiene festgelegt zu sein. Dann nahmen die durch seinen Drogenkonsum verursachten Probleme überhand. Ab 1997 saß er wegen Kokainbesitzes und Beschaffungskriminalität eine dreißigmonatige Haftstrafe ab. “Ich habe alles verloren, was es zu verlieren gibt: den Ruf, die Kohle, die Freunde,” beschrieb Wegas 2018 in einem ORF-Interview diese Zeit, die er auch in seiner 1999 erschienenen Autobiografie ‘Nüchtern betrachtet’ verarbeitete. Er beklagte sich, dass ihm die längst verbüßte Tat auch heute noch vorgeworfen werde: “In Amerika kann ein Charlie Sheen alles machen – wenn du eine gute Leistung ablieferst, bist du nachher wieder da. Zum Beispiel auch Johnny Depp: Der hat nicht mehr stehen können, aber seine Filme sind gut. Und wenn du gut bist, wirst du wieder gebucht”. Gebucht wird der als Anton Sarközi geborene Wegas, der seit 1993 deutlich an Statur zulegte, mittlerweile für Gastauftritte in TV-Serien oder am Theater.
Vorentscheid AT 1993
Ein Lied für Millstreet. Dienstag, 30. März 1993, aus den ORF Studios in Wien. Ein Teilnehmer (Songwahl). Moderation: Andreas Steppan, Michael Niavarani. Postkartenentscheid.# | Interpret | Songtitel | Postkarten | Platz |
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01 | Tony Wegas | Einfach so | n.b. | 02 |
02 | Tony Wegas | Nie wieder | n.b. | 04 |
03 | Tony Wegas | Maria Magdalena | 6.170 | 01 |
04 | Tony Wegas | Mitten in der Nacht | n.b. | 03 |
05 | Tony Wegas | Es wird alles gut | n.b. | 06 |
06 | Tony Wegas | La Luna | n.b. | 05 |
07 | Tony Wegas | Tief in mir | n.b. | 07 |
Zuletzt aktualisiert: 12.10.2021
Die österreichische Band von 1972 waren die Milestones mit Kolonovits, nicht die Schmetterlinge (auch wenn das Lied über einen Schmetterling war). Die waren erst 1977 dran, mit Kolonovits als Dirigent, wie auch bei Tony Wegas 1993 der Fall.
Absolut. Danke für den Hinweis, ist korrigiert!